Agency und Interaktivität - Zur Kompatibilität von zwei Handlungskonzepten in den Digital Game Studies
Einleitung
An der Schnittstelle zwischen Soziologie und Philosophie herrscht seit Längerem eine rege Diskussion darüber, wie sich das Verhältnis von Einzelnem und Gesellschaft, von Individuum und Kollektiv, von Handeln und Struktur ausgestaltet. Anthony Giddens versucht mit seiner ‚Strukturationstheorie‘ diesen dichotomischen Denkmustern zu entkommen und plädiert stattdessen für eine ‚Dualität der Struktur‘, 1 worunter er das Zusammenspiel zwischen Handeln und Struktur versteht. Nicht ganz zu Unrecht ist Giddens vorgehalten worden, dass seine Synthese von strukturalistischen und handlungstheoretischen Ansätzen etwas ‚unfertig‘ sei, obwohl er ihr selbst den vielsagenden Untertitel Grundzüge einer Theorie der Strukturierung gab.
Dennoch kann Giddens Werk als ein bedeutender Ansatz angesehen werden, der den Weg für nachfolgende Arbeiten ebnet, die ebenfalls an der Schnittstelle zwischen Handeln und Struktur angesiedelt sind. Dies gilt auch für jene Debatten, die sich um die Konzepte der Agency und Interaktivität im Allgemeinen sowie mit Blick auf digitale Spiele im Besonderen ergeben haben. Dabei ist häufiger der Wunsch zu beobachten, nur eines der beiden handlungstheoretischen Konzepte zu verwenden, das andere dementsprechend zu verabschieden. Mit Bezug auf Giddens Konstitution der Gesellschaft lässt sich jedoch ein ‚dritter Weg‘ einschlagen – eine Zusammenführung beider Konzepte.
Diesen Pfad möchte auch der vorliegende Artikel wählen und einen Versuch der Zusammenführung unternehmen. Um dies zu leisten, ist es unerlässlich, skizzenhaft die wissenschaftlichen Diskurse um die Konzepte der Agency und der Interaktivität zu umreißen, um die Grundlage für eine Operationalisierung zu schaffen. Neben den Digital Game Studies werden dabei vor allem Konzepte der (Medien-)Soziologie und Kommunikationswissenschaften hinzugezogen, da beide Konzepte einerseits hier am deutlichsten profiliert worden sind und andererseits eine hohe Adaptivität zu den Digital Game Studies vorherrscht. Im letzten Teil werden die theoretisch-methodischen Überlegungen zum einen zusammengebracht und zum anderen wird an einigen ausgewählten Beispielen angedeutet, wie eine derartige handlungstheoretische Analyse von Spielendenhandlungen in digitalen Spielen aussehen kann.
Ziel des vorliegenden Artikels ist es, zu betonen, dass Agency und Interaktivität sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr bedingen. Wer Handeln umfassend untersuchen, analysieren und verstehen will, der muss sowohl die Handlungskompetenzen des Individuums als auch die interaktiven Handlungen zwischen Akteuren innerhalb der Kollektive erfassen, in denen das Individuum situiert ist. Damit verbunden soll gezeigt werden, wie derartig ausgerichtete Forschungssettings in den Digital Game Studies konstruiert und eingesetzt werden können.
Interaktivität und Interaktion
Kaum ein anderes Konzept ist in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit digitalen Medien und Erscheinungen so oft kritisiert worden wie die Interaktivität und findet dennoch so ubiquitär Verwendung. Freilich muss man den kritischen Stimmen beipflichten, dass die Reichweite und Konzeption des Begriffes Interaktivität bis heute weitestgehend ungeklärt sind. 2 Dennoch ist es aber keineswegs der Fall, dass gar keine Konzeptualisierungsversuche vorliegen – im Gegenteil.
Vor allem jene Studien mit einem mediensoziologischen oder kommunikationswissenschaftlichen Zuschnitt haben in den vergangenen zwanzig Jahren maßgeblich zur Profilierung des Konzeptes beigetragen, indem sie zentrale Charakteristika von interaktiven Situationen hervorgehoben sowie einige bedeutende Differenzierungen vorgenommen haben, die zur heuristischen Schärfung des Instrumentariums beitrugen. So moniert Christoph Neuberger mit Blick auf die Verwendung des Interaktivitätskonzeptes (durch die eigentlichen ‚Befürworter‘):
Ausgeblendet wird dabei die Unterscheidung zwischen dem technischen Potenzial eines Mediums und seinem tatsächlichen Gebrauch, d.h. zwischen Interaktivität (=Potenzial) und Interaktion (=Prozess). 3
Er führt weiter aus:
‚Interaktivität‘ ist das Potenzial eines technischen Einzelmediums oder einer Kommunikationssituation, das interaktive Kommunikation begünstigt, also den Prozess der Interaktion“. 4
Dies bedeutet letztlich, wenn man Interaktivität als die Eigenschaft oder das Potenzial eines Mediums oder einer Kommunikationssituation begreift, dass diese über die Interaktion erst definiert wird. Für die Medien- und Kommunikationswissenschaften haben sich dabei (auch international) jene Arbeiten als wegweisend erwiesen, die 1995 in Rundfunk und Fernsehen erschienen sind. Dabei zeichnen sich gerade die beiden Artikel von Lutz Goertz und Michael Jäckel dadurch aus, dass sie die Erkenntnisse der soziologischen Interaktionsforschung äußerst konzise und präzise für medien- und kommunikationswissenschaftliche Forschungsinteressen handhabbar machen.
