Der erste Gegner in Shadow of the Colossus

Das Dromenon des digitalen Spiels. Zur Simulation von Tätigkeit und Selbsttätigkeitserfahrungen

15. Februar 2022

“The game experience is [...] halfway between living life and watching a movie.”1 (Marie-Laure Ryan, Avatars of Story)

Shadow of the Colossus und die virtuellen Erfahrungsräume des Computerspiels

In einem Review zum 2005 erschienenen Shadow of the Colossus verweist der Wiener HCI-Forscher Peter Purgathofer gleich zu Beginn auf eine Rede von Steven Spielberg, die er 2004 zur Einweihung des EA Video Game Development Labs an der University of Southern California hielt.2 Über die narrativen Potenziale digitaler Spiele referierend, sagte Spielberg dort skeptisch: „I think the real indicator will be when somebody confesses that they cried at level 17“.3

Drei Jahre später, allerdings nicht in Level 17,4 sondern bereits nach dem ersten Gegner bzw. Level findet sich bei Purgathofer der für Spielberg narratologisch entscheidende emotionale Effekt realisiert. Purgathofer schreibt: „I wasn’t prepared for this: I cried after I killed my first giant in Shadow of the Colossus“.5

Zweifellos gilt Shadow of the Colossus unter Kritikern als Ausnahmespiel, das insbesondere hinsichtlich der atmosphärischen und narrativen Kontextualisierung seiner spielerischen Handlungsherausforderungen zu überzeugen vermag.6 Und so tritt hier auch wie Purgathofer deutlich macht, eine besondere Erlebens- und Erfahrungsqualität zu Tage, die sich klar der narrativen Gestaltung des Bildschirmgeschehens und der in ihnen verankerten Interaktionspotenziale verdankt.

Purgathofer spricht von ‚I‘, ‚giant‘ und von ‚kill‘. Zum einen also von seiner Spieler-Figur als Repräsentanz im Virtuellen, deren Handlungsrolle er übernimmt sowie von einer weiteren konkretisierten Figur (vgl. Abb. 1.), die eben nicht nur eine gegnerische Partei oder ein Hindernis im Spielgeschehen darstellt, sondern zugleich auch ein quasi-autonomes Wesen einer Spielwelt, dem sich der Spieler vermittelt über seine Spieler-Figur gegenüber sieht. Zum anderen bezeichnet ‚kill‘, also der im Spiel simulierte Tötungsakt hier keinen regelgeleiteten Spielzug, den der Spieler auf seinem Spielgerät vollzieht, sondern eine symbolisch repräsentierte Handlung in der fiktionalen Welt des Spiels.

Obgleich also der Spieler an einem Eingabegerät vor dem Bildschirm sitzt, auf dem sich die Spielherausforderungen mitteilen, verwirklicht sich vermittelt über seine Spieler-Figur und dem fiktionalen Darstellungsgeschehen auf dem Bildschirm eine simulierte Erfahrung einer Selbsttätigkeit. Eine Tätigkeit freilich, die zum vom Spiel vorgegebenen Handlungsspektrum einer Spieler-Figur gehört und folglich sowie auch notwendig limitiert ist.

Der erste Gegner in Shadow of the Colossus

Abbildung 1: Der erste Gegner in Shadow of the Colossus

Der Spieler schlüpft gleichsam in die Handlungsrolle der Spieler-Figur, die er performativ ausfüllt. Erst diese ermöglicht es ihm, im Virtuellen zu agieren, mit Objekten zu interagieren und wie etwa in Shadow of the Colossus feindliche Kolosse zu bekämpfen und die Reaktionen der Spielwelt auf die eigene virtuelle Präsenz zu erleben. Und hierin liegt zweifelsohne auch das affektiv-gratifikatorische Potenzial des Computerspiels. Ein Potenzial, das wie Purgathofer deutlich macht, freilich auch emotional-wirksame Effekte provozieren kann.

Diese Form des Unterhaltungserlebens im Computerspiel ist allerdings keineswegs nur auf einige wenige Vertreter beschränkt. Im Gegenteil, markiert sie doch ein wesentliches Moment der aus dem Zusammenspiel ludischer und narrativer Formen resultierenden Erfahrungsqualität der simulierten Tätigkeiten innerhalb der verschiedenen Spielwelten. In welcher Prägnanz sich die affektiven Gratifikationen beim einzelnen Spieler dabei äußern, ist zunächst nebensächlich. Diese unterscheiden sich ohnehin je nach Qualität des konkreten Spielangebots sowie Disposition und Erfahrung des Spielers. Die Qualität und Prägnanz emotionaler Effekte eines Computerspiels mögen zwar als Gütekriterien für die ludische und narrative Gestaltung eines Computerspiels gelten. Ein einzelner Effekt weist aber noch lange nicht auf ein allgemeines narratives Potenzial hin.

Auch in konventionellen Sport- und Brettspielen haben das Gewinnen oder Verlieren für die Spieler emotionale Qualitäten. Jesper Juul hat zu Recht in diesem Zusammenhang schon vor Jahren wiederholt angemerkt, dass ein emotionaler Effekt etwa durch eine identifikatorische Anteilnahme am Schicksal einer filmischen Figur etwas völlig anderes ist, als ein durch eine Enttäuschung über ein verlorenes Spiel bewirkter.7 Spielbergs Credo greift daher zu kurz und verfehlt Funktion und Effekt des ‚Narrativen‘ im Computerspiel. Denn die emotiven Reize und deren Wirkungen im Computerspiel lassen sich eben nicht einfach mit Rezeptionsmodalitäten aus dem Umgang mit anderen narrativen Angeboten, etwa mit denen filmischer Erzählungen, vergleichen – denn darauf scheint Spielbergs Aussage indirekt abzuzielen. Die rezeptive Beschäftigung mit dem Computerspiel ist gänzlich anders beschaffen. Sie verdankt sich einer immersiv-performativen Einbeziehung des Spielers als Handlungsträger in das Bildschirmgeschehen, die folglich eine eigene Qualität emotionaler Wirkungen beispielsweise von Furcht, Verzweiflung und Ergriffenheit usw. entfaltet.8 Die narrative Gestaltung ludischer Formen etwa des Spielfelds, der Spieler-Figuren, Spielgeräte und -mittel sowie der Spielziele und herausgeforderten Spielhandlungen provoziert verschiedenste rezeptive – und freilich auch strukturelle – Effekte.9 Computerspiele sind Hybridkonstruktionen, in denen sich ludische und narrative Formen derart verschalten, dass gleichsam „interaktive Lebensweltsimulatoren“10 entstehen, in denen Spieler vermittelt über Spieler-Figuren tätigkeits- und alltagsbezogene Erfahrungen – gerade auch in ‚phantastischen‘ Sekundärwelten – machen können. Und genau hierin liegt, wie auch Purgathofer in seinem Resümee deutlich macht, das spezifische simulative Potenzial des Computerspiels:

I was deeply moved by Shadow of the Colossus. I can’t think of any game that has left such an impression on me. Most interestingly, it wasn’t so much the story that impressed me; it was the interaction design and the game mechanics. In this respect, Shadow of the Colossus can be seen as a showcase for the real strength of digital games as storytelling art form: it’s not so much about the story the player gets told, it’s about the way the player acts in the game world.11

Dieser Form des Agierens in virtuellen Spielwelten liegt eine Verschaltung von Spiel- und Erzählformen bzw. von ludisch-performativen und narrativ-darstellenden Formen zugrunde. Denn die dem Computerspiel zugrunde­liegenden regelgeleiteten bzw. auch regelunabhängigen Spielhandlungen12 verwirklichen sich im Computerspiel eben nicht primär als solche, sondern vielmehr als symbolisch repräsentierte und diegetisch wirksame Tätigkeiten.

