Workshopbericht: „Playing Across the Board – Transmediale, intermediale und materielle Dimensionen des Brettspiels“ von 13.-14. September 2024 (Köln/Siegen)

19. Oktober 2024

Vom 13.-14. September 2024 fand in den Räumlichkeiten der a.r.t.e.s. Graduate School an der Universität zu Köln der Workshop "Playing Across the Board“ zu den transmedialen, intermedialen und materiellen Dimensionen des Brettspiels statt – organisiert von Peter Podrez und Hanns Christian Schmidt; finanziell unterstützt durch den Verein „Spiel des Jahres“.

Freitag, 13.09.2024

Peter Podrez & Hanns Christian Schmidt: Einführung

Eingeleitet wurde der Workshop von einem gemeinsamen Vortrag der Organisatoren, in dem sie die Anwesenden auf eine tour de force durch die Materialitäts-, Inter- und Transmedialitätsforschung mitnahmen und so das Fundament für die beiden Workshop-Tage legten. Passenderweise endete die Einführung mit einem Katalog von Fragen, welche wegweisend für die kommenden Vorträge und Diskussionen sein sollten, u.a.: Wie reden wir über Brettspiele? Welche Analysemethoden sind angemessen? Was für Fachvokabular benötigen wir? Welche Rollen spielen verschiedene Spieler:innentypen? Wie können wir Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Medien erfassen?

Claudius Clüver:  Die Spielform als analytische Strategie der Spieleforschung und des Game Design

Claudius Clüver machte auf die Schwierigkeit aufmerksam, abstrakt anstelle von inhaltlich über Brettspiele zu sprechen, und schlug den Begriff der „Spielformen“ als möglichen Weg der Annäherung an diese Facette von Brettspielen vor. Damit etwas als Spielform identifiziert werden könne, müsse a) Wiederkennbarkeit gewährleistet sein (Jede:r erkenne z.B. einen Würfel oder eine Spielkarte als solche(n).), müsse es b) auf den Spielkontext bezogen sein, da es in Spielen auch Formen gäbe, die keine Spielformen seien, und c) müsse die Form Ebenen-neutral sein. Den zu antizipierenden Formalismus-Vorwurf wies Clüver zurück und schlug vor, neben Spielformen auch erzählerische Formen, visuelle Formen, auditive Formen und genuin digitale Formen zu untersuchen. Teile des Vortrags wurden bereits in Clüvers Aufsatz „Würfel, Karten und Bretter. Materielle Elemente von Spielen und der Begriff der Spielform“ (2020) publiziert bzw. werden Teil seiner Dissertation „Das Spiel in der Schachtel“ sein.

Lukas Boch: Der Name der Rose als transmediales Phänomen in modernen Mittelalterbrettspielen mit Klostersetting – ‚Das Geheimnis der Abtei‘ als Palimpsest

Lukas Boch stellte in seinem Vortrag das Spiel Geheimnis der Abtei (2007) vor und lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf eine Reihe von Kuriosa und Spielmechaniken. So erläuterte er beispielsweise, dass die Anwesenheit von Templern im Spielsetting zwar aus geschichtswissenschaftlicher Sicht unsinnig sei, der Templerorden aber als einer der populären Mittelalter-Marker schlechthin gelten könne – insbesondere auf dem französischen Markt – und somit vom Spiel genutzt werde, um ein Gefühl von Authentizität zu erzeugen. Was solche Spiele aus geschichtsdidaktischer Sicht leisten könnten, sei, eine über das Spiel hinausgehende Auseinandersetzung mit seiner Thematik anzuregen, was Boch inspiriert von der Dingforschung als „kognitive Affordanz“ bezeichnete. Auch beschrieb er das Spiel unter Verweis auf Umberto Ecos als „Palimpsest“, das die Vorlage noch einmal neu aufbereite und dabei den Fokus auf die immersive Erfahrung lege, wobei ebenso Wissenschaft als auch Popkultur Pate gestanden hätten.

