Jean-Baptiste-Simeon Chardin: A Game of Billiards. xa. 1721-1725.

Spielzeichen – eine Bilanz

15. Oktober 2021
Erstkorrektur: Laura Laabs / Zweitkorrektur: Tobias Unterhuber
Abstract: Martin Hennig und Hans Krah lassen ihre Erfahrungen mit der Tagungsreihe „Spielzeichen” Revue passieren, um so auszuloten, welche Forschungstrends und -desiderate sich aus den Thematiken der Tagungen ableiten lassen und inwiefern sich das Forschungsfeld inzwischen verändert hat. Dabei sprechen sie sich für eine Historisierung der Spieleforschung aus.

Martin Hennig & Hans Krah

 

Spielzeichen ist eine Tagungsreihe, die 2014 begründet wurde und bisher viermal stattgefunden hat.1 Das Spielzeichen-Format operiert auf der Basis der an der Universität Passau (weiter‑)entwickelten Methoden und Konzepten der Kultur- und Mediensemiotik. Die Grundidee der Reihe ist entsprechend, dass sich unterschiedlichste Bedeutungsdimensionen des digitalen Spiels über dessen spezifische Zeichensysteme und deren Verhältnis zueinander beschreiben lassen. Vor diesem Hintergrund ist Spielzeichen integrativ und interdisziplinär angelegt und versteht sich als Vernetzungsplattform medienkulturwissenschaftlicher Perspektiven auf die digitale Spielkultur. Die einzelnen Spielzeichen-Tagungen stellen dabei jeweils einen zentralen Forschungsbereich der Medienkulturwissenschaft in den Mittelpunkt und beleuchten diesen möglichst umfassend in Bezug auf dessen spielspezifische Bedeutungen: Bei der ersten Tagung im Jahr 2014 ‚Zeichen‘, 2016 ‚Raum‘, 2018 ‚Kultur‘ und 2020 ‚Genre‘ (für 2022 ist als Fortsetzung geplant: ‚Zeit‘).

Im Folgenden möchten wir mit Blick auf die Themen der bisherigen Veranstaltungen ein kurzes Resümee zu zentralen Erkenntnissen und Desideraten in den jeweiligen Gebieten ziehen. Die Ausführungen sind dabei auch als eine mögliche Linie der Selbstreflexion innerhalb der deutschsprachigen Game Studies zu verstehen, die vor allem medienkulturwissenschaftliche Bezüge in den Vordergrund stellt.

Zeichen

Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre ist eine beträchtliche thematische Ausdifferenzierung der Game Studies zu beobachten, die neben Fragen der Ludizität oder der Narrativität auch semiotischen,2 bildwissenschaftlichen3 oder transmedialen4 Ansätzen Raum gibt und sich technischen, ökonomischen, psychologischen und soziologischen Aspekten des digitalen Spiels gleichermaßen widmet.5 Auch im Rahmen der Spielzeichen-Reihe zeigten sich digitale Spiele als komplexe Kommunikationsform, die verschiedenste Zeichensysteme und sowohl intertextuelle als auch intermediale Bezüge inkorporiert. Themen, Motive und Strukturen traditioneller, vor allem audiovisueller Medien werden in diesem Zusammenhang neu kombiniert und gewinnen durch die Einbettung in den interaktiven Rahmen zusätzliche Bedeutungsdimensionen.

1.) Dabei wurde themenübergreifend deutlich, dass es einerseits gilt, diese Bedeutungsdimensionen mediensensibel herauszuarbeiten. Andererseits können tradierte Konzepte der Narratologie oder Semiotik als fruchtbare heuristische Grundlagen einer solchen Analyse dienen. So konnten etwa Strukturanalogien zwischen narratologischen Denkmodellen wie der Metalepse und der kybernetischen Feedbackschleife des digitalen Spiels gezeigt werden. Weiter wurden fernsehwissenschaftliche Konzepte und Begriffe auf ihre Tragfähigkeit für eine Beschäftigung mit seriellen Video- und Computerspielen erprobt und semiotische Leitsysteme als Schnittstelle zwischen Konstruktion und Rezeption des Spielraums diskutiert, um eine Brücke zwischen Game Design, Spielanalyse und Rezeptionsforschung zu schlagen.