Für die Frage nach Struktur und Funktion von Erzählformen im Computerspiel scheint es in dieser Hinsicht dann weniger relevant, ob und wie erzählt wird bzw. welche narrativen Topoi, Stoffe und Motive im jeweiligen Computerspiel Verwendung finden. Gangbarer scheint es stattdessen, den Fokus auf die charakteristische Beziehungskonstellation zwischen Spieler und Spielfeld bzw. narrativierter Spielwelt im Computerspiel zu richten, die zweifellos das charakteristische Unterhaltungserleben im Computerspiel ausmacht. Die folgenden Überlegungen orientieren sich daher zunächst an der dispositiven Anordnung von Handlungsträger und Darstellungshandlung im Computerspiel, verfolgen diese vor dem Hintergrund ihrer ludisch-narrativen Hybridstruktur, um so abschließend das spezifische Handlungs- und Erfahrungsmoment des Computerspiels herauszuarbeiten.

Beziehungskonstellation und Narrativierungsstrategien

Das simulierte Agieren in den virtuellen und narrativierten Spielwelten heutiger Computerspiele unterscheidet das Computerspiel von anderen nicht-elektronischen Spielen manifest. Dabei sind die wesentlichen Handlungsdimensionen der ludischen Beziehungskonstellation von Computerspielen und konventionellen Sport-, Gesellschafts- und Brettspielen funktionsäquivalent: im Computerspiel geht es ebenso wie in anderen Dispositiven des Spiels darum, als Spieler auf einem Spielfeld regeldeterminierte Spielhandlungen zu vollziehen, um ein wie auch immer geartetes Spielziel zu erreichen.

Nur im Computerspiel verwirklicht sich das Spielfeld allerdings als ein dem Spieler physikalisch entrücktes, virtualisiertes Spielfeld.13 Denn das Spielfeld findet sich im Computerspiel anders als in nicht-elektronischen Spielen nicht in Griffnähe, sondern vom Spieler getrennt. Der Spieler agiert zwar in einem „physikalisch-phänomenologischen Hier und Jetzt“14, das Spielgeschehen selbst findet jedoch vermittelt durch das Ausgabegerät in einem virtuellen „Dort und Dann“15 statt. Im Unterschied zu Spielfeldern in Brettspielen, die durch Strategien narrativer Konkretisierung ebenfalls fiktionale Welten und folglich auch eine Form des ‚Dort und Dann‘ etablieren können, werden diese im Computerspiel jedoch rechnergestützt prozessiert: Eingabeverhalten des Spielers werden mit den dargestellten Bildschirmhandlungen derart aufeinander bezogen und synchronisiert, dass die Spielhandlungen innerhalb einer virtualisierten Welt des Spiels vollzogen werden. Denn die computertechnologische Basis ermöglicht nicht nur die Umsetzung komplexer Regelwerke, sondern die Darstellung szenisch konkretisierter Spielfelder und die Berechnung physikalischer Eigenschaften und Reaktionen virtueller Objekte ebenso wie die künstlicher Intelligenzen von Nicht-Spieler-Figuren sowie die Simulation menschlicher Mimik, Gestik und Proxemik. Anders ausgedrückt: die computertechnologische Basis ist die Voraussetzung für die Simulation von Spielwelten. Und sie ist es auch, die es dem Computerspiel gestattet, audiovisuelle Formen traditioneller medialer Spiele und Erzählungen im Spielgeschehen zu implementieren, zu funktionalisieren und so die Spielherausforderungen und Spielhandlungen auf immer überzeugendere Weise zu rahmen und alltagsnah zu plausibilisieren. Und so lässt sich, ohne hier die computertechnologische Grundlage digitaler Spiele zu sehr in den Vordergrund zu stellen, mit Gonzalo Frasca festhalten, dass „[f]or the first time in history, humanity has found in the computer the natural medium for modeling reality and fiction.“16

Da Computerspiele die für ludische Handlungszusammenhänge konstitutiven Spielfelder somit nicht als abstrakte Parcours, Arenen oder Positionensysteme, sondern als narrativ-fiktionalisierte Welten mit den entsprechenden Handlungspotenzialen verwirklichen – etwa als ‚namenlose Welt‘ in Shadow of the Colossus oder als ‚Vice City‘, ‚Los Santos‘ oder ‚Liberty City‘ der Grand Theft Auto Serie –, treten auch die Regelhaftigkeit und somit die ludischen Funktionsmerkmale des Computerspiels zunehmend in den Hintergrund. Die Handlungsherausforderungen und -sequenzen teilen sich dem Spieler nicht als regelgeleitete Spielzüge, Spielziele, Spielfelder und Spielmittel mit, sondern vielmehr als normengeleitete, empathisch nachvollziehbare und alltagskompatible Verhaltensaufforderungen und -sequenzen: Spielziele finden sich narrativ-codiert, Spielherausforderungen normativiert und die Handlungspotenziale der fiktionalen Objekte und Figuren lassen sich aus den Fiktionskonventionen und somit aus der narrativen Logik der jeweiligen Spielwelt ableiten.17

In Shadow of the Colossus verhält es sich nicht anders. Dem Spieler stehen vermittelt über seine Spieler-Figur verschiedene Hilfsmittel und Objekte zur Verfügung, deren symbolisch-figurative Darstellung bereits auf bekannte Verwendungsweisen und Funktionen verweisen. Die Spieler-Figur kann für die Fortbewegung innerhalb der Spielwelt auf ein Pferd zurückgreifen und für die erforderlichen Kämpfe auf Bogen und Schwert. Dass man auf dem virtuellen Pferd reiten, oder mit dem Bogen entfernte Ziele treffen und das Schwert im Nahkampf einsetzen kann, ist intuitiv verständlich. Die Handlungspotenziale aller drei Objekte bedürfen keiner Vermittlung und sie fügen sich überdies nahtlos in die Fiktionskonventionen der Spielwelt ein. Auch das Spielziel bedarf keiner aufwändigen Vermittlungsinstanz: um ein totes Mädchen wieder zum Leben zu erwecken, muss der Spieler mit seiner Figur 16 Kolosse besiegen. Die narrative Kontextualisierung dieser Spielherausforderung fungiert dabei nicht nur komplexitätsreduzierend, sondern motiviert wie legitimiert sie zugleich auf eine sinnfällige Weise. Obgleich die Abfolge der Missionen in ihrer ludischen Struktur zwar einer additiv-kumulativen Leveldramaturgie entspricht, entfaltet sie sich für den Spieler auch als normativ codierte Erzähldramaturgie, die der Abfolge der Spielhandlungen eine zweckhafte Ordnung verleiht. Die spielerische Auflösung der Handlungsnotwendigkeiten weicht somit einer narrativen. Nicht mehr das Gewinnen durch Lösung oder Beherrschen von Spielzügen, sondern das Ende der Geschichte wird dann zum Handlungsziel und folglich auch zum Movens der Handlungsherausforderung.18

Freilich finden sich in fast allen Computerspielen auch Handlungsnotwendigkeiten, die außerhalb der diegetischen Spielwelt stattfinden – etwa die Konfiguration des Menüs, Anwahl von Speicherpunkten usw. Ferner verwirklichen auch Formen des virtuellen Todes und ‚restarts‘ ebenso wie Statusanzeigen, Geo-Karten, Objekthervorhebungen u.ä. Brüche in der fiktionalen Phänomenologie des Spiels. Man kann jedoch beobachten, dass in fast allen Genres des Computerspiels verstärkt Anstrengungen unternommen werden, die ludischen Funktionsmerkmale der virtuellen Tätigkeiten und Spielwelten narrativ zu maskieren und zu plausibilisieren, um so die diegetische und ästhetische Kontinuität so weit wie möglich zu wahren.19 Zweifellos prägen und begünstigen derartige Narrativierungsstrategien die Qualität tätigkeitsbezogener Handlungen von Spielern innerhalb der Spielwelten. Denn sie helfen dem Spieler, „[to] suspend disbelief and facilitate immersion into the game“20. Narrativierungsstrategien sorgen für die simulative Stimmigkeit und Balance des Handlungsgeschehens im Computerspiel und verwirklichen so plausible und affektiv-wirksame Handlungszusammenhänge. Die narrative Kohärenzbildung lässt die ludischen Funktionalitäten bzw. die Regelkonstituiertheit der Handlungsvollzüge immer weiter in den Hintergrund treten, so dass die virtualisierten Tätigkeiten weniger als regelgeleitete Spielzüge in narrativierten Settings, sondern zunehmend als lebensweltlich nachvollziehbare Handlungen innerhalb digitaler Lebenssimulationen erscheinen. Ganz gleich, ob es sich dabei um phantastisch-fremdartige oder realitätsnahe Simulationsumgebungen handelt.