Nach Goertz ist eine Interaktion eine „Wechselbeziehung“, die „zwischen zwei oder mehreren Menschen“ abläuft. 5 Im Unterschied zu Positionen wie derjenigen Niklas Luhmanns geht Goertz aber davon aus, dass auch Kommunikationen zwischen Menschen „mittels einer Maschine“ Interaktionen sind. 6 Für Luhmann gilt jedoch:
Interaktion wird durch Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen, und das hat weitreichende Konsequenzen, die uns den Begriff der Massenmedien definieren. 7
Luhmanns Verständnis der Eigenschaften von Massenmedien bzw. von Massenkommunikation ist dabei sehr stark an dem ausgerichtet, was Gerhard Maletzke hierunter fasst – eine indirekte, technisch vermittelte, unidirektionale und öffentliche Kommunikation, die sich an ein disperses Publikum richtet. 8 Die ‚traditionellen‘ Massenmedien besitzen jedoch keine medieninternen Rückkopplungskanäle, welche eine (bidirektionale) Interaktion zwischen System und Nutzenden sowie zwischen Nutzenden via technischer Vermittlung erst ermöglichen. 9
‚Traditionellere‘ Forschungszweige kritisieren Interaktionsverständnisse der Mediensoziologie oder Medienwissenschaften, die ‚Neue Medien‘ als interaktiv betrachten, oft, da diese die Kommunikation unter Anwesenden unterlaufen bzw. gänzlich substituieren. 10 Die Anwesenheitskommunikation fungiert deshalb häufig, nicht zuletzt um sich diesem Vorwurf entgegenzustellen, als das „Ideal der interaktiven Medien“ im Interaktionsdesign. 11 Das „interaktivste“ Medium ist demnach jenes, das die „natürlichste Kommunikation“ ermöglicht. 12 Allerdings ist diese ‚Idealisierung‘ ambivalent zu betrachten. Denn die Kommunikation unter Anwesenden als gesellschaftlich dominante Interaktionsform lässt sich allenfalls in oralen Gesellschaften beobachten und auch hier kann man keinesfalls von einer ‚natürlichen‘ Interaktion sprechen, da jede soziale Interaktion, worauf Holger Braun-Thürmann aufmerksam macht, ‚künstlich‘ ist, weil sie ein menschlich-kulturelles Konstrukt darstellt. 13 Dementsprechend sind weder Interaktionen unter Anwesenden noch technisch vermittelte Interaktionen in ‚Neuen Medien‘ natürliche Interaktion, da jede Form von sozialem Interagieren einen als instinktiv konzipierten Zustand überformt und artifiziell ist.
Das bedeutet einerseits, dass Interaktivität und Interaktionen immer etwas Konstruiertes anhaftet und dass sich diese andererseits in vielen verschiedenen Formen und in vielen verschiedenen Kontexten und Situationen zeigen können bzw. müssen. Es gibt nicht die Interaktion und Interaktivität. Insofern ist nichts dagegen einzuwenden, diese Konzepte für die Analyse digitaler Medien in Anschlag zu bringen, wenn auch in modifizierter Art und Weise.
Das heutige Verständnis der ‚interaktiven Medien‘ enthält demnach sowohl das Interaktionskonzept der Soziologie (wechselseitig aufeinander bezogene menschliche Handlungen) als auch das der Informatik (Handlungen zwischen Mensch und Computer, die Handlungen zwischen Menschen ähneln). 14
Das heißt, dass Interaktionen zwischen Mensch und Maschine und zwischen Menschen via Maschine zwar Ähnlichkeitsbeziehungen zu Interaktionen im sozialen Raum aufweisen, mit diesen aber nicht gleichzusetzen sind. Die Vielgestaltigkeit und -fältigkeit von Interaktionen führt jedoch dazu, dass die Beschreibungen, Analysen und Konzeptionalisierungen dieser recht weit ausgreifen. Dies hält auch Michael Jäckel fest, ergänzt dabei aber Lutz Goertzʼ Ausführungen:
Das Grundmodell, an dem sich der soziologische Interaktionsbegriff orientiert, ist die Beziehung zwischen zwei oder mehr Personen, die sich in ihrem Verhalten aneinander orientieren und sich gegenseitig wahrnehmen können. 15
„[G]egenseitig wahrnehmen“ meint hier, die „wechselseitigen Orientierungen der Interaktionspartner“ aneinander, das Verfügen aller involvierten Parteien über einen gemeinsamen Wahrnehmungshorizont, der sich durch einen nahezu identischen Informiertheits- und Partizipationsgrad auszeichnet. 16 Dieser Wahrnehmungshorizont lässt sich aber nicht nur durch Anwesenheitskommunikation herstellen, sondern auch durch medieninterne Rückkopplungskanäle. Dies liegt letztlich am Verhältnis zwischen Interaktion und Kommunikation.
Wenn Interaktion stattfindet, findet immer auch Kommunikation statt. Kommunikation kann auch ohne Interaktion stattfinden. 17
Interaktionen lassen sich nur kommunikativ ausführen und solange die Gegebenheiten hierfür vorliegen, ob unter Anwesenden oder auf eine andere geartete Weise, dann kann eine interaktive Struktur entstehen.
Subsumierend kann man festhalten, dass Interaktionen wechselseitige, kommunikative Handlungen sind, die zwischen Interaktionsparteien mit potenziell gleichwertigen Wahrnehmungshorizonten ablaufen. Die Interaktivität ist das Potenzial einer Entität, interaktiv wirken zu können.
Abschied von der Interaktivität?
