Tagungsbericht: "Ludische Textualität – Spiele als Gegenstand der Germanistik." Germanistiktag in Verbindung mit der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik (SAGG) am 22. November 2024 an der Universität Fribourg

3. Dezember 2024

Der Germanistiktag fand im Rahmen der internationalen Fachtagung "Brettspiele im Mittelalter. Das Mittelalter im Brettspiel – Poetik, Rezeption, Praxis" (21.–23. November 2024, Universität Freiburg; organisiert von Inci Bozkaya, Robert Schöller und Cyril Senn) statt. Der Tagungsbericht von Franziska Ascher findet sich ebenfalls auf Paidia.

Begrüßung und Einleitung

Die Teilnehmer:innen des Germanistiktags werden von Noah Bubenhofer im Namen der SAGG, Regula Schmidlin für die Philosophische Fakultät und Cornelia Herberichs seitens des Departements für Germanistik herzlich begrüßt. Inci Bozkaya stellt den organisatorischen Rahmen der Tagung vor und spricht ihren Dank an die finanziellen Förder:innen sowie die engagierten studentischen Mitarbeiter:innen aus.

Robert Schöller eröffnet im Rückgriff auf Johan Huizinga und dessen Überlegungen zur Bedeutung des Spiels für die Kultur(wissenschaft). Während Huizinga seinerseits nach dem Ursprung des Spiels fragte, stehen heute die sprachlichen und materiellen Erscheinungsformen im Fokus. Dabei wird das Spiel nicht als harmloser oder unschuldiger Zeitvertreib verstanden, sondern als schöpferischer und konstruktiver Akt der Kommunikation. Ludische und literarische Textualität verschränken sich im Modus des 'Als-ob' und arbeiten gleichermaßen mit Illusion. Analoge wie digitale Spiele leben von ihren konstituierenden Elementen, schaffen Räume für interkulturellen Austausch und operieren transmedial. Diese Vielschichtigkeit erfordert eine transdisziplinäre Perspektive. Es stellt sich folglich die Frage nach der Operationalisierbarkeit germanistischer Termini für die Spiele bzw. ludischer Termini für die Germanistik.

Jan-Noël Thon: Erzählen im Computerspiel. Theorie und Analyse

In seinem Vortrag gibt Jan-Noël Thon einen allgemeinen Überblick zum Erzählen im Computerspiel und beleuchtet dieses anhand von fünf zentralen Dimensionen: (1) Narrative Darstellungen: Durch eine graduelle Konzeptualisierung von Narrativität lassen sich Computerspiele in klar narrative und klar nicht narrative, aber etwa auch in lediglich narrativ gerahmte Spiele unterscheiden. (2) Narrative Spatialität: Die Formen des embedded, environmental und indexical storytelling können bei wiederholten Spieldurchläufen zu instabilen Anordnungen von Spielräumen führen. (3) Narrative Temporalität: Mit Prolepsen und Analepsen entstehen komplexe diegetische Ebenen, welche die Zeitlichkeit innerhalb der Spiele prägen. (4) Narrative Instabilität: Die narrative Struktur eines Spiels steht oft im Spannungsfeld zur dramatischen agency der Spieler:innen. Dies führt dazu, dass spieldurchgangsbasierte Narrativität mit persistenten Veränderungen der Spielwelten einhergeht. (5) Narrative Nonlinearität: Entscheidungen und Weggabelungen im Spiel ermöglichen narrative agency, bleiben aber gleichzeitig durch die Struktur und Anordnung der virtuellen Storyworlds gelenkt. In der anschließenden Diskussion werden Fragen zur Kanonizität von Computerspielen, zum Verhältnis zwischen analogen und digitalen Spielen sowie zu den Grenzen narrativer agency thematisiert.

Hiloko Kato: Linguistische Zugänge zum digitalen Spiel – mit Fokus auf Interaktion und Agency

In ihrem Vortrag weist Hiloko Kato zunächst auf verschiedene Forschungsprojekte mit linguistischem Fokus an der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste hin. Anschließend gibt sie einen kurzen Einblick in die Geschichte des Computerspiels in der Schweiz sowie einen Überblick zu aktuellen Forschungstrends. Ein neuer Schwerpunkt liegt dabei auf der Spectatorship-Analyse, die durch das populäre Format der Let’s Plays zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dabei ist es wichtig, zwischen der Analyse von Spielenden und Nicht-Spielenden zu unterschieden. Die hier gezeigten Ansätze zeichnen sich auch in aktuellen Seminararbeiten von Studierenden ab, von denen einige exemplarisch vorgestellt werden. Eine zentrale Forschungsperspektive ist das Verhältnis von Aktivität und agency. Im Zuge der Konversationsanalyse liegt ein besonderer Fokus auf Kommunikationsprozessen, die sich etwa in Streams von The Last Guardian (2016) beobachten lassen, wobei Reaktionen auf und Imitationen von Tieren analysiert werden. In der VR-Umgebung von Spacecraft – A New Way Home (2021) wird deutlich, wie Spieler:innen ihre agency interaktional über Gegenstände aushandeln. Damit wird agency als technologische, soziale und ludische Praxis lesbar. Die anschließende Diskussion widmet sich Fragen zur Authentizität von Let’s Plays, zur Mensch-Tier-Relation sowie zur effektiven Autonomie bei der charakterorientierten Ausübung von agency.