2.) Hieran anknüpfend wäre gerade im interdisziplinären Kontext der Game Studies immer wieder zu diskutieren, ob Beschreibungs- und Analyseinventare in Bezug auf digitale Spiele immer erweitert oder gar neu erfunden werden müssen. Inwieweit etwa zentrale Begrifflichkeiten der Transmedialitätsforschung (etwa: ‚Storyworld‘, ‚Mediale Darstellung‘ und ‚Mentale Vorstellung‘) nicht auch mit narratologischem Vokabular (‚Histoire‘, ‚Discours‘, ‚Semantik‘) abzubilden wären, ist zu reflektieren bzw. es wäre grundlegend zu diskutieren, in welchem Verhältnis verschiedene Begrifflichkeiten zueinander stehen: ob sie übersetzbar oder zumindest kompatibel sind und welchen Mehrwert (auf welcher Ebene: theoretisch, beschreibend, heuristisch) die jeweilige Terminologie bietet. Auf der anderen Seite bleibt bei erzähltheoretischem Vokabular stets zu prüfen, inwiefern in den Game Studies dieselbe Extension und Intension gegeben ist wie innerhalb nicht-interaktiver Medien. Hierauf verweist etwa, dass „Narration“ dort zwar in der Regel als Gegenbegriff zur ludischen Ebene verwendet wird, „Narration“ als begriffliches Konzept jedoch häufig nicht genauer reflektiert ist – und etwa keine Kriterien wie Ereignishaftigkeit oder ähnliches festgelegt sind, auf deren Grundlage von einer narrativen Struktur und nicht nur von Semantik auszugehen wäre.

3.) Darüber hinaus wurde immer wieder deutlich, dass die Betrachtung digitaler Spiele auch aus der umfassenderen Perspektive des Medienverbunds lohnt, da sich erst auf diese Weise die spezifische Stellung der Zeichenproduktion eines Einzelmediums im Zusammenhang mit den synchron gleichzeitigen Mediensystemen zeigt und sich auch aus diesen ableitet. Zum Beispiel wurden digitale Spiele als Orte der Verbreitung neuer Interaktionsparadigmen im Umfeld der allgemeinen Mensch-Maschine-Interaktion diskutiert. Oder als Fortsetzung von Erzählungen aus anderen Medien, was in der Forschung unter dem Begriff des transmedialen Erzählens firmiert. Schließlich ging es um Darstellungen digitaler Spiele in den traditionellen Erzählmedien, die Rückschlüsse auf die kulturelle Zeichenhaftigkeit des interaktiven Mediums erlauben. So zeigte sich anhand von Theaterinszenierungen, die an Erlebnisqualitäten digitaler Spiele anknüpfen, dass ein mediales Spezifikum des Computerspiels kulturell als Erzeugung eines ‚Dazwischen‘ im Spektrum von Autonomie und Heteronomie wahrgenommen zu werden scheint, was die Verknüpfung eigentlich disparater Erlebnisqualitäten im ‚Computerspieltheater‘ möglich macht (etwa: die Wahrnehmung von Einflussmächtigkeit der zu Akteuren werdenden Zuschauenden bei gleichzeitiger Erfahrung der Fixiertheit des Skripts). Es zeigte sich aber auch, dass das Konzept ‚Spiel‘ in Film, Literatur oder Theater in semiotische Zusammenhänge überführt wird und Verweisfunktionen übernimmt, in deren Rahmen es nicht mehr nur sich selbst bedeutet, sondern als Träger von anderen Konzepten (etwa zur Verhandlung der Grenze zwischen Virtualität und Realität) oder als Modell für andere Konzepte (z. B. unterschiedliche Vorstellungen von ‚Leben‘) fungieren kann. In Bezug auf eine solche historische Aufarbeitung der sich wandelnden Stellung digitaler Spiele in gesellschaftlichen Diskurssystemen steht die Forschung immer noch am Anfang.

