Tagungsbericht: Brettspiele im Mittelalter – Das Mittelalter im Brettspiel. Poetik, Rezeption, Praxis. 21. und 23. November 2024 (Fribourg)
Am 21. & 23. November 2024 fand an der Universität Fribourg in der Schweiz die Tagung "Brettspiele im Mittelalter – Das Mittelalter im Brettspiel. Poetik, Rezeption, Praxis" statt. Organisiert wurde sie von Inci Bozkaya, Robert Schöller und Cyril Senn, ebenso wie der Schweizer Germanistiktag am 22. November.
Inci Bozkaya, Robert Schöller, Cyril Senn: Begrüßung und Einleitung – Von der würfelnden Erzählung des Mittelalters zum Würfelritter der Gegenwart
Nach den Danksagungen und einigen Informationen zum Ablauf von Inci Bozkaya übernahm es Robert Schöller im Namen aller VeranstalterInnen, thematisch in die Tagung einzuführen, wobei es sowohl um den Spielcharakter von Literatur als auch um erzählende Spiele ging. Als Aufhänger diente das bekannte ‚Parzival‘-Zitat hiest der âventiure wurf gespilt, / und ihr begin ist gezilt (Parzival, V. 112,9f), das Schöller als nicht zuletzt literarische Geburt des Helden Parzival in der Metapher des Würfelspiels deutete.
Schöller bezeichnete die Beschäftigung mit Spielen als „Stiefkind der Germanistischen Mediävistik“, da eine solche erst durch die Öffnung des Fachs hin zur Kulturwissenschaft möglich geworden sei, und zeigte anhand einer Reihe von Beispielen das Potenzial dieses Feldes auf. Dabei ging es sowohl um Themen wie Spielmetaphern, Spielkritik und dem Spiel gewidmete Schriften, als auch um Mittelalterrezeption im Brettspiel, die Schöller vom typischen Dualismus von romantischem und finsterem Mittelalter geprägt sah. Auch wies Schöller auf die alteritäre Medialität des Spiels im Vergleich zu Literatur und deren spezifische Erfordernisse hin. Zuletzt wurden die Vortragenden des ersten Tages vorgestellt und das ‚Parzival‘-Beispiel vom Beginn wieder aufgegriffen; dann übergab Schöller an den ersten Vortragenden.
Donnerstag, 21.11.2024: Sektion 1 – Brettspiele im Mittelalter
Ulrich Schädler: Schach – ein Spiel aus dem Orient, aber nicht nur…
Ulrich Schädler räumte zunächst einige – z. T. mittelalterliche – Ursprungsmythen aus und zeichnete dann nach, wie das Schachspiel gemäß dem aktuellen Forschungsstand durch die Araber, teils über den Zwischenschritt der Waräger aus Persien oder Indien nach Europa kam. Weiter ging es mit den Veränderungen, welche sowohl die Figuren als auch die Spielregeln über die Zeit durchliefen. So markiert etwa die Umdeutung des Wesirs als Dame bzw. der Fußsoldaten als Bauern den Wandel des Schachs von einem dezidierten Kriegsspiel zu einem Gesellschaftsspiel. Auch betonte Schädler, wie sehr sich das mittelalterliche Schach vom Schach der Gegenwart unterschied – mit allen Konsequenzen für die Interpretation, etwa für Schachmetaphern in der mittelalterlichen Literatur, denen der letzte Teil des Vortrags u.a. gewidmet war. Auch Schachprobleme und -allegoresen als Textgattungen wurden thematisiert. Schädler schloss mit der Bemerkung, dass die Geburt des modernen Schachspiels – neben z.B. der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern – durchaus auch als eines der Ereignisse gelten könne, die das Ende des Mittelalters markieren.
Michael A. Conrad: Geschichten erspielen: Zur Ludonarrativität von Brettspielen aus kulturhistorischer Perspektive
Michael Conrad verfolgte in seinem Vortrag die Fragestellung, warum Spielen und Erzählen sich so gut ergänzten, und traf zu diesem Zweck zunächst einige grundlegende Annahmen, wie beispielsweise, dass das Prädikat „ludonarrativ“ nicht unbedingt bedeute, dass Spielen und Erzählen gleichberechtigt vorkämen. Im Folgenden vertiefte er, die durch Schädler und Schöller bereits vorbereitete Analyse des Schachbuchs König Alfonsos X, das er als Versuch deutete, Spiel und Narration durch ähnliche Strukturen zu verbinden. Die Ludeme stärkten die allegorische Rahmenerzählung und die ludischen Zeichen forderten dazu auf, sie mit Leben zu füllen, was Conrad als ludische Hermeneutik bezeichnete. Die Frage, ob Alfonsos Sphärenschach je als physisches Spiel existiert habe, sei unerheblich – wichtig sei seine prinzipielle Spielbarkeit.
