Das Medium Computerspiel hat sich von einer subkulturellen Erscheinung zu einem Alltagsmedium in weiten Teilen der Gesellschaft entwickelt. Dies zeigt sich neben der Verbreitung und Nutzung von Spielen auch in der zunehmenden Übertragung ästhetischer oder thematischer Elemente bzw. ganzer Computerspielwelten und -erzählungen in andere Medienformate wie beispielsweise den Film.
Da gesellschaftliche Aushandlungsprozesse multimedial geführt werden und die Öffentlichkeit unweigerlich eine mediale ist, wird klar, dass die Frage nach einem kompetenten Umgang mit Medien auch eine Frage der Werte ist. Im Falle des Computerspiels also eine Frage nach dem gesellschaftlichen Wert, der dem Medium zugesprochen wird; eine Frage nach den Werten, die in Computerspielen als Erzähl- und Spielmedien transportiert werden; eine Frage des Umgangs mit Computerspielwerten und der Rückwirkung auf bzw. des Ausdrucks von gesellschaftliche(n) Wertdiskurse(n) und nicht zuletzt eine Frage nach dem Wert der Beschäftigung mit Computerspielen und ihrer Strukturen für die Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen.
Schon aus dieser Perspektive wird klar, dass die gesellschaftliche Bedeutung des – immer noch und immer wieder in die ‚Schmuddelecke‘ gedrängten – Mediums Computerspiel nicht mit seiner ausstehenden verbindlichen Nennung in Bildungsstandards, Lehrplänen oder der Verwendung im konkreten Unterricht übereinstimmt.
Die Gründe dafür mögen vielfältig sein. Der benötigten wissenschaftlichen Aufbereitung und fehlenden Konzepten für eine Einbindung in den Unterricht unter den Vorzeichen der Werteerziehung allerdings begegnet Paidia – Zeitschrift für Computerspielforschung mit der Sonderausgabe „Computer – Spiel – Werte. Didaktische Computerspielforschung im Bereich der Werteerziehung“ in zehn Beiträgen von dreizehn Autoren.
Im Basisartikel der Sammelveröffentlichung liefern die Herausgeber grundlegende Gedanken zu den Bereichen der Werteforschung, Werteerziehung, Computerspielforschung und Computerspieldidaktik und zeigen Verbindungen und Schnittmengen dieser Disziplinen auf, um eine theoretische Basis für die Behandlung des Themas zu schaffen.
Die dreizehn Beiträger nehmen exemplarische Perspektiven auf theoretische Fragestellungen, praktische Bedingungen des Einsatzes und einzelne Vertreter des Mediums ein und zeigen damit das große Potential der Arbeit mit Computerspielen für die Werteerziehung.
René Bauer und Stefan Hofer-Krucker Valderrama nähern sich der Werteerziehung mittels Computerspielen über einen klassisch-literaturdidaktischen Ansatz. Um die im Roman Go! (Kaneshiro) geschilderte Diskriminierung des Protagonisten besser erfahrbar zu machen, verwenden sie das Computerspiel DiscriminationPong (and-or.ch) im Unterricht. Auf diese Weise kann das Computerspiel literarisch-ästhetische Rezeptionskompetenz fördern und erlaubt damit auf das in einem Roman dargestellte Wertesystem zuzugreifen. Darüber hinaus zeigt sich, dass dieser medienintegrative Ansatz ein Poetisches Verstehen gegenüber beiden Medien wechselseitig unterstützt.
Auch Philippe Wampfler unterstreicht in seinem Beitrag das Potential einer medialen Komplementierung. Er diskutiert die Möglichkeit, mit Hilfe des Romans Wörterbuch (Erpenbeck) das Verständnis für das Spiel Sunset (Tale of Tales) zu vertiefen. Wampfler argumentiert dabei für das spezifische Leistungsvermögen von Computerspielen für die Werteerziehung aus einer mediendidaktischen Perspektive und thematisiert unter anderem wie Entscheidungsstrukturen, die kaum Auswirkungen auf den Spielverlauf haben, trotzdem einen wichtigen Freiraum zur Reflexion subjektiver Wertehaltungen schaffen können.
Der von Elisabeth Heeke aus dem Englischen ins Deutsche übersetze Leitfaden „The Walking Dead in der Schule – Moralphilosophie nach der Apokalypse“ von Tobias Staaby stellt hingegen in einem schulpraktischen Ansatz dar, wie gerade mit Hilfe von Entscheidungssituationen, die den weiteren (narrativen) Spielverlauf wesentlich beeinflussen, über Moralphilosophie zur Werteerziehung diskutiert werden kann. Im Zentrum stehen dabei ethische Dilemmasituationen, die gerade in einem fiktionalen Setting wie der Zombieapokalypse gehäuft auftreten, und die Frage wie viel Menschlichkeit am Ende der Menschheit bleibt. Staaby behandelt dabei neben möglichen Themen, die praktische Einbindung in den Unterricht in Bezug auf die mediale Ausstattung und den Umgang mit der USK-Freigabe ab 18 Jahren.