Raum

Einen übergreifenden Schwerpunkt der Spielzeichen-Reihe bildeten die Raumkonzepte digitaler Spiele. Insgesamt konnten vier Ebenen identifiziert werden, auf denen Raumkonzepte situiert sind, die sich gegenseitig zudem auf unterschiedliche Weise ‚befruchten‘:

1.) Die Ebene der Raum-Ästhetik als Menge der Verfahren, die räumlichen Eindruck und entsprechende Effekte generieren. Insbesondere wurde diskutiert, inwiefern der Umstand, dass Computer- und Videospielbilder nicht nur aus einer Wahrnehmungs- sondern ebenfalls aus einer Handlungsperspektive rezipiert werden, Folgen für ihre Bildästhetik hat. So müssen Spielende für die Aneignung von Computerspielräumen laufend Verknüpfungen zwischen dem Aussehen und dem Raumverhalten von Objekten herstellen. Damit rückten (nicht nur) aus Perspektive der Lehr- und Lernforschung didaktische Konzepte des Spiels in den Blick wie auch die Frage nach semiotischen Leitsystemen, etwa in Form von visuellen Orientierungshinweisen, welche die Regeln des Raummodells bzw. der Spielmechanik vermitteln und innerhalb der historischen Medienentwicklung unterschiedlich ausfallen.

2.) Die Ebene der Raum-Funktionen beschreibt die Leistungen der Raumstruktur für die ludische Dimension eines Spiels. Dabei wurden erstens einige für digitale Spiele spezifische Raummodelle diskutiert, wie der Loop als räumliche Grundform, die sich sowohl in konkreten Spielarchitekturen und Bewegungsmustern von Spielenden findet, als auch abstraktere Schleifenmuster im Spielvorgang (scheitern, speichern, laden etc.) beschreiben kann. Zweitens standen Relationen der einzelnen räumlichen Ebenen im Fokus. So beinhalten digitale Spiele aufgrund ihrer primär ludischen Funktionen häufig unterschiedliche Raumkonzepte, die oftmals in keiner logischen Relation zueinanderstehen. Eigentlich unmögliche Raumformen, wie etwa der ‚nimmervolle Beutel‘ als Inventar, lassen sich zwar spielmechanisch erklären, stehen jedoch teilweise in deutlichem Kontrast zu Ordnungssystemen und Regeln auf Ebene der Narration. Entsprechend wurden drittens spezifische Beschreibungsinventare für die räumlichen Darstellungen des Computerspiels diskutiert, etwa Leveldesign-Patterns nach Christopher Alexander et al. als semi-formalisierte Beschreibungen von häufig auftretenden Aspekten des Gameplays, die einerseits im Game Design Anwendung finden, andererseits jedoch auch für die Game-Analyse fruchtbar gemacht werden könnten. Viertens werden die programmseitig vorgegebenen Raumordnungen im Online-Spiel zur Grundlage sozialer Interaktionen. Bei der Spielzeichen-Reihe standen auf dieser Ebene vor allem die spezifischen Sprachpraxen im Online-Kontext als soziale Anschlusshandlungen im Fokus, wobei Erweiterungen dieser Forschungsanstrengungen in Richtung von Raumkonzepten im engeren Sinne und beispielsweise die in sozialen Gemeinschaften in Online-Games realisierten Verhältnisse von Individuum und Kollektiv oder Privatheit und Öffentlichkeit denkbar sind.6

3.) Neben den ludischen Raum-Funktionen bezeichnet die Ebene der Raum-Semantik räumliche Bedeutungskonstruktionen. Gerade hier zeigen sich Spezifika digitaler Spiele, da in diesem Kontext mindestens zwei Ebenen zu unterscheiden sind: Narrativ sieht das Raummodell des Kultursemiotikers Jurij M. Lotman vor, dass ein textuelles Ereignis als Grundlage einer narrativen Struktur immer dann vorliegt, wenn eine Figur ihren Ursprungsraum verlässt, über die Grenze eines semantischen Raums gelangt, sich Figur und Raum nun auf semantischer Ebene in Opposition zueinander befinden und damit ein Konflikt besteht, der die weitere Narration strukturiert.7 Dass solche narrativen Verfahren auch in digitalen Spielen in vielfältiger Weise Anwendung finden, konnte bei Spielzeichen anhand verschiedener Beispiele nachgewiesen werden (etwa in Bezug auf die Grenze zwischen schützendem Bunker und postapokalyptischer Spielwelt in der Fallout-Reihe). Gleichwohl gilt es einige Spezifika der narrativen Raumstruktur des Spiels zu beachten, etwa weil die initialen Grenzüberschreitungen hier in der Regel sehr früh im Spielverlauf erfolgen, da der Schritt in den zur Spielfigur oppositionellen Raum das eigentliche interaktive Spielgeschehen einleitet. Darüber hinaus sind Räume und Grenzen in spielmechanischer Hinsicht relevant, denn signifikante Spielereignisse werden häufig ebenfalls abhängig von der Überschreitung von räumlichen Grenzen ausgelöst (neue Gegner erscheinen, sobald man einen Raum betritt), woraus sich allerdings nicht zwangsläufig eine narrative Grenzüberschreitung herleitet. Folglich gibt es zu den Zusammenhängen zwischen narrativ und spielmechanisch funktionalen Grenzen im digitalen Spiel noch einigen Untersuchungsbedarf, genauso wie zu Genrespezifika (konstituieren sich zum Beispiel Indie-Games wie Gone Home gerade über das Fehlen von narrativen Konflikten und Grenzüberschreitungen?) oder auch bezüglich des Zusammenhangs zwischen Räumlichkeit und Zeitlichkeit: Inwiefern sind Inszenierungsstrategien von diegetischer Zeit in digitalen Spielen an räumliche Erzählverfahren gebunden?