Florian Langhanki: Spielkritik im 16. Jahrhundert: Das ›Spieler-Abc und Namenbüchlein‹
Florian Langhaki stellte den frühneuhochdeutschen Druck „Der Spieler ABC und Namenbüchlein“ von 1578/9 vor, in dem der Autor Arorites vor den Gefahren ‚falschen‘ Spielens warnte – wer hingegen spiele, ohne sich selbst oder andere zu schädigen, den beträfe das Buch nicht. Im ersten großen Abschnitt des Werkes führt der Erzähler, der sich selbst als reuiger Sünder bzw. ehemaliger Spieler inszeniert, alle möglichen Sünden auf das Glücksspiel als Ursache zurück. Daran schließt eine pervertierte Version der christlichen Zehn Gebote an, in denen der Teufel denjenigen Profit verspricht, die diesen seinen Geboten folgen. Den letzten Teil bildet eine thematisch passende Liedersammlung. Ein Fazit des Vortrags war, dass man das Werk eigentlich nicht im engeren Sinne als spielkritischen Text bezeichnen könne, da er weniger vor dem Spiel als solchem als vor unerwünschten Neben- oder Folgeeffekten warnte. Auch habe der Text selbst durch die Kompilation etwas Spielerisches.
Freitag, 22.11.2024: Schweizer Germanistiktag – Ludische Textualität. Spiele als Gegenstand der Germanistik
Die Tagung rahmte den Schweizer Germanistiktag 2024 zum Thema „Ludische Textualität - Spiele als Gegenstand der Germanistik“. Der Tagungsbericht von Thomas Müller findet sich ebenfalls auf Paidia.
Samstag, 23.11.2024: Sektion 2 – Mittelalter im Brettspiel
Björn Reich: Merlin, Gawein, Bedivere – Arthurische Figuren im modernen Brettspiel
Björn Reich kündigte einen „bunten Vortrag“ an, der sich dicht am Gegenstand halte und sich vor allem um die Rezeption mittelalterlicher Literatur in Brettspielen drehe. Vorab wies er darauf hin, dass es sich hierbei selten um eine Rezeption erster Ordnung handle, sondern die Inspiration für die Brettspiele häufig Filme oder moderne Romane seien. Im Folgenden grenzte Reich seinen Gegenstandsbereich für den Vortrag auf Artusbrettspiele ein und benannte ‚Le Morte d’Arthure‘ als eine der – über besagte Umwege – einflussreichsten Quellen, aber auch ‚Sir Gawain and the Green Knight‘ etwa sei v. a. für den englischsprachigen Bereich durchaus relevant. Anhand dreier arthurischer Ritter (Gawain, Kay und Palamedes) illustrierte Reich, wie unterschiedlich die Rezeption im Brettspiel auf narrative und auch spielmechanische Art ausfallen könne – sowohl was die Qualität als auch den Umfang betreffe – und konnte abhängig von der konkreten Darstellung der Figuren auch verschiedene Traditionslinien der Artusliteratur ausmachen. An Spielen wurden u. a. Tournament at Camelot (2017), Schatten über Camelot (2004/5) und Legenden von Camelot (2007) behandelt.
Katharina Gedigk: Von Tintenknappheit und reichen Gönnern. Buchdruck-Erfahrung im Brettspiel ›Gutenberg‹
Katharina Gedigk widmete ihren Vortrag ganz einer Fallstudie zu dem Brettspiel ‚Gutenberg‘ (2021). Sie begann mit einer Analyse der Bildlichkeit des Spiels bzw. der Text-Bild-Relationen und würdigte diverse Aspekte des Spiels, z.B. dass es dem polnischen Entwicklerteam gelänge, den Buchdruck als gesamteuropäisches Phänomen darzustellen, und auch historisch belegten Druckerinnen (sämtlich Druckerwitwen, welche die Geschäfte nach Tod ihres Mannes weiterführten) Sichtbarkeit verschaffe. Sie wies aber auch auf gewisse Unstimmigkeiten hin, wie z. B. Drucklettern aus Holz oder die Merkwürdigkeit, dass im Spiel eine Repräsentation des fertigen Druckerzeugnisses fehle. Auch machte sie Ergänzungs- bzw. Verbesserungsvorschläge, von denen die Authentizität des Spiels profitieren würde.