Seit Janet H. Murrays Vorschlag, den Agency-Begriff anstelle des Interaktivitätsbegriffes zur Analyse digitaler Spiele zu verwenden, gibt es in den Digital Game Studies immer wieder Bestrebungen, den Interaktivitätsbegriff durch den der Agency zu ersetzen. Murray beanstandet aber weniger das Phänomen Interaktivität an sich als vielmehr „the vague and pervasive use of the term interactivity“. 18 Mathias Mertens steht der Interaktivität digitaler Spiele ebenfalls skeptisch gegenüber und resümiert abschließend:
„Computerspiele sind nicht interaktiv. Sie bieten nur endlos emergierende Reaktionsmuster von Spieler und Programm.“ 19
Inwiefern sich diese „Reaktionsmuster“ aber von interaktiven Strukturen unterscheiden, bleibt leider offen, was auch daran liegen mag, dass Mertens nicht expliziert, was unter Interaktivität und Interaktion zu verstehen sei. Ein Anliegen seines Aufsatzes ist darin zu sehen, medienutopischen Positionen entgegenzutreten, die in den ‚Neuen Medien‘ die Befreiung des Rezipierenden aus der Unterdrückung durch den Produzierenden sehen und dabei nicht selten selbst über die Fallstricke des Medienenthusiasmus stolpern. So gesehen, scheint auch Mertensʼ Kritik an der Interaktivität eher auf dessen Verwendung abzuzielen als auf das Konzept selbst. Auf diesen Umstand zielt auch Lev Manovichs berühmte Kritik am Interaktivitätsbegriff ab, wenn er „the concept [as] to be too broad to be truely useful“ befindet. 20 Es scheint also weniger das Phänomen Interaktivität an sich problematisch zu sein als dessen Konzeptualisierungen und Verwendungen.
Und tatsächlich muss man konstatieren, dass Interaktivität und Interaktion in Industrie wie Wissenschaft zu Modewörtern geworden sind, die nicht nur ubiquitär zu finden sind, sondern die nicht zuletzt hierdurch inflationär gebraucht werden. Diese ausufernde (und häufig unreflektierte) Begriffsnutzung führt nicht zuletzt dazu, dass die Grenzen und Inhalte der Konzepte verschwimmen und sie als Analyseinstrumentarium erheblich an heuristischer Schärfe einbüßen. Dies ist aber weniger ein Problem der Konzepte an sich – wie bereits gesagt – als vielmehr der Verwendungsweisen. Somit ist der von Murray und Manovich richtigerweise konstatierte Befund aber keine Problematik, die spezifisch für die Interaktivität ist, es ist ein grundsätzliches epistemologisches und methodisches Problem, mit dem vor allem die Kulturwissenschaften sehr stark konfrontiert sind. 21 Nicht der Gegenstandsbereich führt zu Irritationen, sondern die Wissenschaftspraxis. Aus diesem Grund ergibt es auch wenig Sinn, einen Begriff schlichtweg durch einen anderen zu ersetzen. Denn aus der Substitution eines Begriffs folgt nicht zwangsläufig der damit intendierte Paradigmenwechsel.
Dieser Strategie scheinen zuweilen dennoch Studien anzuhängen, die dem von Murray eingeschlagenen Weg folgen 22 und gänzlich auf den Interaktivitätsbegriff (und damit auch auf den der Interaktion) verzichten. In diesen Fällen wird Interaktivität durch Agency substituiert, um weiterhin mit dem neuen Begriff die alten (methodischen wie epistemologischen) Probleme zu haben. Dies liegt daran, dass Agency und Interaktivität zwei verschiedene handlungstheoretische Konzepte sind, die unterschiedliche Formen und Kontexte von Handeln betreffen. Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig zielführend, das eine Konzept dem anderen vorzuziehen oder gar zu ersetzen. Es bedarf keiner Substitution, sondern einer Kombination. 23
Agency
Zuvor gilt es jedoch zu klären, was unter Agency verstanden wird. Dazu erneut Janet Murray: „Agency is the satisfying power to take meaningful action and see the results of our decisions and choices.“ 24 In Murrays kurzer Definition zeigt sich bereits ein bedeutender Unterschied zwischen Agency und Interaktivität. Agency ist nach Murray nicht nur ein Potenzial („power“), sie impliziert zugleich die konkrete Nutzung dieses Potenzials bzw. die Evaluation dieser Nutzung („results“). Sebastian Domsch folgt Murrays soziologisch geprägtem Agency-Ansatz: „In der Handlungstheorie steht der Begriff der agency für die Fähigkeit des Menschen, Handlungen auszuwählen und mit diesen die Welt zu beeinflussen. […] Anders als Interaktivität ist agency damit nicht absolut und eindeutig, sondern relativ und subjektiv.“ 25
Es lässt sich zwar darüber streiten, ob Interaktivität wirklich „absolut und eindeutig“ ist, da der Interaktivität stets auch das Potenzielle anhaftet, was Domsch aber sehr deutlich herausstellt, ist, dass Agency eine subjektive und Interaktivität eine intersubjektive Angelegenheit ist. Anders gesagt: Agency bezeichnet die Handlungsmacht (Murray) bzw. Handlungsfähigkeit (Domsch) eines Subjektes sowie die sich hieraus ergebenden Konsequenzen. Damit fokussiert das Agency-Konzept, so gefasst, primär das Zusammenspiel von Handlungsbedingung (Potenzial) und Handlungswirkung (Prozess). 26
Agency is the condition of activity rather than of passivity. It refers to the experience of acting, doing things, making things happen, exerting power, being a subject of events, or controlling things. This is one aspect of human experience. The other aspect of human experience is to be acted upon, to be the object of events, to have things happen to oneself or in oneself, to be constrained and controlled: to lack agency. As people are both actors and acted upon, the interplay between agency and context is a central issue. 27
Martin Hewson betont damit zum einen, dass es bei der Agency nicht nur darum geht, wie ein Subjekt handeln kann, sondern wie es dieses Handeln erfährt und erlebt. Das unterstreicht, dass Agency nicht mit Handeln gleichzusetzen ist, sondern mit seinen Bedingungen und Auswirkungen. Zum anderen macht Hewson erneut darauf aufmerksam, dass Agency nicht allein untersucht werden sollte, da das ‚Zusammenspiel‘ mit dessen Kontext ebenso wichtig sei. Denn Menschen sind nicht bloß Subjekte, die über Agency verfügen, sie können auch das Objekt der Agency anderer sein. So gewichtet, muss das Agency-Konzept, um einen möglichst umfassenden Aussagewert zu besitzen, stets in Zusammenhängen betrachtet werden, die auch interaktiv (mit-)bestimmt werden.