Darüber hinaus fungieren digitale Spiele auch als Wissens-Räume, d. h. als Repräsentanten interner wie externer Wissensordnungen. Analog zu traditionellen Erzähltexten können einerseits spielexterne Wissensmengen repräsentiert und verhandelt werden. Gleichzeitig aber muss der Raum des Spiels auch interne Wissensstrukturen ausbilden, da der aktive Erwerb von Wissen über die Spielwelt sowie ihre Objekte und Regeln für die Überwindung von Spielherausforderungen zentral ist. Bei Spielzeichen wurde in diesem Zusammenhang diskutiert, inwiefern Beispiele wie The Stanley Parable oder Antichamber Wissen zu den Raumschemata des digitalen Spieles selbstreflexiv funktionalisieren. Anknüpfende Fragen bestehen darin, inwiefern die betreffenden Wissensmengen historisch und auch abhängig vom jeweiligen technischen Dispositiv variieren und sich genrespezifisch nachweisen lassen.

4.) Erweitert man die Perspektive über die Grenzen des Spiels hinaus, geraten soziale und gesellschaftliche Räume als spielextern-kontextuelle, sozialräumliche Einbettung digitaler Spiele in den Blick. So wurde das Foucault’sche Konzept der Heterotopie8 für die Beschreibung der spezifischen Regeln und gesellschaftlichen Funktionen von Spielhallen und Spielotheken als Orte des Spielens herangezogen, die eine Suspendierung kapitalistischer Systemlogiken in Aussicht stellen. Hieran knüpfen Fragen des Verhältnisses von Spiel- zu anderen gesellschaftlichen Räumen an, etwa den konkreten Einbezug realer Räume in Augmented-Reality-Games betreffend. Bei Spielzeichen zeigte sich mehrfach die politische Dimension derartiger Raumbezüge, insofern etwa Heterotopien über die in ihnen ermöglichten gesellschaftlichen Abweichungen prinzipiell systemstabilisierend wirken, wohingegen zum Beispiel Augmented-Reality-Games potenziell subversive Aneignungen des gesellschaftlichen Raums ermöglichen.

Kultur

Ausgehend von der Ludologie vs. Narratologie-Debatte ziehen sich Diskussionen bezüglich des Verhältnisses von Spiel- und Erzählstrukturen durch die Geschichte der Game Studies. Aus diesem Grund sind breitere Aspekte der strukturellen Vernetzung von spielmechanischen und erzähltechnischen Aspekten des Video- und Computerspiels mittlerweile recht gut erforscht.9 Auf einer anderen Ebene stehen die Medienspezifika bestimmter Inhalte des Video- und Computerspiels sowie die Charakteristika ihrer ideologischen Wertevermittlung: In welcher Weise verarbeiten digitale Spiele das Werte-, Normen-, Medien- und Diskurssystem ihrer Produktionskulturen und transformieren es ihrerseits für ihren spezifischen medialen Diskurs? Inwiefern wird in anknüpfenden sozialen Handlungen Bedeutung generiert, welche spezifischen Subjektmodelle10 produziert das digitale Spiel? Fraglich wäre vor diesem Hintergrund, inwiefern die nicht-linearen Erzählformen digitaler Spiele zwar auf tradierte Erzählformen und Motive zurückgreifen, dabei jedoch eine spezifische kulturelle Funktion erfüllen, etwa weil sie sich zur Beschreibung gesellschaftlicher Komplexität und Kontingenz sowie unübersichtlicher, vielfach verknüpfter Rahmenbedingungen individuellen Handelns besonders eignen.