Franziska Ascher: Ludonarrative Strukturen in Spiel und mittelalterlicher Literatur

Mit ihrem Vortrag verfolgt Franziska Ascher die Berührungspunkte zwischen Game Studies und germanistischer Mediävistik. Die aktuelle Spieleforschung tendiert dazu, zwar neue Gegenstände zu präsentieren, weiterführende Fragestellungen aber bisweilen offenzulassen. Zudem ist eine Fokusverschiebung vom Spiel (game) zu Spielpraktiken (play) zu verzeichnen, was auch für die Analogspielforschung neue Chancen eröffnet. Für die Literaturwissenschaft ist die Beschäftigung mit Spielen u. a. deswegen relevant, da sie den Blick auf die eigenen Gegenstände zu schärfen vermag. Während sich die mediävistische Forschung bisher vor allem auf Setting und Motive konzentrierte, sollten verstärkt Strukturen und Denkfiguren in den Blick genommen werden. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Artusepik, deren handlungsorientierte Protagonist:innen Parallelen zu den Avataren heutiger Computerspiele aufweisen. Der Kampf als Idealtyp von Handlung steht dabei im Zentrum. Ein 'Erzählen im Imperativ' fordert Protagonist:innen wie Avatare gleichermaßen zur Aktivität heraus, um jegliche Form von Ordnungsstörung zu bewältigen. Für die Brettspielforschung ergibt sich folglich die Frage, inwieweit sie an Erkenntnisse der Computerspielforschung anknüpfen kann. Die Diskussion dreht sich um terminologische Fragen, die Dominanz des Kampfes als Handlungsstruktur sowie den zunehmend sichtbaren Aufführungscharakter von Spielen.

Podiumsdiskussion: Verspielte Chancen? Das Potential von Spielen im (hoch)schulischen Unterricht

mit Andrea Reichmuth, Ulrich Schädler und Stefan Schmidlin; moderiert von Inci Bozkaya

Die Diskussion wird von Andrea Reichmuth eröffnet, die sich für einen dezidiert didaktischen Einsatz von Spielen ausspricht. Spielerische Elemente können für Lernprozesse genutzt werden, womit auch die Selbstbestimmungstheorie nach Edward L. Deci und Richard M. Ryan erfüllt ist. Stefan Schmidlin unterscheidet zwischen Spielen als Lerninhalt und als Vermittlungsform von Lerninhalten. Spielstrukturen wirken motivierend und halten Lerninhalte spannend, was im Gesundheitswesen schon sehr verbreitet ist. Ulrich Schädler kritisiert explizit das bisher Gesagte, indem er im Rückgriff auf Johan Huizinga das Spielen um des Spielens willen stark macht. Schüler:innen haben dafür ein ausgeprägtes Sensorium und merken, wenn man ihnen etwa Mathematik als Spiel verkaufen will. Spiele werden allgemein zu oft für didaktische Zwecke missbraucht. Schmidlin teilt diese Kritik; für didaktische Zwecke ist es darum sinnvoll, Lernspiele entsprechend zu deklarieren. Reichmuth betont die Nutzbarkeit von spielerischen Elementen für Gamification im Unterricht. Die Diskussion mit dem Publikum konzentriert sich auf Fragen zur Eigenständigkeit von Spielen als Medium und Praxis, zur Problematik von Gamification als ausgeprägt kapitalistisches Prinzip, schliesslich zur kulturellen Dominanz von Spielen als Chance zur Inklusion.

Mitgliederversammlung, Spielerunde und Lesung

Am späten Nachmittag findet die Mitgliederversammlung der SAGG statt, während parallel dazu die Spielerunde der Fachschaft Germanistik zusammenkommt. Den Abschluss des Germanistiktags bildet eine Abendveranstaltung mit einer Lesung von Tonio Schachinger zu seinem Roman Echtzeitalter (2023).

 

Artikelbild:

Spieletisch am Germanistiktag (eigene Aufnahme; Thomas Müller).

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Müller, Thomas: "Tagungsbericht: "Ludische Textualität – Spiele als Gegenstand der Germanistik." Germanistiktag in Verbindung mit der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik (SAGG) am 22. November 2024 an der Universität Fribourg". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 03.12.2024, https://paidia.de/tagungsbericht-ludische-textualitaet-freiburg/. [04.12.2024 - 08:11]

Autor*innen:

Thomas Müller

Dr. Thomas Müller studierte Germanistik, Komparatistik und Geschichte in Zürich, Basel und Berlin. An der Universität Zürich promovierte er 2023 bei Prof. Dr. Christian Kiening mit einer Arbeit zum Thema „Die Macht der Rede. Mediale Dynamiken im ‚Passional‘“ (https://www.chronos-verlag.ch/node/28663). Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Literatur- und Medientheorie, der germanistischen Mediävistik und der kulturwissenschaftlichen Game Studies.