Der diegetische Spieler-Akt und das Dromenon

Die medienästhetische Innovation im Computerspiel besteht also vor allem darin, die Steuerungsaktivität des Spielers in der dispositiven Anordnung von Spieler-Spielgerät-Ausgabegerät mit der symbolisch-repräsentierten innerhalb der diegetischen Spielwelt zu verschalten. Alexander R. Galloway hat in diesem Zusammenhang den Aktionstypus des „diegetic operator act“21 angeführt, eine in der fiktionalisierten Spieldiegese vom Spieler funktionalisierte und gleichermaßen dargestellte Handlung, für dessen Verständnis er auf Huizingas Konzept des Dromenon, das Kultspiel,22 verweist.

Galloway unterscheidet zunächst vier wesentliche Handlungsmomente im Computerspiel, die zwei quer zueinander verlaufenden Unterscheidungslogi­ken folgen. Dabei differenziert er zunächst zwischen „operator actions“ und „machine actions“:

[M]achine actions are acts performed by the software and hardware of the game computer, while operator actions are acts performed by players. So, winning Metroid Prime is the operator’s act, but losing it is the machine’s. Locating a power-up in Super Mario Bros. is an operator act, but the power-up actually boosting the player character’s health is a machine act.23

Diese Unterscheidung ist für Galloway grundlegend, da er gewissermaßen das Wesen aller Handlungsmodalitäten im Computerspiel zu erfassen sucht. Für die Beziehungskonstellation von Spieler und Spielfeld ist sie aber vernachlässigbar. Galloway geht es darum, Computerspiele als maschinenbasierte Code- und Software-Systeme zu beschreiben. Diese technologische Basis kommt im Spiel-erleben aber nicht zur Geltung, da sie von den medialen Darstellungsformen maskiert wird. Sie spielt für den Konstruktionsprozess des Medienangebots somit keine Rolle. Argumentativ reiht sich Galloway damit, wie er auch selbst deutlich macht, in eine technikorientierte Perspektivierung von Medien, wie sie auch die Kittler-Schule hierzulande vertreten hat.

Die zweite Unterscheidung Galloways ist für die hier angeführten Überlegungen wesentlich anschlussfähiger. Auf die ludologischen Referenztheorien von Caillois und Huizinga verweisend, in denen der durch Spielhandlungen konstituierte Spielraum eine zentrale Eigenschaft des Spiels markiert, indem dieser nicht nur eine klare Außen-Innen-Grenze aufweist, sondern ferner einer eigenen Zeit- und Raumlogik folgt,24 unterscheidet Galloway zwischen Handlungen im diegetischen Raum sowie Handlungen im non-diegetischen Raum. Während letztere Aktivitäten des Spielers bezeichnen, die der Spielwelt äußerlich sind, etwa die Konfiguration von Menüs und Einstellungen, finden erstere innerhalb des symbolischen Bildraums selbst statt:

This is the moment of direct operator action inside the imaginary world of gameplay […]. Diegetic operator acts are diegetic because they take play within the world of gameplay; they are operator acts because they are perpetrated by the game player rather than the game software or any outside force.25

Damit ist zugleich etwas angesprochen, was auch in den gängigen Spieltheorien von Caillois und Huizinga als wesentliche Konstituenten des Spiels angeführt wird und was auf das Verhältnis von ludischem Handlungsagent und dem diegetischen Raum ludischer Vollzüge zielt: der spielerische Akt bzw. das Spielen selbst und die Darstellung von etwas im Spiel.26 Für Huizinga findet sich diese Beziehungskonstellation vor allem in der rituellen Handlung prototypisch verwirklicht:

Die heilige Handlung ist ein Dromenon, d.h. etwas, was getan wird. Was dargestellt wird, ist ein Drama, d.h. eine Handlung, gleichviel, ob die Handlung in der Form einer Aufführung oder eines Wettkampfes vor sich geht. Sie stellt ein kosmisches Geschehen dar, aber nicht bloß als Repräsentation, sondern als Identifikation; sie wiederholt das Geschehene. Der Kult bringt die Wirkung zustande, die in der Handlung bildhaft vorgeführt wird. Seine Funktion ist nicht bloß ein Nachahmen, sondern ein Anteilgeben oder Teilnehmen. Es ist ein „helping the action out“.27

Bei der Darstellung geht es Huizinga um die figurative Repräsentation einer Handlung. Im Dromenon ist es aber der Handlungsvollzug selbst bzw. der spielerische Akt, der die Wirkung zustande bringt und so gleichermaßen das Wesen der jeweiligen Performanz ausstellt, die in der dargestellten Handlung vorgeführt wird. Für die agierenden Teilnehmer verwirklichen sich somit Erfahrungsräume, in denen die vollzogenen Handlungen als echte und authentisch-gelebte wirksam werden.

Nicht anders lässt sich auch das charakteristische Handlungsmoment im Computerspiel beschreiben: durch das Spiel des Spielers realisiert sich zunächst die Darstellung von Handlungen auf einem Bildschirm. Diese Handlungen sind aber nicht nur Repräsentationen von Handlungen. Insofern diese von einem Spieler performativ vollzogen werden, erscheinen sie für den Spieler als reale und authentisch-erfahrene Handlungsgeschehen. Im Zusammenspiel der vollzogenen Handlungen und ihrer Darstellung manifestiert sich dabei gewissermaßen ein zur Anschauung gebrachter performativer Kern der simulierten Tätigkeit.28

Unter dem Begriff der ikonischen Resonanz hat auch Jochen Venus dieses Verhältnis von performativem Vollzug und medialer Darstellung modelliert. Ihr Zusammenwirken ist die Grundlage für die Simulation spezifischer Tätigkeiten:

Die ikonische Resonanz zwischen der Tätigkeit des Spielenden und dem virtuellen Geschehen bringt Aspekte der inneren Befindlichkeit der Performanz, die Gegenstand der Simulation ist, zur Anschauung.29

Insofern im Computerspiel das Spielgeschehen also doppelt gegeben ist, „einerseits als empirische Performanz der Spielenden, andererseits als audiovisuell dargestelltes Verhalten virtueller Objekte30, finden Spielhandlungen sowohl in einer real-physischen Anordnung von Spieler-Spielgerät-Ausgabegerät, wie auch als symbolisch-repräsentierte von Spieler-Figur-in-Welt innerhalb des diegetischen Bildraums statt. Diese beiden Handlungszusammenhänge fallen im Computerspiel zusammen, sodass das, was im Computerspiel an Handlungen dargestellt wird, im simulierten Vollzug dieser Handlungen selbst erfahren wird. Das was Computerspiele also anbieten, sind vor allem auch Selbsttätigkeitserfahrungen. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich Computerspiele dann auch als digitale Lebens- und Wirklichkeitssimulationen31 begreifen, in denen Spieler durch die Selbsttätigkeit simulierte Lebens- und Handlungserfahrungen machen können.