Jan-Niklas Meier: In die Welt des Mittelalters eintauchen? Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens in Brettspielen
Jan-Niklas Meier plädierte in seinem Vortrag für Begriffsschärfungen im Bereich der Brettspielforschung. Insbesondere sei es wichtig, die narrativen Potenziale der Spiele von der Narrativierung durch die Spieler:innen zu trennen – nur weil etwas narrativiert werden könne bzw. werde, sei das nicht unbedingt der Verdienst des Spiels. Häufig vermischt würden etwa auch Fiktion, Narration und Thema. Meier untermauerte sein Plädoyer mit einer Fülle an Sekundärliteratur, nicht zuletzt aus den Digital Game Studies, und demonstrierte im Anschluss die herausgearbeiteten begrifflichen Unterschiede anhand von Architekten des Westfrankenreichs (2018), Tales of the Arthurian Knights (2024) und Crusader Kings (2019) in der Brettspielvariante. Narrativität zeige sich als Spektrum; zudem betonte Meier, dass er Narrativität nicht als Qualitätskriterium bzw. normative Aussage verstanden wissen wolle – ein narrativeres Spiel sei nicht unbedingt ein ‚besseres‘ Spiel.
Steffen Bogen: Der St. Galler Klosterplan als Spiel. Über das Verändern und Anpassen von Regeln
Steffen Bogen, der nicht nur als Kunsthistoriker, sondern auch als Spieleautor bekannt ist, gewährte in seinem Vortrag Einblick in die Konzeption und den Entstehungsprozess seines neuesten Brettspiels Campus Galli (2024), das auf dem St. Galler Klosterplan basiert und in Kooperation mit der gleichnamigen Museumsbaustelle nahe Meßkirch entstand, wo mit den Mitteln des 9. Jahrhunderts – und ebenfalls auf Basis des besagten Plans – ein Kloster gebaut wird. Bogen stellte zunächst den Klosterplan vor und machte auf die spielförmigen Elemente aufmerksam, die bereits der Vorlage zu eigen sind. Im Transformationsprozess musste Bogen zwar die Komplexität des Plans reduzieren, um Spielbarkeit zu gewährleisten, er konnte aber zentrale Aspekte des ursprünglichen Plans wie z. B. den architektonischen Problemkomplex Gastfreundschaft und auch die Grundstruktur inklusive Himmelsrichtungen erhalten. Mehrfach betonte Bogen, wie wichtig es sei, einen Wiederspielwert zu gewährleisten, und machte die Tagungsteilnehmer:innen auf kleine Spielelemente aufmerksam, die zur Narrativierung einladen, ohne eine solche zu erzwingen.
Gundolf S. Freyermuth: Literatur und Spiel. Skizze einer historischen Theorie
Den Abschluss bildete der Vortrag von Gundolf Freyermuth, der aus einer historischen Perspektive heraus das Verhältnis von digitalen Spielen und Literatur beleuchtete, womit der Vortrag auch gut auf den Germanistiktag am Freitag gepasst hätte. Platons Höhlengleichnis bildete als unfreiwillige – wie Freyermuth betonte, da es Platon nie um die Macht der Medien gegangen sei – literarische Urszene des audiovisuellen Spiels den Rahmen für den Vortrag. Anhand besagter Urszene diagnostizierte Freyermuth zunächst eine aktuelle mediale Umbruchphase, bevor er mit einem Fazit zu Text-Bild-Beziehungen in LLMs (Large Language Models) schloss. Innerhalb dieses Rahmens führte er anhand der Schlagworte Prozeduralisierung, Hypernarration, Hyperrealismus und Hyperimmersion durch die Geschichte des digitalen Spiels inklusive seiner Beziehungen zur Literatur.
Abschlussdiskussion
Die Abschlussdiskussion war aufgrund der knappen Zeit kurz, dafür aber lebhaft. Eine von vielen Teilnehmenden identifizierte Herausforderung war die Verallgemeinerungsfähigkeit von Aussagen über das Spiel – manche gingen sogar so weit, sich zu fragen, ob man überhaupt nur noch mit Fallstudien arbeiten könne, da z. B. die Unterschiede zwischen zwei digitalen Spielen auf ihre Weise ebenso groß sein können wie die zwischen einem digitalen und einem analogen Spiel. Auch die Differenz zwischen den fachlichen Hintergründen der Beitragenden wurde mitunter als groß empfunden, jedoch als produktiv erachtet.
Da das Ende der Tagung nicht auch das Ende der Diskussion sein soll, läuft noch bis zum 31.12.2024 ein ergänzender CfP zum Thema der Tagung. Die dort vorgeschlagenen Aufsätze sollen dann gemeinsam mit den direkt aus der Tagung hervorgegangenen Beiträgen in der transcript-Reihe „Populäres Mittelalter“ veröffentlicht werden.
Workshops
Begleitet wurde die Tagung von zwei Workshops für Studierende: „What’s wrong with Roll & Write?“ (Mittwoch, 20. November, online) mit Eric Zimmermann, und „Designing the Middle Ages“ (Samstag, 23. November, vor Ort) mit Steffen Bogen.
Artikelbild:
Ausschnitt aus dem Tagungsplakat, eigens von der rumänischen Zeichnerin Maria Surducan für die Tagung gestaltet