Tagungsbericht: Online-Workshop "Der Raum und seine Held*innen. Überlegungen zu Held*innenfiguren im Geflecht des Raums" am 25. November 2022
Begrüßung
Am 25. November 2022 fand der Online-Workshop „Der Raum und seine Held*innen“ unter der Leitung von Florian Nieser im Rahmen des Gastforschungsprojektes „Involvierte Rezeption und die Rolle von intermedialen (Spiel-)Figuren als Herausforderung der Heldenforschung“ am SFB 948 der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg statt. Er war der Nachfolger des Workshops „Involvierende Rezeption“ und die letzte Veranstaltung innerhalb dieses Projekts. Der Workshop beschäftigte sich mit den spezifischen und medial übergreifenden Darstellungen von Held*innenfiguren im Geflecht des Raums und zielte darauf ab, gegenseitige Wechselwirkungen ausfindig zu machen. Die Komplexität des Themas zeigte sich in der großen Bandbreite der beteiligten Disziplinen und Herangehensweisen, die ein vielseitiges Tableau von Held*innen-Konstruktionen und Raumauffassungen boten.
Christina Antenhofer: Raumnarrative und Personenkonstruktionen in pragmatischen Quellen des Spätmittelalters
Christina Antenhofer, Professorin für Geschichte an der Paris-Lodron-Universität Salzburg, widmete sich in ihrem Vortrag pragmatischen Quellen des Spätmittelalters – insbesondere Inventaren und Testamenten – und untersuchte, inwiefern diese eine narrative Qualität besitzen sowie Personen konstruieren. Sie verwies zu Beginn auf die Brautschatzinventare der Bianca Maria Sforza und Paula Gonzaga und konstatierte in diesem Zusammenhang, dass die Art der Zusammenstellung dieser Inventare gleichermaßen Lebens- und Rollenentwürfe sowie Erwartungshaltungen an die Protagonistinnen widerspiegeln würde.
Im zweiten Teil ihres Vortrags bezog sich Antenhofer v. a. auf Alfred Gells Konzept der distributed personhood, nach welchem Beziehungen zwischen Menschen und Dingen über körperliche Schnittstellen verfügten. Dinge oder Teile des Körpers (Haare, DNA oder auch Körperteile als Form von Reliquien) könnten so im Raum verteilt werden und diesen mitkonstituieren. So führten auch Bilder als Duplikate des eigenen Körpers im Raum dazu, die abgebildeten Personen präsent zu halten. Dass diese Anordnungen von Gegenständen bzw. Körperteilen nicht zufällig seien, ließe sich aus bestimmten Testamenten schließen, in denen deren Aufbewahrung in ihrer räumlichen Konstellation genau festgelegt worden sei. Gerade im Kontext von Testamenten und der memoria könnten demnach Dinge von Personen in sakralen Räumen eine räumliche Präsenz der Verstorbenen erzeugen und die Erinnerung an sie wachhalten. Solche Dinge seien zudem während der Messe eingesetzt worden, wodurch sich die Gebetsräume als Raum der kirchlichen Gemeinschaft und Räume der memoria performativ überlagerten und eine Verbindung zwischen Lebenden und Verstorbenen herstellten.
Phillip Brandes: Kohärenz und Räume. Zu sinnunterlaufenden Raummodellen in Literatur und digitalem Spiel
Phillip Brandes, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Germanistischen Mediävistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, stellte sich in seinem Vortrag der Frage, inwiefern Räume konstitutiv für das Verständnis von erzählten Welten seien und wie sich sinnunterlaufende Raumkonstruktionen dazu verhalten. Dabei setzte er auf die wechselseitige Beziehung von (mittelalterlicher) Literatur und digitalen Spielen. Als Beispiele wählte Brandes den mittelhochdeutschen Artusroman Diu Crône von Heinrich von dem Türlîn sowie das Spiel Death Stranding des Entwicklerstudios Kojima Productions. Brandes untersuchte zunächst die Raumkonzeption in der Crône und konstatierte dahingehend, dass diese in den ausgewählten Szenen – den sogenannten Wunderketten - die Imagination der Rezipierenden herausfordere, ja, dass letztlich der Versuch einer (Re-)Konstruktion der Raumlogik an der Unterdeterminiertheit des Raums scheitere. Der Held Gawein sei ebenso unwissend in Bezug auf Zweck und Sinn der Räume wie die Rezipierenden. Ein solcher perspektivischer Kurzschluss könne, so Brandes, zu verstärkter Immersion führen.