Gegenwärtig sind solche mentalitätsgeschichtlichen Ansätze und konkrete Motivforschungen (neben einzelnen mittlerweile recht gut beforschten Themenfeldern wie ‚Gender‘) zumindest in den deutschsprachigen Game Studies noch in der Minderheit. Dies ist auch damit in Zusammenhang zu sehen, dass mediensensible Analysen darum bemüht sind, die gegenüber ‚traditionellen‘ Medien genuin ‚neuen‘ Qualitäten des digitalen Untersuchungsmediums zu betonen. Daraus folgt allerdings, dass auf der Ebene der medien- und kulturhistorischen Verortung von spezifischeren Inhalten digitaler Spiele noch Pionierarbeit zu leisten ist. Vor diesem Hintergrund vermehren sich in den letzten Jahren Arbeiten, die den mediengeschichtlichen Traditionslinien und Ausformungen spezifischer Motive innerhalb der Spielkultur nachgehen, etwa: Krankheit, Überwachung, Utopie, Heldenreise, Coming-of-Age-Narrative, etc.11

 1.) Auch die Spielzeichen-Reihe ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Mehrere der dortigen Beiträge stellten den Anschluss digitaler Spiele an tradierte Motive der Medienkultur dar, die dabei an spielspezifische Ebenen der Wertevermittlung geknüpft werden. Zum Beispiel zeigte sich, dass digitale Spiele einige aus anderen Medien bekannten Tendenzen zur Inszenierung von Gender und Körperlichkeit noch zuspitzen. Es wurde deutlich, dass insbesondere Körperlichkeit in digitalen Spielen als Trägerin und Kulminationspunkt nicht nur von geschlechterspezifischen, sondern regelmäßig auch von anthropologischen Modellen fungiert; als Projektionsfläche von Selbst- und Fremdbildern sowie Ordnungen der Normalität und Devianz. So setzt das hyperbolische Held*innenmodell des digitalen Spiels in der Regel hyperfunktionale Körper voraus; entsprechend zeigt das Medium eine generelle Affinität zu Diskursen der Selbstoptimierung und des Transhumanismus. Auf der anderen Seite konnte selbst anhand von in der Kritik sehr positiv besprochenen Beispielen wie Bioshock Infinite oder The Last of Us gezeigt werden, dass innerhalb der Spielkultur nach wie vor massive ethnische Stereotype oder das Bild einer militarized masculinity perpetuiert werden, um die exzessiven Körpervernichtungen des Gameplays zu kontextualisieren. Genauso wurde herausgestellt, dass auch die Darstellung von homosexuellen und transgeschlechtlichen Charakteren von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart eine starke Stereotypisierung aufweisen und in diesem Sinne abweichende Figuren auf verschiedenen Ebenen als normverletzend ausgewiesen sind (visuell, aber etwa auch korrelierend mit Zuschreibungen von Kriminalität und ethischen Grenzverletzungen).

2.) Aus synchroner Perspektive standen bei Spielzeichen die spezifischen nationalen Ausprägungen der Spielkultur im Mittelpunkt. Digitale Spiele wurden dabei in Bezug zur jeweiligen Produktionskultur gesetzt, wobei mit Amerika und Japan die großen nationalen Zentren die Debatten dominierten. In diesem Zusammenhang wurde z. B. untersucht, inwiefern der Mythos der amerikanischen Großstadt nicht nur in digitalen Spielen, sondern gerade auch auf Produktions- und Rezeptionsebene in Auseinandersetzung mit den entsprechenden Produktionen reproduziert wird. Digitale Spiele wurden dabei als Ideologieträger perspektiviert, die Räume der ‚naiven‘ Interaktion mit nationalen Symbolen und Praktiken eröffnen, was sich zum Beispiel anhand der Konstruktion von Nationalismen in der japanischen Populär- und Spielkultur zeigte. Sonstige Kulturen rückten gegenüber diesen Diskussionen in den Hintergrund und Fragen nach den Merkmalen einer spezifisch deutschen, französischen oder zum Beispiel auch koreanischen Spielkultur – bzw. umgekehrt nach einer Homogenisierung des Spielemarktes – bilden für die Zukunft ein vielversprechendes Forschungsfeld.