Darüber hinaus illustriert Hewson, dass es sich aus heuristischen Gründen anbietet, mehrere Arten von Agency zu unterscheiden. Deshalb spricht er von der „Individual Agency“, der „Proxy Agency“ und der „Collective Agency“, welche er als die drei „main types of agency“ bezeichnet. 28 Individuelle Agency ist gegeben, wenn Individuen für sich selbst handeln. Unter „proxy agency“ versteht Hewson Handlungen, die Personen im Auftrage anderer, also stellvertretend für diese, ausführen. Kollektive Agency liegt dann vor, wenn Individuen zusammenarbeiten und hierdurch „collective entities“ erzeugen, die wiederum als solche handeln. Beispiele hierfür sind „firms, states, classes, and social movements“. 29
In Bezug auf das Vorhandensein von Agency macht Martin Hewson eine bedeutende Einschränkung. Nach ihm liegt Agency nämlich nur dann vor, wenn drei „key properties“ gegeben sind: 30 Intentionalität, (Handlungs-)Macht und Rationalität. 31 Das heißt, sobald ein Individuum weder intentional, noch rational handelt oder gar keine Handlungsmacht im Sinne einer Handlungsfähigkeit besitzt, dann existiert keine Agency. 32 Löst man sich nun etwas vom soziologischen Agency-Konzept und orientiert sich mehr am Agency-Verständnis der Philosophie, das sich primär auf die Handlungsfähigkeit des Subjekts fokussiert und weniger auf die Entscheidungsfindung des sozialen Akteurs, dann lässt sich eine Binnendifferenzierung zwischen den drei „key properties“ vornehmen.
Um über Agency zu verfügen, muss ein Subjekt immer handlungsmächtig sein, es stellt sich aber die Frage, ob die sich hieraus ergebenden Handlungen immer intentional und rational sein müssen. Betrachtet man beispielsweise eine mögliche paidia-Spielweise in einem beliebigen digitalen Spiel mit Open-World-Prinzip, bei dem Spielende den Avatar mittels Analog-Stick ziellos und hakenschlagend durch die Spielwelt laufen lassen, so hat man es hier mit einer klassischen ilinx-Spielform nach Roger Caillois zu tun. 33 Dieses (auf Rausch und Exzess ausgerichtete) Spiel funktioniert aber in der Regel nicht rational und in den meisten Fällen wahrscheinlich auch nicht intentional, wird aber trotzdem durch die Nutzung der Handlungsmacht durch das Subjekt realisiert. Es lässt sich somit die berechtigte Frage stellen, ob in einer solchen Spielsituation keine Agency, kein handlungsfähiges Subjekt vorliegt? Ich denke doch.
Das Beispiel deutet jedoch an, dass es mit Blick auf digitale Spiele Unterschiede zwischen ludus- und paidia-Spielweisen gibt. Im ludus entfaltet sich die Handlungsmacht des Subjekts in der Regel intentional und ist rational geprägt, da sie sich an der Spielstruktur und den damit verbundenen Spielzielen und Aufgaben unter Befolgung der Spielregeln sowie taktisch günstiger Manipulation der Spielmechaniken ausrichtet. 34 Paidia-Spiele hingegen reduzieren die Intentionalität von Handlungen der Spielenden erheblich, da sie kein konkretes Spielziel (oder nur eines mit untergeordneter Bedeutung aufweisen) und nur ein sehr schwach ausdifferenziertes Regelsystem haben. Aus diesem Grund müssen Handlungsoptionen auch nicht rational abgewogen werden. 35 Es bietet sich demnach in Bezug auf paidia-Spiele (und in Differenz zu ludus-Spielen) an, von den drei „key properties“ nur die Handlungsmacht als obligatorisch und die Intentionalität wie Rationalität als optional zu betrachten.
Abschließend lässt sich – verkürzt gesprochen – festhalten: Agency ist die Fähigkeit eines Subjektes, handlungsmächtig zu sein und diese Handlungsmacht auch (bewusst) auszuüben.
An der Schnittstelle von Agency und Interaktivität
Eine Zusammenführung von verschiedenen theoretischen Konzepten scheint dann erfolgsversprechend, wenn man sich der Grenzen der zusammengeführten Konzepte bewusst ist. Aus diesem Grund sollen an dieser Stelle kurz die ‚blinden Flecken‘ von Agency und Interaktivität herausgestellt werden, um beide anschließend gewinnbringend vereinen zu können.
Grenzen und Möglichkeiten der Agency
Vor allem die Soziologie hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass das Agency-Konzept epistemologische Defizite in Bezug auf (interaktive) Strukturen aufweist, da es das Handeln des einzelnen Akteurs fokussiert. Das bedeutet, dass es schwierig ist, mit dem Agency-Konzept wechselseitige kommunikative Prozesse bzw. das Zusammenwirken der Agencies mehrerer Subjekte sowie den Wechsel zwischen diesen Agencies zu untersuchen. Wenn ein Subjekt seine Agency nutzt, so gelingt dies oft nur, weil die Agency eines anderen stark reduziert ist, d.h. eine geringe bzw. keine Agency vorliegt. Ein Beispiel: Zwei Subjekte sitzen in einem fahrenden Auto, wobei eines (A) fährt und das andere Beifahrendes (B) ist. Einerseits kann man sagen, dass hier ein Fall von stellvertretender Agency vorherrscht, da A für B handelt, damit es sich fortbewegen kann. Man kann hier aber auch annehmen, dass beide über individuelle Agencies verfügen, wobei die individuelle Agency von A massiv ausgeprägt und die von B de facto nicht vorhanden ist, da B keine Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, die es (einflussnehmend auf das Auto) nutzen könnte.