Andreas Rauscher: A long time ago on a board game far, far away… - Film-Adaptationen und ludonarrative Konzepte im Brettspiel

Andreas Rauscher stieg mit der Beobachtung ein, dass schlechte Filmadaptationen kein Monopol des digitalen Spiels seien. Frühe Lizenzbrettspiele seien ähnlich schrecklich ausgefallen – umso bemerkenswerte sei es, dass man heute auf viele Positivbeispiele aus beiden Medien verweisen könne. Besonders hob er Spiele hervor, die mehrere (auch mechanisch distinkte) Spielphasen haben, welche mit der Dramaturgie der Filmvorlage korrespondieren, und das vorausgesetzte Genre-Wissen der Spieler:innen nutzen, um ihre Spielmechaniken zu kommunizieren. Letztes fasste Rauscher mit dem Schlagwort „Mise-en-Game“ (vgl. Mise-en-Scene). Die Ludologen hätten sich in ihrer Argumentation aus gutem Grund auf Classic Games (wie z.B. Schach) bezogen und narrativ komplexe Beispiele ausgeblendet. Diese könne man aktuell aufgrund ihrer hohen Verbreitung kaum noch als „borderline cases“ bezeichnen, wie es Jesper Juul in „Half Real“ (2011) tat.

Veronika Kocher: Das Brettspiel als Apparat

Veronika Kocher vertrat auf der Veranstaltung die archivarische Seite der Brettspielforschung und gab Einblick in die Geschichte der Eco Games, welche sie von Environmental Games abgrenzte, da Eco Games direkter mit Umweltschutz zu tun haben. Sie konnte verschiedene historische Ereignisse mit Publikationsrekorden im Brettspielbereich in Verbindung bringen – konkret verglich sie Europa in Gefahr! mit Naturschutzjahr 1970, die beide anlässlich des Naturschutzjahres 1970 publiziert wurden, sowie Klima-Poker mit Kyoto, welche auf das Kyoto-Protokoll Bezug nehmen. Analysekategorien waren Spielstruktur, Interaktion der Spieler:innen, Spielmechaniken und Spielkontext. Europas Natur 1970 und Kyoto gingen als ‚Sieger‘ aus Kochers Vergleichen hervor, da sie der Komplexität des Themas eher gerecht werden.

Paul Booth (Keynote, online): “I know who did it!” The interactive Potentiality of the Transmedia Game Experience

Paul Booth, u.a. Autor von “Board Games as Media” (2021), begann seine Keynote mit einer persönlichen Anekdote über die Mail Order Experiences der „Mysterious Packages Company“. Die Firma versendet in einer Reihe von Paketen/Briefen Schriftstücke und Objekte, welche sich nach und nach zu einer Geschichte zusammensetzen, die man sich selbst zusammenreimen muss. Jemand hatte ihm eine solche „Experience“ geschenkt, ohne ihn darüber zu informieren, was besonderen Eindruck bei Booth hinterließ, da nicht sofort ersichtlich war, worum es sich handelte. Booth nahm dies zum Anlass über den Spiel-Status der ‚Experience‘ zu sprechen – er ging auf ihre enge Verwandtschaft zu Escape Games und insbesondere den Aspekt der Durchdringung des Alltags durch die Game Experience ein. Ihre besondere Wirkmächtigkeit führte Booth auf Demediation zurück – durch die frappierende Materialität der Experience (handgeschriebene Briefe, Zeitungsausschnitte etc.) verunsichtbare sich die mediale Vermitteltheit. Insbesondere in einem politischen Klima der Ungewissheit/Unsicherheit (uncertainty) könne es positive Effekte auf die Psyche haben, wenn Teile des Alltags ‚gamelike‘ seien, denn ‚gamelike‘ bedeute potenziell kontrollierbar, was dem gefühlten Kontrollverlust entgegenwirke.

Samstag, 14.09.2024

Maren Kraemer: „There´s Method in his Madness!“ Wahnsinn in Brettspielen

Der zweite Workshop-Tag begann mit Maren Kraemers Vortrag „There´s Method in his Madness!“, in dem es um die spielerische Umsetzung von „Wahnsinn“ 1 in analogen Spielen ging. Anhand von Lovecraft Letter (2017) und Villen des Wahnsinns (2019) illustrierte sie, wie der Wahnsinn in beiden Spielen die zu Beginn etablierten Spielregeln ändert. Im Kartenspiel Lovecraft Letter wird dies über einen irreversiblen Zustand „Wahnsinn“ erreicht, der alternative Kartentexte und damit auch -wirkungen aktiviert, von Spieler:innen strategisch genutzt werden können. Der komplexere Dungeon Crawler Villen des Wahnsinns hingegen verwandelt durch verdeckte Siegbedingungen für wahnsinnig Gewordene das eigentlich kooperative in ein potenziell kompetitives Spiel, bei dem es gilt, mehr oder weniger subtile „Symptome“ bei den Mitspieler:innen zu erkennen. So stand am Ende des Vortrags die Erkenntnis, dass der Wahnsinns-Topos sich auf mehreren Ebenen der Spiele wiederfindet und umgesetzt wird – von der Wahl des Themas, die Erzählung durch Texte in Anleitung und auf dem Material, durch die Illustrationen, aber eben auch in der Spielmechanik selbst. Diskutiert wurde u.a., ob das Moment der Unberechenbarkeit des Lovecraftschen Wahnsinns überhaupt in einem regelgeleiteten Spiel abgebildet werden kann.