3.) Auf der diachronen Ebene einer Historisierung der Games-Kultur standen die seit den 2010er Jahren erfolgten Ausdifferenzierungen der Spielendengemeinschaft und des Spielemarktes sowie die entsprechenden kulturellen Diskurse im Fokus (Spiele als Kunst, Mainstream- vs. Independent-Markt, Retro-Kulturen etc.). So wurde gezeigt, wie Retro-Spiele gezielt ‚memoriale Zeichen‘ einsetzen, die den Spielvorgang mit zusätzlichen, kollektiv wie individuell identitätsstiftenden Bedeutungsebenen aufladen. Gleichfalls wurde deutlich, dass Independent-Produktionen spezifische Autorschafts-Konzepte in das Feld des digitalen Spielemarktes importieren, wodurch dieser anschlussfähig für weitere Diskursfelder wird. Denn auch wenn Retro- und Independent-Markt ihr symbolisches Kapital aus der Selbstinszenierung ihrer Werke, Autor*innen und Zielgruppen als ‚Peripherie‘ gegenüber dem Massenmarkt gewinnen, fungiert dies gleichzeitig als Weichenstellung für eine Nobilitierung des Mediums insgesamt, das aus einer übergeordneten medienkulturellen Perspektive auf Zeichen und symbolische Distinktionen aus dem Bereich ‚Kunst‘ zurückgreift. Uns scheinen für die zukünftige Erforschung der Spielkultur gerade derartige Wechselwirkungen zwischen einzelnen kulturellen und medialen Feldern interessant, in deren Rahmen Computer- und Videospiele am Diskurssystem digitalisierter Gesellschaften der Gegenwart partizipieren und spezifische Identifikationsangebote eröffnen.

 Genre

Schon in den bisherigen Abschnitten wurden in Bezug auf die Reichweite von Aussagen immer wieder Genrefragen relevant. Denn die Geschichte des digitalen Spiels hat eine beträchtliche Genrevielfalt hervorgebracht. Je nach Zählweise existieren mehr als 40 unterschiedliche Kategorien,12 wobei die Genre-Benennungen bereits die vielfältigen kulturellen Einflüsse des Computer- und Videospiels ausdrücken und sich auf die Visualisierungssituation (Third-Person-Shooter) oder den spielstrukturellen Rahmen (Echtzeit-Strategie) beziehen, auf bereits in anderen narrativen Medien existente Genres verweisen (Horror) oder auf nicht-virtuelle Spielvorlagen in der Realität referieren (Fußball). Gleichzeitig ist die Spielelandschaft – nicht zuletzt durch einen sehr aktiven Independent-Markt – zunehmend durch Genre-Hybridität und Beispiele geprägt, die sich vermeintlich jeder Klassifikation entziehen.

1.) Aufgrund der Hybridität des Genresystems des digitalen Spiels wiederholte sich in den Game Studies die Erkenntnis aus der Beschäftigung mit anderen Medien, dass Genres weniger als fixe Textklassen, sondern vielmehr als heuristische Kategorien zu verstehen sind. Bei Spielzeichen wurde vor diesem Hintergrund diskutiert, inwiefern die einzelnen Komponenten digitaler Spiele in eine Taxonomie zu bringen sind und handlungstheoretische Systematisierungen vor primär narrativ orientierten Genresystemen der Vorzug zu geben wäre. Gleichzeitig wurde jedoch auch immer wieder herausgestellt, dass gerade vor dem Hintergrund konventioneller Genreschemata eine Möglichkeit besteht, Differenzlogiken und Spezifika digitaler Spiele zu fokussieren. Es wurde gezeigt, wie Erzähltraditionen des Westerns oder der Dystopie in digitalen Spielen aufgenommen werden, dabei jedoch gänzlich neue Funktionen erfüllen, zum Beispiel, wenn Games als Archiv des kollektiven Bildgedächtnisses eines Genres fungieren und diese Bezüge primär spielmechanisch funktionalisieren, oder wenn narrative Referenzen auf dystopische Textsorten zu spielerischen Utopien der Selbstermächtigung transformieren.