Die Agencies von Subjekten können somit in einem korrespondierenden Verhältnis zueinanderstehen, wie dies bei der stellvertretenden und der kollektiven Agency sehr oft der Fall ist, sie können jedoch auch konkurrierend wirken, da die Ausdehnung der individuellen Agency von A im oben genannten Beispiel zugleich die Reduzierung der individuellen Agency von B bedeutet. Interessanter wird diese Beobachtung, wenn man sich Massively Multiplayer Online Role-Playing Games wie World of Warcraft 36 oder Multiplayer Online Battle Arenas wie League of Legends 37 zuwendet. Beide sind klassische Beispiele für kollektive Agency, zugleich stehen die so vereinten Kollektive aber auch in einem Konflikt mit anderen Parteien, sodass hier kollektive Agencies miteinander in Konkurrenz geraten (z.B. eine Gilde gegen eine andere).
Innerhalb solcher Konkurrenzsituationen (besonders in agonalen digitalen Spielen) tendieren Spielende dazu, die eigene Agency oder die Agency der eigenen Gruppe auszudehnen und somit die Agency der gegnerischen Partei zu reduzieren. 38 Diese konkurrierende Situation von Agencies lässt sich auch im Hinblick auf die stellvertretende Agency beobachten. Es liegt im Wesen dieser Form von Agency, dass ein gewisses Machtgefälle zwischen beiden beteiligten Subjekten vorherrscht, das unter anderem dann sehr stark ausdifferenziert sein kann, wenn das eine Subjekt gänzlich handlungsunfähig ist, also über gar keine individuelle Agency verfügt. Diese Form ist in der Regel korrespondierend, konsensual, sie kann aber konkurrierende Züge annehmen, wenn die Handlungsunfähigkeit des vormals handlungsunfähigen Subjektes nur temporär war, es seine Agency zurückerlangen könnte, dies aber vom stellvertretenden Subjekt verhindert wird, da dies die so gewonnene Agency nicht verlieren möchte. Die Handlungsmotivation des stellvertretenden Subjektes kann dabei durch bestimmte Faktoren seiner individuellen Agency beeinflusst sein, sodass auch eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Arten von Agencies entstehen kann.
Somit geben nicht nur die epistemologischen Defizite des Agency-Konzepts in Bezug auf dessen Strukturen Anlass, die Interaktivität hinzuzunehmen, sondern auch die vielfältigen Interaktionen zwischen Agencies, Subjekten und Gruppen von Subjekten. Dafür liegen die Stärken des Agency-Begriffes deutlich im Kontext der Subjektivität. Nur mithilfe der Agency lässt sich analysieren, wie (spielende) Subjekte ihre Handlungsfähigkeit erhalten, erfahren und konkret nutzen. Dies ist soziologisch gesehen interessant, wenn man sich digitalen Spielen mit einer starken ludus-Struktur zuwendet. Diese erfordert vom Spielenden (beispielsweise in Adventures) rationale Entscheidungen und intentionale Handlungen, die aus der Handlungsmacht des Subjektes resultieren. Philosophisch können paidianische Spiele bemerkenswert sein, da sie durch den Freiraum, den diese Art zu spielen lässt, nicht nur maßgeblich zur Erschaffung des spielenden Subjektes beitragen, sondern es dem Subjekt zudem ermöglichen, sich selbst in den eigenen Handlungen als Individuum widerzuspiegeln. Minecraft 39 ist hier ein anschauliches Exempel.
Grenzen und Möglichkeiten der Interaktivität
Diese subjektiven Phänomene verschließen sich der Interaktivität weitestgehend, da sich diese vornehmlich auf die Intersubjektivität fokussiert. Dafür bietet sie wiederum Zugriffsmöglichkeiten, über die das Agency-Konzept schlichtweg nicht verfügt. So kann man nur mit diesem Konzept interaktive soziale Handlungen untersuchen, da Agency kaum auf wechselseitige Bezüge und Bezugnahmen ausgerichtet ist. Neben der „Nutzer-System-Interaktivität“, die für alle digitalen Spiele konstitutiv ist, sollte man die „Nutzer-Nutzer-Interaktivität“ nicht ignorieren, 40 welche (besonders in Kombination mit der „Nutzer-System-Interaktivität“) die kommunikativen Strukturen von Massively Multiplayer Online Games bestimmt und hierdurch auch die Subjektivitätsbildung wie -auslebung erheblich tangiert.
Diese Interaktivität mag zwar recht wenig über das Handeln des Subjektes in Bezug auf sich selbst sagen können, mit Blick auf das Handeln des Subjektes in Bezug auf andere Entitäten kann sie aber sehr hilfreich sein. So lässt sich die Kommunikation von Spielenden in Mehrspielendensituationen nur als interaktiver Austausch zwischen Spielenden begreifen. Die interaktive Kommunikation zwischen Teammitgliedern eines Onlinespiels definiert den Informationsgrad, über den die Spielenden verfügen. Will die Gruppe ihre kollektive Agency effizient nutzen, um das gegnerische Team zu überwinden, dann muss der Informationsgrad intersubjektiv möglichst hoch und homogen sein sowie die Kommunikation an sich funktionieren, da andernfalls eine effiziente Nutzung der kollektiven Handlungsmacht auszuschließen ist.