Jan-Niklas Meier: Vom Gemälde zum Spiel

Jan-Niklas Meier lenkte den transmedialen Blick auf das strategische Aufbauspiel Scythe, einen Hybrid aus Eurogame und American Style Game, das auf einem Bilderzyklus des polnischen Künstlers Jakub Różalski beruht. Dies ist v.a. deswegen relevant, weil Artwork meist erst nachträglich einem Spiel hinzugefügt wird. Różalski hat mit seinen (digitalen) Bildern der Serie 1920+ im Stil einer alternate history Vorlagen geschaffen, die für Meier ein narrativ-indizierendes Potential besitzen. Dieses zeigt sich in der Gestaltung der fiktiven Welt, die durch die Nachahmung traditioneller Maltechniken sowie die Wahl der Motive und auch Mytheme Temporalität und Historizität suggeriert. Die in diese Alternativgeschichte eindringende Figur ist der „Mech“ als Symbol der mechanisierten Moderne. In der Kooperation zwischen Różalski und Jamey Stegmaier werde der Spieleautor laut Meier zum Kunstlesenden und der Künstler zum narrativen und strategischen Engine Builder. Scythe bietet so als Untersuchungsgegenstand auf diversen Ebenen Ansätze für interdisziplinären Analyse und Theoriebildung. Ebenfalls zu klären wäre auch, inwieweit Różalskis Bilder von einem problematischen Geschichtsbild zeugen, aber auch, ob die Bilder so etwas wie einen narrativen Kern in sich tragen oder eher atmosphärisch wirken.

Ria Sommer: Maps und Minis

Ria Sommer analysierte in ihrem Vortrag „Maps&Minis“ den Einsatz und die Rolle von materiellen Komponenten im klassischen Pen&Paper-Rollenspiel im Gegensatz, aber auch im Zusammenspiel mit digitalen Formen des Spielegenres, insbesondere mit der Form des „Actual Play“. Obwohl die für das Medium namensgebenden Elemente Stift (pen) und Charakterbogen (paper) inzwischen problemlos digital substituiert werden können, bedienen sich auch und insbesondere Actual Plays wie Critical Roll einer Vielzahl an materiellen Komponenten (z.B. Miniaturen, Requisiten, Beleuchtung), um Stimmung zu erzeugen. Damit verliere aber das verwendete Material, vor allem auch die eigentlich nicht wegzudenkenden Würfel, seine Magie und Immersionskraft. Der „fast magische Moment des Würfelwurfs“, der über das weitere Schicksal des Charakters entscheidet, werde zur Requisite, anstelle des Werfens trete das Zuschauen. Die systematische Erfassung dieses Materials und seiner Materialität lasse Raum für weitere Untersuchung und Analyse, z.B. wie sich der Einsatz von Materialien im TTRPG durch die transmediale Wechselwirkung verändert. Anschlussfragen wären etwa, wie weit eventuelle Rückkopplungsprozesse zwischen Actual Plays und analogen Spielerunden reichen, bzw. ob die intendierte Immersionssteigerung durch den Materialeinsatz tatsächlich nachweisbar ist.

Steffen Bogen: Hasenloch und Hasenfenster

Die zweite Keynote und damit den letzten Vortrag des Workshops übernahm Steffen Bogen. Der Kunsthistoriker und Spieleautor gewährte einen detaillierten Einblick in den Designprozess seines hybriden Brettspiels Schnappt Hubi! (2011, Spiel des Jahres 2012). Den Fokus lenkte er dabei auf die Bedeutung von Zahlen, Dimensionen und das Balancing von Zufall und Kontrolle – von Freiheit und Zwang im Spiel. Die Spieleautor*innen als Spielearchitekt*innen gelangten durch geschicktes Kombinieren und Ausprobieren, aber letztlich nur durch konsequentes Playtesting zu einem Spielergebnis, das eben mehr als einmal zum Spielen einlädt. Bogen zeigte, dass der Wiederspielreiz eines Brettspiels stark von der richtigen Zahl und Anzahl abhängt: der passenden Anzahl von Spielfeldern, von Spielzügen, von Aktionen, von Erfolgserlebnissen und Rückschlägen, sowie die richtige Balance zwischen zufallsgeneriertem Müssen und freiem Agieren auf dem Feld. Schnappt Hubi! stellt durch die Variation einer erstaunlich kleinen Anzahl prägenerierter Maps sicher, dass kein Spielverlauf dem anderen gleicht und unvorhersehbar bleibt. Der Autor schloss mit einem Plädoyer für die immense Bedeutung von Zahlen und Zählweisen, von Wiederholfrequenzen und Rhythmen, die letztlich die innere Dramaturgie des analogen, aber auch digitalen Spiels bilden.