Die simulierten Selbsttätigkeits- und Lebenserfahrungen finden freilich zwischen verschiedenen Vertretern wie auch innerhalb einzelner Spiele in unterschiedlichen Qualitäten und Komplexitäten statt: die Selbsttätigkeit virtuellen Schießens ist beispielsweise in einem Ego-Shooter gänzlich anders beschaffen, als etwa in der Grand Theft Auto-Serie, wo der Spieler nur eine Taste betätigen muss, um eine gegnerische Figur ins Visier zu nehmen und diese dann mit einer weiteren Tastenbetätigung virtuell zu erschießen. Die Schnelligkeits-Präzisionsanforderungen des Ego-Shooters werden in Grand Theft Auto schlicht nicht herausgefordert. Für die Selbsttätigkeitserfahrungen in Grand Theft Auto hat dies allerdings einen wesentlichen Effekt, wie Jochen Venus in seiner Analyse der Killerspieldebatte herausgearbeitet hat. Denn dadurch wird

die Aufmerksamkeitsanforderung drastisch herabgesetzt und die Rezeptionskapazitäten werden frei für eine ‚entspanntere‘ Wahrnehmung der Details der virtuellen Welt. Morphologisch resoniert diese Schieß- und Kampfsimulation intensiv mit den weiteren Simulakra, die in dem Spiel realisiert sind: Laufen, Klettern, Fahren, Fliegen, Tauchen etc. Hat man das Gameplay von GTA San Andreas gelernt, genießt man in der virtuellen Welt des Staates San Andreas eine unerhörte Leichtigkeit des Seins. Im Verein mit der Comicästhethik und den Codes des Gangster-Hip-Hop, die in GTA San Andreas kombiniert werden, stellt sich das Spiel als eindrucksvolle, ästhetisch hochverdichtete Utopie einer lässig-souveränen Beherrschung des eigenen Aktionsradius dar.32

Die Darstellung einer Utopie einer ‚lässig-souveränen Beherrschung des eigenen Aktionsradius‘ markiert in den Vertretern der Grand Theft Auto-Serie sicher ein wesentliches Moment der Selbsttätigkeitserfahrung, da dem Spieler verhältnismäßig freie Bewegungen und verschiedenste Tätigkeiten in den dortigen Spielwelten mit Hilfe unterschiedlichster virtueller Fortbewegungsmittel, Waffen usw. gestattet wird.33 Gegenwärtig gestatten aber immer mehr Spiele derartige Freiheiten hinsichtlich tätigkeitsbezogener Handlungen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang vor allem aber, dass der gratifikatorische Reiz dieser virtuellen Tätigkeiten sich der Ausübung der Tätigkeit selbst und somit einem reflexiven Moment verdankt. Und dies gilt gewissermaßen auch für Spiele, in denen die Handlungsnotwendigkeiten stärker regelgebunden bzw. in ihrer Abfolge strikter vorgegeben sind und so zugleich auch in ihrem Freiheitsgrad limitierter erscheinen. Zumindest solange die Handlungsnotwendigkeiten innerhalb der diegetischen Spielwelt angesiedelt bleiben und die performative Herausforderung nicht primär auf das real-physikalische Eingabeverhalten des Spielers auf dem Eingabegerät verlagert wird.34 Selbsttätigkeitserfahrungen verdanken sich Selbstbeobachtungsprozessen, die wiederum für das Spiel konstitutiv sind.

Selbstbeobachtungen und Selbsttätigkeitserfahrungen 2. Ordnung

Allen diegetischen Spielhandlungen und somit auch ihren gratifikatorischen Momenten zugrunde, liegen metakognitive Steuerungs- und Bewertungsprozesse des eigenen Handelns im Spiel. Diese umfassen dabei weit mehr als die typischen Formen wie etwa ‚willing suspension of disbelief‘ o.ä., die durch die narrative Gestaltung heutiger Computerspiele provoziert werden können. Spieler betreiben durchgehend aktive Selbststeuerung, die im Dispositiv des Computerspiels vom Spiel selbst instantiiert wird.

Computerspiele simulieren Lebens- und Tätigkeitserfahrungen, sie entsprechen aber keineswegs dem realen Leben. Die ludisch-performative Basis bleibt trotz aller Strategien der simulativen Kohärenzbildung stets erhalten. Jesper Juul aber auch Espen Aarseth haben gerade deswegen mehrfach darauf hingewiesen, dass die Spielerfahrung generell etwas faktisches, lebensnahes sei, denn „in games, just as in life, the outcomes (winning, losing) are real and personal to the experiencer“35.

Gewinnen oder Verlieren sind jedoch Modi der Spielhandlung und nicht der Alltagshandlung. Handlungsziele wie Gewinnen oder Verlieren tauchen außerhalb ludischer Kontexte nicht auf.36 Und so verwirklichen sich diese ludischen ‚outcomes‘ vor allem in denjenigen Computerspielen, in denen Momente des Spiels, also Spielmechanik und Regeln im Vordergrund stehen und somit das performative Vermögen des Spielers das wesentliche Moment des Spielgeschehens markiert, mit der dann die spielerische Herausforderung gewonnen, beherrscht oder gelöst werden kann. In Computerspielen, in denen Spielmechanik und Regelhaftigkeit narrativ kontextualisiert erscheinen und vielmehr auch die simulative Stimmigkeit der Spielwelt im Vordergrund steht, ist ein Verlieren und Gewinnen vor allem an die virtuellen Tätigkeiten gekoppelt, die ein Spieler vermittelt über seine Spieler-Figur ausführen kann: das Erfüllen von Missionen, das Sammeln von wichtigen Gegenständen, das Vermeiden von Gefahren etc.37 Verlieren oder Gewinnen teilen sich dem Spieler somit nicht direkt mit, sondern stets über Vermittlungsinstanzen.38

Ganz gleich allerdings, ob die ‚outcomes‘ spielerischer Handlungen unmittelbar oder vermittelt erfahren werden, da die Spielhandlungen immer physikalisch entrückt auf einem virtualisierten Spielfeld stattfinden:

game action operates on symbols, within a designed environment, whereas real-life action operates on material objects within a world thrown together for no obvious purpose.39

Die Interaktivität des Computerspiels bringt dessen Handlungen zwar näher an Realwelt-Tätigkeiten, die Virtualisierung des Spielfelds und die symbolisierte Darstellung der Handlungen führt allerdings zu einer Mittelbarkeit und folglich zu einer Distanz zwischen Spieler und Spielgeschehen, ähnlich wie es auch in Mediendispositiven der Erzählung der Fall ist.40 Man kann daher sagen, dass der Doppelcharakter des Computerspiels eine Beziehungskonstellation zwischen Spieler und Spielwelt etabliert, die gewissermaßen zwei Handlungskräfte zusammenführt: die des dynamisch-performativen und vor allem faktual stattfindenden Spielvollzugs sowie die der narrativ-kontextualisierten und fiktionalen Darstellungshandlung. Diese Doppelgestalt ist wie oben bereits angesprochen notwendige Bedingung für die Simulation von Tätigkeits- und Lebenserfahrungen:

[T]he player’s actions makes events happen, rather than describing them. But if the player’s input counts in the game-world as the performance of actions, these actions are replayed on the screen through constative acts of the system. […] Without this possibility of watching an image of the game-world, players would have no idea of the consequences of their actions, and they would not be able to play the game intelligently. This means that players are not only agents but also spectators of their own pretended actions [Hervorhebung J.S.]41

Hierin besteht auch der Reiz der simulierten Tätigkeits- und Lebenserfahrungen im Computerspiel, die eben nicht der realweltlichen Tätigkeits- und Lebenserfahrungen entspringt, sondern sich durch ihre Reflexivität auszeichnen. Denn ebenso wie im Dromenon, entfalten die Handlungen des Spielers erst dann ihre gratifikatorische Wirkung, wenn sie in ihrer Darstellung zugleich wahrgenommen werden.