2.) Ob nun primär narrativ oder ludisch orientierte Genresysteme: Es zeigte sich, dass ihr Mehrwert weniger in ihrer konkreten Klassifikationsleistung liegt, sondern bei den ihnen inhärenten Mustern und Stereotypisierungen, die den Blick auf Verhältnisse von Schema und Variation, Strategien der Selbstreferenzialität und -reflexivität sowie die Einbettung digitaler Spiele in mediale und diskursive Systeme lenken. Dabei wurde insgesamt immer wieder deutlich, dass Genrebezüge auch in der gegenwärtigen Forschungslandschaft eine analytische Schärfung leisten können, zum Beispiel, weil sich aus ihnen Nuancen der narrativen Figurendarstellung ableiten lassen, oder sich Selbstreflexionen im Spielemarkt häufig auf der Grundlage von hypertextuellen Verweisen auf konventionalisierte Spiel- und Genremuster ergeben.

 Fazit

Abschließend erscheint uns eine Historisierung der Spielforschung, wie sie auch diese PAIDIA-Sonderausgabe anstrebt, als wichtige Aufgabe für die Zukunft der Game Studies. Zeichen, Raum, Kultur oder Genre wurden vor zehn Jahren innerhalb der Game Studies noch anders und mit anderem Fokus diskutiert als aktuell. Während es anfangs noch eher um eine Identifikation allgemeiner Spezifika digitaler Spiele ging, wird sich heute zusehends von pauschalisierten Aussagen über das digitale Spiel gelöst und die variablen Sinnangebote und kulturellen Funktionen der verschiedenen medialen Formen digitaler Spiele rücken in das Zentrum des Untersuchungsinteresses. Angesichts der parallelen Beobachtung, dass sich die Game Studies nur an den wenigsten Universitäten – sieht man von Game Design ab – als eigenständiges Fach etablieren konnten, aber mittlerweile einen zentralen Bestandteil diverser medien- und kulturwissenschaftlicher Angebote bilden, ist die historische Reflexion (inter‑)disziplinärer Grundlagen, Entwicklungen und Debatten der Game Studies eine zentrale Form der Identitätsstiftung über alle Teile einer lebendigen und stetig wachsenden Forschungsgemeinschaft hinweg.

Medienverzeichnis

Literatur

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Backe, Hans-Joachim (2008): Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Beil, Benjamin (2012): Avatarbilder. Zur Bildlichkeit des zeitgenössischen Computerspiels. Bielefeld: transcript.

Beil, Benjamin/Freyermuth, Gundolf S./Schmidt, Hanns Christian (Hg.) (2019): Playing Utopia. Futures in Digital Games. Bielefeld: transcript.

Foucault, Michel (2006): Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 317–327.

Gorsolke, Stefan (2009): Interaktivität in narrativen Medien. Das Spiel von Selbst- und Fremdreferenz. Marburg: tectum.

Görgen, Arno/Simond, Stefan Heinrich (Hg.) (2020): Krankheit im digitalen Spiel. Theorien, Themen, Analysen. Bielefeld: transcript.

Hennig, Martin (2017): Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels. Marburg: Schüren.

Hennig, Martin/Krah, Hans (Hg.) (2016): Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch.

Hennig, Martin/Krah, Hans (Hg.) (2018): Spielzeichen II – Raumspiele/Spielräume. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch.

Hennig, Martin/Krah, Hans (Hg.) (2020): Spielzeichen III – Kulturen im Computerspiel/Kulturen des Computerspiels. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch.

Hennig, Martin/Kreknin, Innokentij (2016): Subjekttheorie und Game Studies: Ein Überblick. In: Hennig, Martin/Kreknin, Innokentij (Hg.): Das ludische Selbst. PAIDIA Sonderausgabe. URL: http://www.paidia.de/?page_id=8048 [30.08.2021].

Hennig, Martin/Schellong, Marcel (Hg.) (2020): Überwachung und Kontrolle im Computerspiel. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch.

Lotman, Jurij M. (1993): Die Struktur literarischer Texte. München: Fink.

Matuszkiewicz, Kai (2019): Zwischen Interaktion und Narration.
Die Heldenreise in digitalen Spielen als Handlungs- und Erzählstruktur
. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch.

Thon, Jan-Noël (2016): Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture. University of Nebraska Press.

Unterhuber, Tobias (2016): ‚If only I could turn back time‘. Coming of Age, Nostalgie und die Macht der Medien in Life Is Strange. In: Redaktion PAIDIA (Hrsg.): ‚I’ll remember this…. Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch, S. 335–353.