Dies betrifft aber auch Einzelspielendensituationen, in denen das Subjekt seine Agency erforscht, indem es mit dem System interagiert. Ein anschauliches Exempel hierfür ist das ‚trial and error-Verfahren‘ bei dem Subjekte durch permanentes Austesten von (Handlungs-)Optionen zur Lösung des Problems gelangen. Dabei interagiert das Subjekt unmittelbar mit dem Regelsystem und den Mechaniken des Spiels. Digitale Spiele wie Dark Souls 41 beziehen ihren Reiz daraus, dass sie die Informationsvergabe an das spielende Subjekt auf ein Minimum reduzieren, sodass das Subjekt die benötigten Informationen nur testend erhalten kann. Durch diese Interaktion mit dem System werden dem Subjekt immer mehr Handlungsoptionen bewusst, was direkt zu einem Anwachsen der individuellen Agency des Subjektes führt.
Versuch einer Zusammenführung
In Anbetracht dieser Beispiele wird evident, dass sich Agency und Interaktivität nicht unabhängig voneinander denken lassen, zumindest dann nicht, wenn man den Anspruch erhebt, das Handeln von Subjekten umfassend zu analysieren. Die Agency des Subjektes wird durch die interaktiv-kommunikativen Strukturen bestimmt, da Agency immer vom Kontext zugewiesen wird. Dies rührt daher, dass Handeln nicht kontextlos erfolgt, sondern immer in Bezug auf etwas ausgeführt und vom Kontext erst als solches definiert wird. Die Nutzung der Handlungsmacht des Subjekts durch Handlungen führt wiederum zu Wirkungen, die weitreichende Effekte für die Strukturen haben (können). Diese Veränderung der Struktur durch Handeln als Folge der Nutzung von subjektiver Handlungsmacht schlägt sich erneut in der folgenden Zuweisung von Agency durch den Kontext nieder. Man kann also sagen, dass das Verhältnis zwischen subjektiver Agency und interaktiver Struktur selbst interaktiv ist.
Dieser Idee folgt auch Uwe Schimank im Anschluss an Anthony Giddens, wenn er dem Zusammenhang von Handeln und Strukturen nachgeht und dabei wie Giddens die These vertritt, dass man beides nicht getrennt voneinander untersuchen sollte bzw. kann. Will man (soziales) Handeln von Subjekten in all seinen Facetten verstehen, dann bedarf es sowohl akteurbezogener Theorien wie der Agency als auch kollektivbezogener Ansätze wie der Interaktivität.
Soziologisch am bedeutsamsten unter diesen [Handlungs-]Wirkungen sind dabei soziale Strukturen: diejenigen Handlungswirkungen, die sich als verfestigte Muster manifestieren und so die weiteren Handlungsbedingungen für die Akteure vorgeben. […] Sozialität besteht also aus der fortlaufenden wechselseitigen Konstitution von sozialem Handeln und sozialen Strukturen. 42
Dabei betont Schimank explizit, dass man Subjekte niemals als unsozial denken kann: „Es geht soziologisch ja niemals um das Handeln eines Einzelnen, sondern darum, wie gleichartiges oder auch unterschiedliches Handeln Mehrerer, manchmal sehr Vieler zusammenwirkt.“ 43 In digitalen Spielen trifft dies auf jede Mehrspielendensituation zu, vor allem, wenn es sich um Online-Spiele handelt. Hier hat man es zum einen mit einer Vielzahl an Spielenden und deren Agencies sowie daraus resultierenden Handlungen zu tun, zum anderen auch mit Strukturen, die sich durch die Handlungen der Subjekte ändern. Nehmen wir an, dass ein Bug in einem Onlinespiel existiert, der bestimmte Spielmechaniken und/oder -regeln außer Kraft setzen kann, was zur Folge hat, dass es durch diesen möglich wird, unverhältnismäßig einfach zu gewinnen. Dieser Bug wird von Spielenden entdeckt und ausgenutzt, was bewirkt, dass sich immer mehr Spielende dieser Option bewusst werden und im Rahmen ihrer Agency darauf zurückgreifen, indem sie diese Handlungsoption auswählen. Dies bleibt letztlich auch vor dem Entwickler nicht verborgen, woraufhin dieser in der Regel patcht und gegebenenfalls Sanktionen gegen diejenigen ausspricht, die diesen Bug missbraucht haben. 44
Folglich hat die Nutzung der individuellen Agency eines Subjektes durch die Interaktivität des Spiels (zum Beispiel Chat-Funktion, Beobachtung von Spielsessions anderer etc.) dazu geführt, dass eine kollektive Agency entstanden ist, die derart weit verbreitet war, dass der Entwickler auf diesen Programmierungsfehler reagieren musste. In der Zukunft besteht der Bug also nicht mehr, was unmittelbar bedingt, dass sich die Handlungsmacht der Spielenden um diese Handlungsoption reduziert.
Dieses Beispiel demonstriert, wie die Struktur (Spiel) die Agency der Subjekte bestimmt, welche den Bug (Handlungsoption) verwenden. Durch die interaktiv-kommunikativen Bedingungen des betreffenden Spiels wie seiner ‚sozialen‘ Umgebung wird diese Option bekannt und nicht nur zu einer allgemein akzeptieren, sondern auch favorisierten Handlungsoption. Dies führt letztlich dazu, dass der Bug eliminiert wird. Sprich: Die Handlungen haben die Struktur und damit den Kontext der Folgehandlungen verändert. Bei World of Warcraft kann man dieses Phänomen bei nahezu jeder Erweiterung beobachten. Die Spielenden suchen nach Orten, wo man durch Bugs Nichtspielenden-Charaktere ‚grinden‘ kann, um auch ohne das herkömmliche ‚questen‘ den Maximallevel zu erreichen. Blizzard bemerkt diese Spielendenhandlungen jedoch stets umgehend, behebt den Bug mit dem ersten Patch und bestraft die ‚abuser‘.