Im zweiten Beispiel, Death Stranding, fokussierte sich Brandes ebenfalls auf die Informationsvergabe zur Konzeption der Räume. Diese sei hier eine analeptische, das heißt, die Figuren im Spiel wüssten mehr als die Rezipierenden, was dazu führe, dass sich letztere aufgrund des unterschiedlichen Wissensniveaus die Raumkonzeption selten kausallogisch erschließen könnten. Da jedoch in einem audio-visuellen Medium die Raumdarstellung sinnlich eindrücklicher sei als in der Literatur, werde die Inkohärenz der Räume durch narrative Elemente der Unterdetermination und des paradigmatischen Erzählens hervorgerufen. Als sprichwörtliche Brücke könne der Held/Avatar Sam Porter Bridges fungieren, der in allen Räumen innerhalb der Spielwelt eine individuelle agency besitze und zwischen kohärenzunterlaufenden und identifikationsstiftenden Elementen vermittle.
Peter Färberböck: Magically heroic. Die trennende Wirkung von Magie in „Gut“ und „Böse“
Peter Färberböck, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Germanistik an der Paris-Lodron-Universität Salzburg, untersuchte in seinem Vortrag die metaphorische Trennung des Spielraums in digitalen Spielen, die durch den Einsatz von Magie hervorgerufen werden könne. Magie werde in Spielen dabei oftmals (moralisch) bewertet. Magie stehe zudem oft in einem Spannungsverhältnis zu einer wie auch immer gearteten Religion innerhalb der Spielwelt. Die Religion bzw. deren institutionalisierte Form symbolisiere häufig das Normale bzw. ‚Gute‘, wobei die Magie als das Undurchschaubare und dadurch tendenziell Gefährliche gelte.
Um das zu verdeutlichen, zog Färberböck die Spiele A Plague Tale: Innocence (APT: I) und Elden Ring heran. In APT: I sei die katholisch inspirierte Kirche die zentrale Institution der Religion. Ihr normierender Einfluss werde aber durch die Inquisition, die sich v. a. auf eine Form der magischen Alchemie stütze, untergraben. Dadurch werde die Magie negativ konnotiert und dem ‚Bösen‘ zugeordnet. In Elden Ring stünden sich ebenfalls Magie und Religion gegenüber, wobei man dort die Religion bzw. das Göttliche als Teil des Magischen ansehen könne. Magie ermögliche eine gottgleich herrschende Kraft, die fähig sei, die sogenannte „Goldene Ordnung“ – die Regeln und Gesetze der Spielwelt – zu beeinflussen. Magie werde dadurch zur übernatürlichen Hilfe für die Held*innen in der Spielwelt und wirke so als Katalysator für eine erfolgreich absolvierte Held*innenreise. Ihr Bezug zur Religion und ihre Bewertung bleibe sowohl in der Spielwelt als auch bei den Rezipierenden trotz allem ambivalent.
Florian Nieser und Antonia Imbeck: Raumkonzeptionen und ihre Wechselwirkungen mit Held*innenfiguren in Computerspielen und mittelalterlicher Literatur
Florian Nieser, Gastforscher im Projekt „Involvierte Rezeption und die Rolle von intermedialen (Spiel‑)figuren als Herausforderung der Heldenforschung“ am SFB 948 der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, und Antonia Imbeck, wissenschaftliche Hilfskraft im selben Projekt, untersuchten in ihrem Vortrag die Wechselwirkung von Raumkonzeptionen und Held*innenfiguren in mittelalterlicher Literatur und digitalem Spiel. Sie argumentierten, dass Räume in mittelalterlicher Literatur nicht immer abhängig von den Held*innen bzw. ihren Bewegungen seien, sondern dass Räume durchaus einen maßgeblichen Einfluss auf die agency der Figuren nähmen.