Wolf, Mark J.P. (2001): The Medium of the Video Game. University of Texas Press.

 Titelbild

Chardin, Jean-Baptiste-Simeon: A Game of Billiards. xa. 1721-1725.

 

  1. „Spielzeichen – Theorien, Analysen, Praktiken des zeitgenössischen Computerspiels“ vom 5. bis 6. Dezember 2014, „Spielzeichen II – Raumspiele / Spielräume“ vom 9. bis 11. Dezember 2016, „Spielzeichen III: Kulturen im Computerspiel – Kulturen des Computerspiels“ vom 6. bis 8. Dezember 2018, „Spielzeichen IV – Genres“ (coronabedingt von Dezember auf März verschoben, dennoch dann online) vom 18. bis 20.3.2021. Die Ergebnisse dokumentieren sich in den entsprechenden Tagungsbänden, vgl. Hennig/Krah 2016; 2018; 2020. Dort sind auch die im Folgenden genannten Beispiele und Perspektiven im Detail zu finden. Hervorgegangen ist die Spielzeichen-Reihe aus einer Aktivität des Instituts für interdisziplinäre Medienforschung (IFIM) der Universität Passau, das bis 2014 existierte und dessen letzter Sprecher Hans Krah war. Die Idee zur ersten Tagung rührte daher, dass sich das IFIM fakultätsübergreifend dem weiten Feld der Medien gewidmet und sich dabei insbesondere Gedanken zu Themen gemacht hat, die quer zu Disziplinen liegen und die ohne interdisziplinären Diskurs nicht sinnvoll durchdrungen werden können. Damit verbunden sollte es bei der Förderung gerade auch um den des wissenschaftlichen Nachwuchses gehen. Dementsprechend waren und sind die Spielzeichen-Tagungen von vornherein interdisziplinär konzipiert und auf Nachwuchswissenschaftler*innen ausgerichtet, zunächst finanziert durch das IFIM, dann durch Förderung der Universität Passau.[]
  2. Vgl. Gorsolke 2009; Hennig 2017. []
  3. Vgl. Beil 2012. []
  4. Vgl. Thon 2016. []
  5. Einen Überblick über die aktuelle perspektivische Breite der Game Studies geben etwa Sachs-Hombach/Thon 2015. []
  6. Vgl. für erste Forschungsansätze in diese Richtung Hennig 2017. []
  7. Vgl. Lotman 1993, S. 311–329.[]
  8. Michel Foucaults Modell der Heterotopie geht davon aus, dass jede Kultur ‚Gegenorte‘ ausformt, die sich auf der Basis der in ihnen geltenden Regeln und Ordnungen von der übrigen Gesellschaft unterscheiden. Vgl. Foucault 2006. []
  9. Hierzu ist nach wie vor empfehlenswert Backe 2008.[]
  10. Zur Relevanz und den Lücken der Subjektforschung in den Game Studies vgl. Hennig/Kreknin 2016; Adelmann/Winkler 2015.[]
  11. Vgl. exemplarisch Görgen/Simond 2020; Hennig/Schellong 2020; Beil/Freyermuth/Schmidt 2019; Matuszkiewicz 2019; Unterhuber 2016 und generell die PAIDIA-Sonderausgaben. []
  12. Vgl. Wolf 2001. []

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Krah, HansHennig, Martin: "Spielzeichen – eine Bilanz". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 15.10.2021, https://paidia.de/spielzeichen-eine-bilanz/. [20.04.2024 - 09:53]

Autor*innen:

Hans Krah

Prof. Dr. Hans Krah ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u. a. in der Narratologie, der Erforschung von medialen Raum- und Wirklichkeitskonstruktionen sowie der populären Vermittlung von ‚Wissen‘.

Martin Hennig

Dr. Martin Hennig ist Medienkulturwissenschaftler. 2016 promovierte er mit der Arbeit Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels (Marburg: Schüren 2017). In den letzten Jahren arbeitete er als Postdoc am DFG-Graduiertenkolleg 1681/2 „Privatheit und Digitalisierung“ und vertrat 2019–2020 den Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft (Schwerpunkt: Digitale Kulturen) an der Universität Passau. Aktuell ist er Postdoc am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen: Digitale Kulturen, Game Studies, Narratologie, transmediales und serielles Erzählen, mediale Entwürfe von Gender und kultureller Identität, Raum- und Subjekttheorie.