Die Selbstbeobachtung der eigenen Tätigkeit im Computerspiel ist bereits in der ludischen Struktur selbst angelegt. Denn insofern sich Spiele vor allem durch Handlungsvollzüge auszeichnen, deren ludische Valenz sich vornehmlich performativer Qualitäten verdankt, gehört auch die Bewertung der Spielhandlung zur Operation des Spielens. Spiele müssen gespielt werden und nach Maßgabe der bekannten Spielstruktur evaluiert werden, etwa nach Regelkonformität oder Performanzkriterien.42 Diese Bewertung kann vom Spieler selbst übernommen werden, aber auch von anderen Spielinstanzen: z.B. in nicht-elektronischen Spielen von Mitspielern oder Schiedsrichtern oder wie im Computerspiel vom Computer selbst.43

Die aktive Selbststeuerung und -beobachtung ist also auch im Computerspiel konstitutiv. Zumindest so lange, wie die ludische Beziehungskonstellation aufrechterhalten wird. In nicht interaktiven narrativen Sequenzen etwa, beispielsweise während Cutscenes, wird der Spieler aus seiner performativen Tätigkeit herausgeworfen und stattdessen zum Zuschauer der Darstellungshandlung. Und in der Tat kann man sagen, dass sich hier auch die rezeptive Bezugnahme ändert, diese also eher einer erzählerisch-identifikatorischen Rezeption entspricht, die sich durch die interpretativ zu vollziehende Rekonstruktion eines wie auch immer gearteten Plots und einen identifikatorisch zu vollziehenden Nachvollzug der Handlungsmotive eines Figureninventars auszeichnen.44 Hier greifen dann vielmehr Prozesse einer ‚willing suspension of disbelief‘, die Selbstbeobachtung ausschließen. Denn anders als im Spiel, kennt die Erzählung kein ‚Außen‘ der fiktionalen Welt, d.h. die Grenze zwischen Erzählwelt und Nicht-Erzählwelt ist für das Funktionieren von Erzählungen notwendig; es handelt sich somit um eine unbedingte Grenze. Im Spiel hingegen handelt es bei der Grenze zwischen Spiel und Nicht-Spiel um eine bedingte Grenze, die von den Spielregeln oder auch Regelungsinstanzen wie Schiedsrichtern bestimmt wird. Somit ist im Spiel das ‚Außen‘ des Spiels immer auch gegenwärtig und provoziert so gleichsam weitere Selbstbeobachtungsprozesse im Spiel.45

Für die Selbsttätigkeiten im Computerspiel gilt dies freilich auch. Denn die Narrativierung hebt die Innen-Außen-Grenze des Spiels nicht auf, obgleich die diegetischen Spielhandlungen durch ihre narrative Konkretisierung nicht mehr als regelgeleitete und faktuale Performanzen erscheinen. Sie verändern allerdings die Bewertungskriterien der Selbstbeobachtung, die durch die szenische Konkretisierung hier nicht nur auf Regelwissen und Performanzkriterien basieren. Zwar lassen sich auch die diegetischen Spielhandlungen unter ihrer Regelkonformität – im Sinne von: das und das muss getan werden, um das Handlungsziel zu erreichen und somit die Aufgabe zu lösen – oder performativen Qualitäten evaluieren. Aber wie bereits angesprochen, liegt gerade in der Möglichkeit des Computerspiels, regel- bzw. spielzielunabhängige und lebensweltnahe Spielhandlungen zu ermöglichen bzw. diese also solche erscheinen zu lassen, die besondere simulative Stärke: beispielsweise in der Exploration von Räumen und Szenerien und im Ausprobieren von Funktionen virtueller Objekte wie Fahrzeuge, Waffen etc. – in Shadow of the Colossus lassen sich etwa zu jeder Zeit im Spiel alle Orte der fiktionalen Welt besuchen und verschiedene spielrelevante Objekte sammeln; in Grand Theft Auto können Spieler verschiedenste Fahrzeuge ausprobieren und dabei radiohörend durch das simulierte New York Liberty City’s oder andere Städte fahren, Geld ausgeben, Sport treiben und allerlei Waffen zum Einsatz bringen, ohne dass dies für den weiteren Spielverlauf einen signifikanten Effekt hätte. In beiden Beispielen besteht ein wesentliches Handlungsziel in der Exploration selbst, mit der zugleich auch handlungsspezifische Notwendigkeiten vermittelt werden können und somit auch diese Form der Handlung ludische Funktionalität gewinnt: etwa indem durch explorative Handlungen ein Wissenszuwachs über die Funktionalitäten virtueller Objekte oder die Logik der Spielwelt erreicht werden kann, was gleichsam zur Reduktion von Unsicherheiten führt. Was sich mit diesen Spielhandlungen dann einstellt, ist gewissermaßen ein ludisch-wirksamer ‚Aha-Effekt‘, der sich vor allem der Befriedigung menschlicher Neugier verdankt, für die Selbsttätigkeitserfahrung aber grundlegend ist.46

Diese Form des ‚freien‘ und explorativen Handelns verweist dabei auf ein Moment des Spiels, das Caillois paidia genannt hat, das regelungebundene, imaginative, kindliche Spiel, das den Gegenpol zum ludus-Spiel, dem Regelspiel, bildet.47 Für Marie-Laure Ryan ermöglicht gerade die technologische Basis des Computerspiels die Kombination von ludus und paidia innerhalb desselben Spielsettings – eine Kombination, die Caillois noch für unmöglich hielt.48 Das imaginative Moment des paidia-Spiels wird im Computerspiel freilich nicht derart herausgefordert, wie im kindlichen Als-Ob Spiel, das u.a. auch Caillois im Blick hatte. Die fiktionalen Welten des Computerspiels bleiben in ihrer abstrahierenden Darstellung jedoch stets unvollständig. Und diese Unvollständigkeit überlässt dem Spieler wiederum eine Reihe von Möglichkeiten der Imagination. Fehlende Informationen müssen und können somit vom Spieler mental ergänzt werden – auf Basis eines Erfahrungswissens aus der Real-Welt sowie auf Basis eines Wissens über Genre- und Fiktions-Konventionen.49 Fiktionale Welten sind daher immer auch imaginierte Welten.

Und auch der Akt des freien Spiels weist Bewertungs- und Selbstbeobachtungprozesse auf. Die Selbstbeobachtung des freien paidia-Spiels richtet sich hier insbesondere aber auf den Handlungsvollzug bzw. die Tätigkeit selbst. Anders als im Regelspiel, in dem die Handlungen durch alle wesentlichen Handlungsdimensionen determiniert werden: Spielfelder begrenzen, limitieren und ermöglichen Spielzüge; Spielziele setzen spezifische Spielzüge voraus; Spielmittel – etwa spezielle Kräfte oder Werkzeuge – generieren neue Spielmöglichkeiten und -notwendigkeiten; und die Funktion der Spieler als Handlungsagenten bzw. deren Handlungsrollen werden von Spielregeln vorgeschrieben. Im konventionellen Regelspiel sehen explizierte Regeln die Funktionalitäten aller Handlungsdimensionen vor.

Im paidia-Spiel hingegen gibt es keine expliziten Regeln. Somit sind auch Handlungsrollen, Spielmittel, Spielfelder, Spielzüge und Spielziele nicht vorgegeben. Einzig und allein, dass gespielt bzw. eine spielerische Tätigkeit ausgeführt wird, macht diese Form des Spiels aus. Die Handlungsnotwendigkeiten bzw. -herausforderungen und somit auch eine gewisser Form der Regelhaftigkeit ergeben sich aus der imaginierten Spielwelt bzw. aus den Funktionspotenzialen der Spielmittel selbst.50

Da also die unspezifische und frei gewählte Tätigkeit im paidia-Spiel selbst zum Zentrum der Selbstbeobachtung wird, sind es nicht primär performative Qualitäten, die in den Vordergrund rücken. Der Selbstzweck lenkt den Reiz vielmehr auf die Wirkungen der eigenen Handlungen, ganz gleich ob faktischer oder imaginativer Natur. Im Computerspiel realisieren diese rückgekoppelten Tätigkeiten dabei einen Erlebenszustand, der insbesondere aus der fortlaufenden Wahrnehmung eigener direkt-kausaler Einflussnahmen entspringt. Die direkte oder indirekte Steuerung und Kontrolle virtueller Objekte provoziert gleichsam ein „Selbstwirksamkeitserleben“.51