Markus Engelns erweitert den Blick auf Entscheidungsstrukturen, die oftmals als das medienspezifische ‚Plus’ von Computerspielen für die Werteerziehung gegenüber anderen Medien gesehen werden, indem er sie kulturwissenschaftlich hinterfragt. In seinem Beitrag zeigt er am Spannungsfeld von Produktion und Konsumierung, dass bei der Betrachtung von wertbezogenen Entscheidungen in Videospielen auch die Frage nach dem Verhältnis von Individualisierung, Personalisierung und Customization in den Blick genommen werden muss. Engelns stellt damit nicht nur die Frage nach der Autonomie des Künstlers, sondern unterstreicht auch die Bedeutung der Entstehenskontexte für eine Bewertung der in einem Medium verhandelten Wertvorstellungen.
Dass Werteerziehung in Harveys neue Augen (Daedalic) eine zentrale Funktion erfüllt und auf diese Weise im Unterricht thematisiert werden kann, stellen Johanna Lindner und Benedikt Schultz in ihrem Artikel durch eine neoformalistische und inhaltliche Analyse dar. Dabei zeigen sie auf, dass die Protagonistin Lilly (und in Verlängerung die Lernenden) sich von ihrer Erziehung zu unbedingtem Gehorsam emanzipieren muss (/müssen), um über einen Prozess der Wertebildung ihre Sprachlosigkeit gegenüber ihrer Umwelt zu überwinden. Der Thematisierung und Verbindung von Humor und Gewalt in Harveys neue Augen kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.
Aus einer theoretischen Perspektive nähern sich wiederum Fabian Müller und Patrick Maisenhölder dem Potential von gewalthaltigen Computerspielen für die Werteerziehung nicht nur im Ethikunterricht. Dabei thematisieren die beiden Autoren die in den Medien heftig diskutierte Frage nach der Wirkung medialer Gewalt. Computerspiele werden als Orte des Probehandelns dargestellt, in denen Gewalt als Werteevokator dienen kann. Neben der Stärkung der Werturteilskompetenz zielen die Ausführungen auch auf eine Unterstützung von Rahmungsprozessen und damit einer Differenzierung zwischen medialer und realer Gewalt.
Dass auch die Verschmelzung von Spielenden und Figuren genutzt werden kann, zeigt Tobias Unterhuber in seinem Beitrag. Im Kontext einer Kritik an bestehenden Wertevermittlungsprozessen stellt er dar, wie Computerspiele durch die Phänomene des „Bleed“ und der Handlungsmacht (Agency) genutzt werden können, um stattdessen zu Wertbildungsprozessen im Sinne der Gleichberechtigung anzuregen. Unterhuber weist die Universität dabei ebenso als Ort der Werteerziehung aus wie die schulischen Bildungseinrichtungen.
In der schulischen Werteerziehung stellen Märchen ein akzeptiertes und bewehrtes Medium dar. Andreas Schöffmann spürt in seinem Beitrag der Frage nach, ob die Gründe der Eignung des Märchens auch auf Märchenadaptionen im Computerspiel oder Computerspielmärchen übertragbar sind. Dafür analysiert er in einem ersten Schritt, wie Computerspiele mit bekannten Märchen umgehen, um in einem zweiten Schritt nach Märchen, die im Medium Computerspiel neu entstehen, zu fragen. Auf diese Weise gelingt ihm eine Übertragung der Ergebnisse der Werteerziehung im Kontext der Märchendidaktik auf den Bereich der Computerspieldidaktik und ein Vergleich narrativer Strukturen im Kontext ihrer medialen Darstellung.
Im Gegensatz zu den narratologisch geprägten Ansätzen der meisten Beiträge der Sammelveröffentlichung wählt Jochen Koubek in seinem Artikel einen dezidiert ludologischen Ausgangspunkt. In seinem ethikdidaktischen Beitrag beschreibt er wie mit Clash of Clans (Supercell) Diskussionen über Werte in einer Schnittmenge aus klassischer Spieltheorie und ethisch-moralischen Aushandlungsprozessen stattfinden können. Dabei verwendet er mit Clash of Clans ein bei Kindern und Jugendlichen sehr beliebtes Computerspiel, dessen Narrationen sich erst aus den Spielprozessen und damit der Interaktion der Spielenden ergeben.
Unser Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen die Relevanz, das Potential und die vielseitigen Möglichkeiten des Einsatzes von Computerspielen für die Werteerziehung aufgezeigt haben.
Mireya Schlegel und Andreas Schöffmann