Ein anderes Exempel für diese Erscheinung tritt immer wieder in Online-Sammelkartenspielen wie Hearthstone 45 auf, wenn neue Karten verbuggt sind. Durch die Verwendung der Karte ‚Tracking‘ konnten Spielende beispielsweise einen unendlich langen Spielzug durchführen, sodass die Gegner aufgaben. Ähnliches gilt für die Karte ‚Nozdormu‘, durch welche man die Gegner sogar zwingen konnte, deren eigene Züge zu überspringen. Derartige Zusammenspiele von Agency und Interaktivität lassen sich aber nicht nur in Massively Multiplayer Online Games finden, sondern auch in Einzelspielendenspielen. So beruhen die meisten Speedruns auf einer vollkommenen Entschlüsselung der bestehenden Handlungsoptionen, wobei es oft zentral ist, Glitches 46 aufzuspüren, ohne die viele Speedruns, zumindest in der oft sehr geringen Durchspielzeit, nicht zu realisieren wären. Dabei spielt der interaktiv-kommunikative Austausch zwischen Spielenden via Internet eine große Rolle, da entdeckte Glitches mit anderen Spielenden über Youtube oder in den entsprechenden Foren und Wikis geteilt werden.
Diese Interaktion zwischen den individuellen Agencies verschiedener Spielender, die hierdurch zu einer (temporären) kollektiven Agency verschmelzen, existierte in digitalen Spielen aber auch schon vor der massenhaften Verbreitung des Internets in privaten Haushalten um die letzte Jahrtausendwende, ist demzufolge nicht zwangsläufig auf die kommunikativen Möglichkeiten der ‚Neuen Medien‘ angewiesen. So können Spielende seit der ersten Generation von Pokémon 47 Pokémon klonen, was der Entwickler seitdem auszumerzen versucht, ohne hierbei wirklich erfolgreich zu sein. Bemerkenswert ist dieses Exempel aber nicht, weil es das Scheitern des Entwicklers demonstriert, sondern weil es zeigt, wie sich Wissen um ‚geheime‘ Handlungsoptionen in digitalen Spielen in der Offline-Welt verbreiten kann. Gerade in den Jahren der ersten beiden Pokémon-Generationen (1996-1999 in Japan bzw. 1998-2001 in Europa) kam dem schulischen Pausenhof eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im Kontext des kommunikativen Austausches über das Spiel zu. Aufgrund seiner spielerischen Anlage (Pokémon tauschen, gegen andere Spielende kämpfen etc.) war das Spiel auf den Austausch zwischen Spielenden angewiesen. Bestimmte Handlungsoptionen ließen sich nur erhalten, wenn man mehrere Game Boys via Kabel verband. Hierdurch erhielt das Spiel eine interaktive Komponente, die sich maßgeblich auf die Agency auswirkte und sich nicht zuletzt auch im Wissensaustausch über opake Programmierfehler niederschlug.
Das Zusammenspiel zwischen Handeln und Strukturen, zwischen der Agency des Subjektes und zwischen Agencies verschiedener Subjekte sowie den zahlreichen interaktiven Möglichkeiten, die die soziale Struktur des Spiels erlauben, illustriert, dass man es bei diesem Zusammenspiel von Agency und Interaktivität mit einem autopoietischen System des Handelns zu tun hat, das sich selbst permanent erzeugt und erhält.
Denn einerseits kann man sagen, dass das soziale Handeln sich, gewissermaßen über den Umweg der strukturellen Effekte und strukturellen Prägungen, immer wieder selbst hervorbringt. Andererseits lässt sich dasselbe auch so sehen, dass die sozialen Strukturen sich, über den Umweg der Handlungsprägung und der Handlungswirkungen, immer wieder selbst hervorbringen. 48
Ausgeführt wurden die Überlegungen zum Schnittstellenbereich zwischen Agency und Interaktivität vornehmlich mit Blick auf interaktiv-kommunikative Situationen zwischen Spielenden, Spielenden und Spielsystem und Spielenden und Entwickler. Man kann diesem Themenkomplex aber auch auf der Ebene von digitalen Einzelspielendenspielen nachgehen. Auch hier zeigt sich, dass Agency und Interaktivität zutiefst miteinander verbunden sind. Wo ein Subjekt nicht handlungsautonom ist, kann es nicht interagieren, und wo es nicht interagieren kann, da hat es auch keine Handlungsmacht oder, anders gesagt, wo ein Subjekt nicht handeln kann, gibt es weder Agency noch Interaktivität. Man muss sicherlich nicht so weit gehen wie Alec Charles, der in Anbetracht solcher Beobachtungen konstatiert, dass sowohl Agency als auch Interaktivität nur Illusionen des digitalen Spiels sind, was letztlich auch dazu führe, dass Spielende in digitalen Spielen keine wirkliche Subjektivität besitzen könnten. 49
Freilich ist ihm darin zuzustimmen, dass digitale Spiele Illusionen erzeugen, die vor uns verbergen sollen, dass unsere Agency nicht so groß und die Interaktivität nicht so hochfrequent, signifikant und optionenreich ist, 50 wie Spielende dies gern glauben. Jedoch lässt sich berechtigterweise die Gegenfrage aufwerfen, ob wir nicht bloß mit einer Reduktion und nicht mit einer Elimination von Handlungsmöglichkeiten konfrontiert sind. Unter den künstlerischen Versuchen, die diesem Umstand nachspüren, konnten vor allem Davey Wredens Arbeiten eine breitere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. So lotet Wreden in The Stanley Parable 51 zum einen das Verhältnis zwischen Spiel und Erzählung aus. Zum anderen führt er aber vor, wie sinnentleert viele gegenwärtige Bedeutungssysteme von digitalen Spielen sind. Das kann man sicherlich als eine Armut von Agency und Interaktivität verstehen, man kann es aber auch als ein Plädoyer für die individuelle Sinnsuche des Subjektes interpretieren. Was Wreden offenlegt, ist, dass es wenig Sinn ergibt, einem fast schon pathologischen Bedürfnis nach Achievements nachzujagen. Dies ist aber keineswegs gleichzusetzen mit einer Abwesenheit von Subjektivität, es soll das Subjekt vielmehr dazu anregen, kritisch mit seinen Handlungen und seiner Umwelt umzugehen. Das Spielziel, insofern The Stanley Parable denn eines hat, besteht nicht darin, einem unterdrückenden System zu entfliehen, indem man es abschaltet und dann in eine technikfreie Welt tritt, es besteht darin, sich selbst vom Druck des Systems zu befreien, indem man die Strukturen hinterfragt und nicht nur jene Handlungsoptionen in Betracht zieht, die andere einem aufzeigen.