Die Feedbackschleifen des Computerspiels gestatten somit dann auch die Selbstbeobachtung, in wie fern ausgeführte Tätigkeiten eigentlich beherrscht werden oder nicht. Dieser Fokus der Selbstbeobachtung verlangt freilich einen mehrfach wiederholten Vollzug einer Handlung oder Handlungssequenz. Denn erst im Vergleich zu vorangegangenen Handlungen lässt sich ihre Qualität überhaupt erst bestimmen. Die Handlungsanforderungen schwinden zunehmend und so steht nicht mehr das Einüben einer Tätigkeit im Vordergrund, sondern die Demonstration ihrer souveränen Beherrschung. Und erst die souveräne Beherrschung einer virtuellen Tätigkeit gestattet dem Spieler, diese im narrativen Kontext der Spielwelt und seinen Handlungserfordernissen zu reflektieren.52

Damit sind gleichsam zwei wesentliche Qualitätsmomente der Selbsttätigkeitserfahrung im Computerspiel angesprochen:

Ersteres ergibt sich aus dem Gleichgewicht zwischen Anforderung und Fähigkeit des Handlungsvollzugs, der so zu einer Form eines ‚Aufgehens in einer Tätigkeit‘ führen kann. In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang vom Erlebenszustand des Flow53, der sich aus eben diesem ausgewogenen Verhältnis von Anforderung und Fähigkeit ergibt, so dass keine Unter- oder Überforderung entsteht.54 Unter Rückgriff auf Csikszentmihalyi ist das Flow-Konzept gerade in den game studies in den letzten Jahren immer wieder aufgegriffen worden, um den affektiven Reiz spielerischer Herausforderungen zu beschreiben.55

Es ist aber erst die szenische und narrative Einbettung der Tätigkeit, die aus dieser eine Simulation einer Tätigkeit macht.56 Denn ganz gleich wie vielschichtig und komplex virtuelle Tätigkeiten im Computerspiel gestaltet sind: im Vergleich zu ihrer außermedialen Referenz bleiben sie notwendig limitiert und abstrahiert. In der Simulation spezifischer performanzbasierter Aspekte der jeweils dargestellten Tätigkeit werden diese allerdings zugleich zur Anschauung gebracht und somit um ein wesentliches reflexives Moment erweitert. Selbsttätigkeiten im Computerspiel sind somit immer auch Selbsttätigkeiten 2. Ordnung und die simulierten Erfahrungen somit auch Selbsttätigkeitserfahrungen 2. Ordnung. Dieses reflexive Moment ermöglicht dem Spieler überhaupt erst, neben den performanzbasierten Aspekten der ausgestellten Tätigkeit durch die narrative Rahmung auch die Konsequenzen des eigenen virtuellen Handelns zu erfahren. Das Computerspiel verwirklicht somit auch moralische und normative Momente der tätigkeitsbezogenen Handlungen und bringt diese so ebenfalls zur Anschauung.

Selbsttätigkeitserfahrung und Shadow of the Colossus

Das zu Beginn angeführte Beispiel aus Purgathofers Review zu Shadow of the Colossus mag die vorangegangenen Überlegungen exemplarisch und abschließend konkretisieren. Denn die dort angesprochene emotionale Qualität der simulierten Erfahrung des Tötens eines gegnerischen Kolosses in Shadow of the Colossus verdankt sich klar einer reflektierten Selbsttätigkeitserfahrung: so kann man zunächst sagen, dass sich in der Beziehungskonstellation von Spieler und Spielwelt beim ersten Anblick des gegnerischen Koloss und in den ersten Minuten des zunächst kräfteverhältnismäßig ungleich erscheinenden David-gegen-Goliath Kampfs eine simulierte Erfahrung eigener Unzulänglichkeit mitteilt, die mit dem Besiegen des Kolosses letztlich überwunden wird und sich so gewissermaßen ein Gefühl von subjektiver Souveränität einstellt. Die eigentliche Schwierigkeit im Kampf gegen die Kolosse besteht allerdings darin, diese zu erklimmen, sich also am Fell der Kolosse festzuklammern, und an Knochenfortsätzen und Rüstungsteilen an den angreifbaren Punkt zu kommen, in den man sein Schwert dann stoßen kann. Während des ‚Tötungsaktes‘ selbst, scheinen die Kolosse hingegen wehrlos, so dass dieser performativ gesehen die Herausforderungsqualität während der Handlungsabfolgen auf Seiten des Spielers nicht steigert – was in konventionellen Kampfdramaturgien mit Levelstruktur57 ein gängiges Prinzip darstellt. So verliert das durch die vorangegangenen Geschicklichkeitsanforderungen zunächst gewonnene Gefühl der Souveränität an Qualität, stattdessen wird die Aufmerksamkeitsanforderung herabgesetzt und dem Spieler bleibt Zeit, seine Handlungen gleichsam zu reflektieren. Und so mischen sich die eher performanzbasierten Erfahrungsqualitäten mit stärker normativ-codierten Gefühlen von Unrecht, die Christian Stöcker treffend verbildlicht hat:

Wenn man sich lang genug im Fell eines der Riesen festgeklammert hat, um ihm schließlich die Klinge wieder und wieder in die Schädeldecke zu rammen, schämt man sich fast – weil man eine bei aller Gewaltigkeit in diesem Moment wehrlose Kreatur tötet. Eine Kreatur, der man sich, wenn man sie erst erklommen hat, auf ihrem Rücken durch die Luft oder durch tiefes Wasser geritten ist, verbunden fühlt. Es ist, als ob man ein Pferd zuerst zuritte und ihm dann, in dem Moment, in dem es sich fügt, ein Messer in den Nacken triebe.58

Ganz gleich wie sich nun die konkrete Tätigkeitserfahrung in Shadow of the Colossus auch noch beschreiben ließe, so wird doch deutlich, dass sie zwischen ihren ludisch-performativen und narrativ-normativen Anteilen changiert und sich hieraus erst Qualität und Prägnanz der spezifischen Selbsttätigkeitserfahrungen ergeben. Der Wechsel zwischen ludischen und narrativen Momenten ist konstitutiv für das Spiel und zugleich Bedingung für die Selbsttätigkeitserfahrungen. Mehr aber noch. Erst mit und in diesem stetigen Wechsel ist Selbstbeobachtung überhaupt erst möglich, die aus der Selbsttätigkeitserfahrung eine Selbsttätigkeitserfahrung 2. Ordnung macht.

Medienverzeichnis

Spiele

Rockstar North: Grand Theft Auto IV. USA: Rockstar Games 2008

Sucker Punch Productions: Infamous. USA: Sony Computer Entertainment 2009

Team ICO: Shadow of the Colossus. Japan: Sony Computer Entertainment 2005

Texte

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Aarseth, Espen: Genre Trouble. Narrativism and the Art of Simulation. In: Wardrip-Fruin, Noah/Harrigan, Pat (Hg.): First Person. New Media as Story, Performance, and Game, 2004, Cambridge MA/London: MIT Press 2004, S. 45-55.

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Karl Bühler: Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. Über Gedanken. Leipzig: W. Engelmann 1907.

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Venus, Jochen: Teamspirit. Zur Morphologie der Gruppenfigur. In: Venus, Jochen/Leschke, Rainer: Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne, Bielefeld: transcript 2007, S. 299-327.

Venus, Jochen: Du sollst nicht töten spielen: Medienmorphologische Anmerkungen zur Killerspiel-Debatte. In: Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Mediennutzung – Medienwirkung – Medienregulierung, Jg. 37, Nr. 146 (2007), S. 67-90.