Mit Bezug auf die Debatte über die Abbildung der Kathedrale Manchester im Spiel Resistance: Fall of Man postulierten sie, dass es intermedial stabile Bedeutungs- und Funktionskerne von Räumen gebe, die sozio-kulturell spezifisch seien und sich auf die agency von (Spiel-)Figuren auswirken könnten. Diese Einflussmöglichkeit von Räumen ließe sich mit dem Konzept der evocative spaces von Henry Jenkins fassen. Diese lösten Assoziationen aus, die auf prä-existenten Skripts basierten, welche wiederum erwartbares Vorwissen der Rezipierenden in Bezug auf Raumkonzeptionen und Held*innenfiguren aktivierten. Es ließen sich verschiedene Wirkungsformen von Raumskripten ausmachen: einerseits den direkten Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten der Figur, andererseits eine Sanktionierung der Übertretung von impliziten, im Skript verankerten Regeln. Sie stellten fest, dass sich die Funktionsweise und Wirkung von Raumskripten auf drei Ebenen nachweisen ließen: als Raum kultureller Reflexion, als narrativer und figurenkonzeptioneller Rahmen bzw. Aushandlungsort sowie als erzählender Raum.
Anne Hemkendreis: Ästhetiken der Endlichkeit. Klimaaktivismus und Polarkunst
Anne Hemkendreis, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt S4 am SFB 948 der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, stellte in ihrem Vortrag die künstlerische Performance THAW von Legs on the Wall vor. Bei dieser handelte es sich um einen Eisblock, der an vier Seilen an einem Kran befestigt wurde und hoch über der Wasseroberfläche im Hafen von Sydney schwebte. In der Premiere der Performance im November 2021 balancierten drei Tänzerinnen über mehrere Stunden hinweg auf dem Eisblock bzw. interagierten mit diesem. THAW zeige – so Hemkendreis – den jeweils individuellen Kampf dieser drei Tänzerinnen gegen einen unsichtbaren Gegner auf dem glitschigen Eisblock, der stetig dahinschmelze. So werde dem Publikum die Auswirkungen des Klimawandels durch die stets vorhandene Gefahr für die Künstlerinnen verdeutlicht.
In Rekurs auf Lisa Bloom führte Hemkendreis aus, dass der Fokus dieser Performance darauf liege, dem Eis seine Lebendigkeit zurückzugeben und die Unkontrollierbarkeit von Umweltphänomenen zu verdeutlichen – im Gegensatz zu den Polarhelden des 19. Jahrhunderts, die Eis im Rahmen eines national getriebenen Kolonisationswunsches als „testing grounds for heroes“ angesehen hätten. Der Umgang der Tänzerinnen mit dem Eis zeige, wie abhängig die Menschen von ihrer Umwelt seien, aber auch, wie individuell der Umgang mit Eis aufgrund seiner sinnlicher Affizierungskraft und Wandelbarkeit sein könne. Letzteres sei als explizite Strategie von klimaaktivistischer Kunst zu werten, die die allgemeinen Gefahren des Klimawandels auf den Einzelkampf reduziere, zugleich aber auch die Protagonistinnen selbst heroisiere. Dieses Held*innenbild sei kein traditionelles mehr, sondern eines, das sprichwörtlich in der Schwebe gehalten werde und das abhängig von dem eigenwilligen Eis sei, was sich als gleichwertige bzw. überlegener Partner während der Performance erweise.
Abschlussdiskussion
In der Abschlussdiskussion stand im Zentrum, auf welche Elemente man die Definition von Held*innenfiguren im Zusammenhang mit Räumen eingrenzen könne. Es stellten sich folgende Gemeinsamkeiten heraus: Held*innen besäßen erstens eine spezifische Wirkmacht/agency, die es ihnen ermögliche, in Räumen und entgegen bestimmter Raumkonzeptionen zu handeln oder in ihnen präsent zu sein. Zweitens stünden Räume und Orte fast immer in enger Wechselwirkung zu den Held*innen, die in ihnen agieren, sie könnten von ihnen z. B. mit Bedeutung oder Sinn aufgeladen werden. Umgekehrt können Räume die Handlungsoptionen sonst wirkmächtiger Figuren stark beeinträchtigen und sogar als Antagonisten fungieren. Drittens entstehe der Status von Held*innen dynamisch durch Zuschreibungen von außen, die von Raumskripten beeinflusst werden. Nicht endgültig geklärt blieb in der Diskussion z. B. die Frage, ob die Heroisierung einer Figur immer auch eine Fiktionalisierung bedeute, oder wann und wo die Wirkmacht/agency eine*r Held*in im Raum ende oder dessen Grenzen sprenge. Zum Schluss verwies Florian Nieser auf das e-Journal des SFB 948, in dem Mitte des Jahres 2023 ausgewählte Beiträge beider Workshops veröffentlicht werden sollen.