Peter Podrez & Hanns Christian Schmidt: Fazit und Ausblick

Zuletzt bedanken sich die Organisatoren bei den Vortragenden, allen Helfenden und den Gästen des Workshops. Die interdisziplinäre Zusammensetzung mache deutlich, dass das Medium Spiel – analog, hybrid und digital – unzählige Anknüpfungspunkte für die Forschung biete und viele Überschneidungen und wiederkehrende Begrifflichkeiten bestünden, die es weiter zu untersuchen gelte. Diese Art von interdisziplinären Gesprächen trage zur weiteren Vernetzung von Spieleforschenden bei und es stelle sich die Frage, wie Spielegeschichte im wissenschaftlichen Kontext weitergeschrieben werden sollte. So konnten im Rahmen der Tagung einige Fragen beantwortet werden, doch es kamen auch neue auf, welche die Veranstalter am Schluss noch einmal zusammenfassten, z.B.: Sprechen wir weiter von Game Studies oder wenden wir uns einer breiter gefassten Spieleforschung zu? Welche theoretischen Modelle aus welcher Disziplin können das Medium fassen und beschreiben? Welche neuen Theorien lassen sich am Spiel entwickeln?

Eine Publikation der Beiträge ist geplant.

 

Bildquelle: Während des Workshops ausgestellte Brettspiele, fotografiert von Franziska Ascher

 

  1. Wahnsinn wird in diesem Bericht nicht im Sinne einer realweltlichen psychischen Erkrankung verwendet, sondern im Sinne des v.a. für cthulhuesken Horror prägenden Wahnsinns-Topos.[]

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Ascher, FranziskaKuschill, Stefanie: "Workshopbericht: „Playing Across the Board – Transmediale, intermediale und materielle Dimensionen des Brettspiels“ von 13.-14. September 2024 (Köln/Siegen)". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 19.10.2024, https://paidia.de/tagungsbericht-playing-across-the-board/. [04.11.2024 - 12:25]

Autor*innen:

Franziska Ascher

Dr. Franziska Ascher ist Akademische Rätin für Ältere Deutsche Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal und Mitherausgeberin von PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. Von 2008 – 2014 studierte sie Sprache und Literatur des Mittelalters, Neuere Deutsche Literatur sowie Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte 2020 in der Germanistischen Mediävistik bei Prof. Dr. Michael Waltenberger zum Thema „Erzählen im Imperativ – Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen“. Von 2021 – 2024 hatte sie einen Post-Doc-Stelle an der Universität Innsbruck inne, wo sie die Forschungsgruppe „Game Studies“ mitbegründete und -leitete. Dissertation: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5811-8/erzaehlen-im-imperativ/?c=310000018&number=978-3-8394-5811-2

Stefanie Kuschill

Stefanie D. Kuschill, M.A. studierte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Germanistik sowie Theater- und Medienwissenschaft und vollendete ihren Magister an der Georg-August-Universität Göttingen in den Fächern Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Germanistik und Vergleichende Religionswissenschaft. Seit 2010 ist sie bei der Stadt Nürnberg mit der Sammlung des Deutschen Spielearchivs betraut und ist Teil des Projektteams des Spiel- und Kulturorts „Haus des Spiels“. (https://museen.nuernberg.de/spielearchiv/) Als Kulturwissenschaftlerin und freie Theatermacherin beschäftigt sie sich mit einem breiten Spielbegriff vom freien Spiel über Theater bis hin zum regelbasierten Spiel. Neben der klassischen archivarischen Tätigkeit und dem kontinuierlichen Aufbau der kulturhistorischen Sammlung stehen für sie die wissenschaftlichen Kooperationen, die Förderung der analogen Spielforschung sowie die Beschäftigung mit aktuellen gesellschaftlichen Diskursen und deren Niederschlag im Gesellschaftsspiel im Vordergrund. Im Rahmen des Kooperationsprojekts „Empamos“ mit der TH Nürnberg beschäftigt sie sich zudem mit der Übertragung von motivierenden Spielelementen in spielfremde Kontexte. (https://empamos.in.th-nuernberg.de/)