  1. Ryan: Avatars of Story. 2006, S. 190.[]
  2. Vgl. Purgathofer: Emotion and Story. 2007. https://www.researchgate.net/publication/353294963_emotion_and_story_in_shadow_of_the_colossus [17.07.2021].[]
  3. Breznican: Spielberg, zit. in: Purgathofer: Emotion and Story.[]
  4. In Shadow of the Colossus finden sich im Übrigen nur 16 ‚Bossfights‛ und somit gewissermaßen nur 16 Level.[]
  5. Purgathofer: Emotion and Story. 2007. https://www.researchgate.net/publication/353294963_emotion_and_story_in_shadow_of_the_colossus [17.07.2021].[]
  6. Siehe z.B. Stöcker: Ein stilles Meisterwerk. http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,402686,00.html [12.07.2021].[]
  7. Vgl. z.B. Juul: Half-Real. 2005, S. 160ff. und Juul: Sehr Emotional. 2008: Juul geht es vor allen Dingen um das Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität und somit um das zwischen Erzählung und Spiel: „Videospiele berühren uns sehr stark, nur auf andere Weise, als das bei Filmen der Fall ist. Denn hier spielt [..] die Beziehung von Wirklichkeit und Fiktion hinein. Wenn du dich darüber freust, dass du eine besonders schwere Mission in einem Rollenspiel geschafft hast, freust du dich über dein reales Können, deine wirkliche Leistung und nicht über die Taten eines fiktiven Charakters. Wenn dich wiederum die fiktiven Feinde in einem Computerspiel angreifen, fühlst du dich ganz real bedroht, denn du könntest das Spiel verlieren. Das betrifft dich ganz persönlich“ (Juul: Sehr Emotional. 2008, S. 62). []
  8. Zu den psychologischen und emotiven Implikationen narrativer Formen im Computerspiel vgl. auch Sorg: Gemischtes Doppel. 2009.[]
  9. Auf die ornamentalen, normativen und ludischen Funktionen narrativer Formen im Computerspiel bin ich an anderer Stelle bereits eingegangen. Vgl. z.B. Sorg/Eichhorn: Playwatch. 2005 und Sorg: Gemischtes Doppel. 2009.[]
  10. Klimmt: Computerspielen als Handlung. 2004, S. 99.[]
  11. Purgathofer: Emotion and Story. 2007. https://www.researchgate.net/publication/353294963_emotion_and_story_in_shadow_of_the_colossus [17.07.2021].[]
  12. Die Spiel- und Regelhaftigkeit des Computerspiels wird insbesondere in den ludologischen Perspektivierungen des Computerspiels immer wieder in den Vordergrund gestellt. Die narrativen Formen und Elemente werden unter diesem Gesichtspunkt dem Spiel subsumiert. Vgl. z.B. Aarseth: Computer Game Studies. 2001, Aarseth: Genre Trouble. 2004, Eskelinen: The Gaming Situation. 2001, Juul: Half-Real. 2005. Von einem medienmorphologischen Standpunkt aus, geht es allerdings nicht darum, das Computerspiel als Spiel oder Erzählung zu modellieren, sondern das Zusammenspiel narrativer und ludischer Formen hinsichtlich ihrer Funktions- und Hybridisierungslogiken zu beschreiben. Vgl. auch Heidbrink/Sorg: Dazwischen. 2009.[]
  13. Zur Virtualisierung des Spielfeldes vgl. Venus: Du sollst nicht töten spielen. 2007.[]
  14. Ebd., S.72.[]
  15. Ebd.[]
  16. Frasca: Simulation versus Narrative. 2003, S. 233. []
  17. Autos lassen sich fahren, mit Waffen lässt sich schießen, hinter Objekten kann man Schutz suchen und hinter mancher Tür verbirgt sich das nötige Werkzeug und Hilfsmittel, um eine entscheidende Herausforderung zu meistern. Die Fiktionskonventionen müssen sich dabei keineswegs an realweltlichen Erscheinungs- und Verhaltensformen orientieren. Dass zum einen manche Spieler-Figuren Superkräfte besitzen, virtuelle Kugeln ihnen nichts anzuhaben scheinen oder Super Mario drei Leben besitzt und zum anderen ‚medipacks‘ und ‚Munitionspakete‘ in einem Gewölbelabyrinth an jeder Ecke auftauchen mag zwar zu diegetischen Inkohärenzen und Brüchen führen, ist in der Rezeption aber kein Problem. []
  18. „Eine prominente Schlussfigur bildet die finale cutscene, die das klassische game over ersetzt. Im Verbund mit der expositorischen Introsequenz und den anderen cutscenes als narrative Brücken bilden sie somit eine klassische narrativ-orientierte Dreiteilung von Einführung-Überleitung-Schluss. Mit dieser narrativen Struktur wird gewissermaßen auch das „Nach-dem-Spiel-ist-vor-dem-Spiel“-Prinzip konventioneller Spielzusammenhänge überwunden“ (Sorg: Gemischtes Doppel. 2009, S. 95).[]
  19. Ludische Agonalitäten werden etwa als normativ-codierte Gut-Böse Konflikte verhandelt. Die Wiederherstellung bzw. die Optimierung der Handlungspotenziale der Spieler-Figur durch abstrakte power ups oder health packs wird über diegetisch plausibilisierte Objekte realisiert: in Shadow of the Colossus etwa, kann der Spieler mit seiner Spieler-Figur (Wanda) virtuelle Früchte von einem Baum schießen oder spezielle Eidechsenschwänze sammeln und aufnehmen. Das Speichern des Spielstandes wird in Shadow of the Colossus ferner dadurch vollzogen, indem die Spieler-Figur sich vor die in der virtuellen Spielwelt verteilten Tempel kniet und ‚betet‘. Zur narrativen Plausibilisierung des game over vgl. Sorg: Gemischtes Doppel. 2009, S. 96 und auch den Beitrag von Rolf Nohr in diesem Band.[]
  20. Smith: Player Character Concepts. 1999. http://www.gamasutra.com/view/feature/3391/player_character_concepts.php [12.07.2021].[]
  21. Galloway: Gaming. 2006, S. 22. []
  22. Dromenon bezeichnet im griechischen die rituelle Handlung und verweist zugleich auf ihren Ereignischarakter als echt-gelebtes und performativ-ausgefülltes Handlungsgeschehen.[]
  23. Ebd., S.5.[]
  24. Vgl. etwa Huizinga: „In der Sphäre eines Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung. […] Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also [..] eine freie Handlung nennen, die […] sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht […] [Herv. i. O.; JS]“ (Huizinga: Homo Ludens. 1987, S. 21f.).[]
  25. Ebd., S. 22.[]
  26. Huizingas zentrale Spieldefinition lautet: „Das Spiel ist ein Kampf um etwas oder eine Darstellung von etwas. Diese beiden Funktionen können sich auch vereinigen, in der Weise, daß das Spiel einen Kampf um etwas „darstellt“ oder aber ein Wettstreit darum ist, wer etwas am besten darstellen kann“ (Ebd., S. 22). Für Huizinga sind Spiele Regelspiele und so stellt er insbesondere auch die Agonalität bzw. die Kompetition als Grundprinzip des Spiels und somit den Kampf um etwas als wesentliche Merkmale in den Vordergrund. []
  27. Ebd., S. 23. []
  28. Für Jochen Venus ermöglichen Computerspiele das erste Mal in der Mediengeschichte die direkte Darstellung von „Attitüden, d.h. die Darstellung unterschiedlicher Anmutungsformen performativer Vollzüge für die agierende Person. […] Im empirisch-virtuellen Doppel des Computerspielers findet das empirisch-transzendentale Doppel des menschlichen Subjekts [..] seine mediale Darstellungsform“ (Venus: Du sollst nicht töten spielen. 2007, S. 88). []
  29. Ebd., S. 89.[]
  30. Ebd., S. 72.[]
  31. Vgl. auch Klimmt: Computerspielen als Handlung. 2004.[]
  32. Venus: Du sollst nicht töten spielen. 2007, S. 88.[]
  33. Aus diesem Grund spricht man in diesem Zusammenhang auch von ‚sandbox games‘, die zu großen Teilen Regel bzw. Spielziel unabhängige Handlungen erlauben. Mit Blick auf Caillois’ Konzept des paidia-Spiels werde ich im nächsten Kapitel detaillierter auf diese Form des freien Spiels im Computerspiel zu sprechen kommen.[]
  34. Während einiger ‚Bossfight‘-Sequenzen InFamous etwa, muss der Spieler auf seinem Eingabegerät innerhalb kürzester Zeit bestimmte Tastenkombinationen betätigen, die auf dem Bildschirm aufleuchten. Diese haben mit der eigentlichen Steuerung der Spieler-Figur im Spiel dabei nichts zu tun. Erst bei erfolgreicher Betätigung allerdings, kann der Spieler im Spielverlauf fortschreiten. Die Handlungsherausforderung wird hier vom diegetischen Raum der Spielwelt in den real-physikalischen von Spieler-Eingabegerät-Bildschirm verlagert: sie besteht zeitweise schlicht im Knöpfe-drücken und nicht in der auf dem Bildschirm dargestellten virtuellen Tätigkeit. Ähnliche Beispiele finden sich zuhauf, vor allem in den frühen Vertretern der Sportgenres aber auch in aktuellen Spielen der Wii-Konsole. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das von Galloway beschriebene Handlungsmoment der ‚non-diegetic gaming action‘, wie sie vor allem in rundenbasierten Strategiespielen auftauchen und in denen „the act of configuration itself is the very site of gameplay“ (Galloway: Gaming. 2006, S. 13). []
  35. Aarseth: Quest Games as Post-Narrative Discourse. 2004, S. 366.[]
  36. Freilich lassen sich Alltagshandlungen auch unter einer ludischen Perspektive bewerten, so dass auch hier von Gewinnen oder Verlieren gesprochen werden kann. Hier handelt es sich allerdings um eine metaphorische Verwendung dieser Begriffe, denn „[i]n real life […] the outcome of actions is evaluated in terms of practical goals. You do not win or lose the game of life […]; you succeed or fail at concrete attempts to satisfy your desires“ (Ryan: Avatars of Story. 2006, S. 189).[]
  37. Vgl. ebd., S. 189f.[]
  38. Ohnehin alterniert das Computerspiel aber zwischen verschiedenen Momenten bzw. Polen seiner narrativ-ludischen Hybridstruktur. Mal dominieren narrative Momente wie etwa in Cutscenes oder in-Game-Sequenzen, mal spielerische, wenn etwa Geschicklichkeitsanforderungen in besonderem Maße gefordert sind. Das Computerspiel gestattet somit unterschiedliche Handlungs- und Rezeptionsmodi.[]
  39. Ryan: Avatars of Story. 2006, S. 190.[]
  40. „While narrative involves constative acts, the quests of games as well as the quests of life belong to the order of the performative“ (ebd.).[]
  41. Ebd.[]
  42. Vgl. hierzu auch Venus: Masken der Semiose. 2010; Sorg: Enter the Games of Death. 2007, S. 345ff. []
  43. Vgl. hierzu Galloway’s Handlungsmoment der ‚diegetic machine action‘ (Galloway: Gaming. 2006.).[]
  44. Durch derartige Cutscenes werden dem Spieler etwa in Shadow of the Colossus aber überhaupt erst die Handlungsmotive seiner Spieler-Figur sowie der Plot der Rahmenerzählung vermittelt, die die Spielhandlungen so zugleich auch zweckhaft ordnen.[]
  45. Zum Verhältnis zwischen Innen-Außen bzw. zwischen Fiktivem und Faktischem im Spiel und in der Erzählung vgl. Venus: Teamspirit. 2007, S. 305.[]
  46. Das Aha-Erlebnis ist in der Psychologie schon früh beschrieben worden, u.a. 1907 von Karl Bühler: Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. 1907. []
  47. Mit ‚Paidia‘ bezeichnet Caillois im Gegensatz zum Regel-Spiel (‚Ludus‘) das kindliche, freie Spiel, in dem die Handlungen keinen spezifischen Regeln oder Handlungserfordernissen folgen, noch ein Spielziel feststeht, an dem man das Gewinnen oder Verlieren eines Spiels bemessen könnte (vgl. Caillois: Die Spiele und die Menschen). Paidia-Spiele sind somit „more open-ended“ (Frasca: Simulation versus Narrative. 2003, S. 230) als die regelbezogenen Vertreter, in denen die Spielziele klar feststehen.[]
  48. Vgl. Ryan: Avatars of Story. 2006, S. 198: „It is perhaps the major contribution of the computer to human entertainment to have allowed a combination of ludus and paidia within the same game environment […].“[]
  49. In Spielwelten, die sich beispielsweise an Fantasy-Genrekonventionen anlehnen, wird der Spieler mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen können, dass die Spieler- und Nicht-Spieler-Figuren magische Kräfte besitzen, ohne dass es dafür ein entsprechendes Realwelt-Erfahrungswissen bedürfte.[]
  50. Im Computerspiel ist das freie Spiel freilich durch die vom Computer vorgeschriebenen Verhaltensmodalitäten der virtuellen Objekte und Figuren freilich begrenzt. Die technologische Basis des Computerspiels ermöglicht aber zugleich die Rückkopplung der eigenen Tätigkeit über Feedbackschleifen. Das kann im besten Fall dazu führen, eine Form des Eigenlebens in der virtuellen Welt zu vermitteln, die das Selbsttätigkeitserleben im Virtuellen wirksam erhöht.[]
  51. Klimmt: Computerspielen als Handlung. 2004, S. 79.[]
  52. Vgl. auch den Beitrag von Mathias Mertens in diesem Band. Für Mertens ermöglichen Computerspiele mit den reflexiven Momenten der angebotenen Tätigkeiten auch die Wahrnehmung der kognitiven Karten der eigenen Akkulturation.[]
  53. Mit Blick auf die Erfahrung im Spiel vgl. Csikszentmihalyi: Flow. 1990, S. 72ff.[]
  54. Aus diesem Verhältnis ergibt sich eine Dynamik, die Flow-Tätigkeiten ständig komplexer werden lässt, da sich Anforderung und Fähigkeit gegenseitig selbstverstärken: „In our studies, we found that every flow activity, whether it involved competition, chance, or any other dimension of experience, had this in common: It provided a sense of discovery, a creative feeling of transporting the person into new reality. It pushed the person to higher levels of performance, and led to previously undreamed-of states of consciousness“ (ebd., S. 74). []
  55. Vgl. z.B. Juul: Half-Real. 2005, S. 112ff.[]
  56. Vgl. hierzu auch Klimmt: Computerspielen als Handlung. 2004, S. 79ff. Zur ‚simulierten Lebenserfahrung‘ insbesondere S. 95.[]
  57. Etwa durch Bossfights.[]
  58. Stöcker: Ein stilles Meisterwerk. 2006. http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,402686,00.html [12.07.2021]. Auch Purgathofer erklärt sich die emotionale Qualität dieses Spieles dadurch, dass man als Spieler gezwungen ist, die scheinbar ‚hilflosen und unschuldigen‘ Kolosse ‚töten‘ zu müssen: „With every giant, the same pattern repeated: what seemed like an honourable fight against a fierce and dangerous enemy turned into a brutal and sad murder of a helpless creature“ (Purgathofer: Emotion and Story. 2007. https://www.researchgate.net/publication/353294963_emotion_and_story_in_shadow_of_the_colossus [17.07.2021].) []

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Sorg, Jürgen: "Das Dromenon des digitalen Spiels. Zur Simulation von Tätigkeit und Selbsttätigkeitserfahrungen". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 15.02.2022, https://paidia.de/das-dromenon-des-digitalen-spiels-zur-simulation-von-taetigkeit-und-selbsttaetigkeitserfahrungen/. [29.03.2024 - 00:18]

Autor*innen:

Jürgen Sorg

Mit seiner ersten E-Mail-Adresse 1996 fing seine Leidenschaft für Online Medien an: Internetkommunikation, soziale Netzwerke, MPOGs, Webvideo und Mobile. Das alles fasziniert ihn und insbesondere die Frage nach Art, Kontext und Zweck der Mediennutzung. Jürgen Sorg hat Medienwissenschaften an den Universitäten Siegen und Southampton studiert und im Forschungskolleg „Medienumbrüche“ der Universität Siegen zu Mediennarrationen und Medienspielen geforscht, gelehrt und Beiträge zur Medienmorphologie und Game Studies publiziert. Er arbeitet als Head of Learning bei der Continental. Daneben forscht er zu populären Medienformaten, Wissenstheorien und Medienhandlungsstrategien. www.juergen-s.org