Diese Suche nach Subjektivität setzt sich in The Beginner’s Guide 52 fort. Was wie ein Gang durch ein virtuelles Museum beginnt, der Spielende mit dem Werk des Spieldesigners Coda 53 in Berührung bringt, bekommt im Fortlauf eine zutiefst psychologische Dimension. Fungiert Davey (der Erzähler) anfänglich wie ein nüchterner Kommentator der Arbeiten Codas, die sich besonders mit der Raumgestaltung in digitalen Spielen befassen, so wird er mehr und mehr zum Erzähler, wenn er versucht, Codas Spiele zu verstehen. Diese scheinen in Daveys Augen oft keinen Sinn zu ergeben, da sie kaum über Regeln und Mechaniken verfügen und auch nicht so etwas wie ein Spielziel haben. Als die Arbeiten düsterer werden, beginnt Davey sich zunehmend um Codas Psyche zu sorgen, wähnt diesen gar kurz vor dem Suizid.
Die Stimmung, die das Spiel erzeugt wird immer beklemmender. Am Ende des Spiels besteigt man einen Turm, wo man erstmals mit Coda selbst in Kontakt kommt, der über Texte an den Turmwänden den Spielenden über die wahren Umstände aufklärt. Es zeigt sich, dass nicht Coda vor dem Suizid steht, sondern dass, ganz im Gegenteil, Davey psychisch krank ist. Er hat eine Obsession entwickelt, ist co-abhängig von Coda und stalkt diesen regelrecht über dessen Spiele. Auf der Suche nach seinem Freund Coda hat Davey sich selbst verloren. Wreden illustriert an Codas Spielen, dass wir uns zu sehr am ludus, an Strukturen im Allgemeinen ausrichten und zu wenig auf uns selbst achten, dass wir uns in unserer Fixierung auf andere (wie Davey) gar verlieren können. Insofern stellen Wredens Spiele aktuell eines der künstlerisch pointiertesten Plädoyers für paidianisches Spielen und Subjektivität in digitalen Spielen dar.
Mit Blick auf das Verhältnis zwischen Agency und Interaktivität wird ein Charakteristikum des Werkes von Wreden deutlich. Sowohl The Stanley Parable als auch The Beginner’s Guide zeichnen sich beide dadurch aus, dass sie Spielende dazu anhalten, nicht die interaktive Struktur an sich zu kritisieren, sondern vielmehr die Banalität zu erkennen, nach der sich das Interaktionsdesign in digitalen Spielen zumeist richtet. Der mögliche Ausweg aus dieser Struktur wird zugleich selbstperformativ eingeholt, da Spielende in The Stanley Parable nur durch eine paidianische Spielweise zu dieser Einsicht gelangen können. The Beginner’s Guide demonstriert, wie sich ein Subjekt (dargestellt durch Davey) interaktiv verlieren kann, die Aufdeckung dieses Dilemmas erfolgt aber dennoch interaktiv, da nur Coda sie zu enthüllen vermag. Somit zeugen Wredens Spiele von der Verschränkung zwischen Agency und Interaktivität in digitalen Spielen.
Fazit
Spiele sind eine interaktive Betätigung, der Subjekte handelnd nachgehen. Diesem Gedanken verpflichtet kombiniert der vorliegende Artikel akteursbezogene (Agency) und kollektiv- oder strukturbezogene Handlungskonzepte (Interaktivität) miteinander, um Handeln in spielerischen Kontexten umfassender analysieren zu können. Agency und Interaktivität sind dabei keineswegs als voneinander losgelöst oder gar widerstrebend zu betrachten, wie die Forschung dies zuweilen getan hat. Vielmehr gilt es, die Unterschiede zwischen beiden Konzepten anzuerkennen, um sie theoretisch-methodisch zusammenführen zu können. So fokussiert die Agency als Handlungsmacht primär das handlungsfähige Subjekt und dessen Handlungsoptionen, wohingegen sich die Interaktivität auf wechselseitiges und kommunikatives Handeln zwischen Subjekten bezieht. Die Agency betrachtet, anders gesagt, die Subjektivität und die Interaktivität die Intersubjektivität. Die Komplexität von Handlungsbedingungen, Handlungen und Handlungswirkungen demonstriert, dass Handeln sowohl auf immanenten Kompetenzen wie auch einem ‚Dazwischen‘ und anderen Entitäten und Kontexten beruht, die sich zu Strukturen verfestigt haben. Handeln geht immer von Subjekten aus, die diese durch die Struktur ausführen können, ist durch seine inhärente Fremdreferenzialität (und wenn es sich nur auf Kontext und Struktur bezieht) zugleich aber an anderen Subjekten und Objekten ausgerichtet. Dass es lohnenswert sein kann, der Interaktion zwischen Agency und Interaktivität in verschiedenen Spielsituationen nachzugehen, hat der Artikel anhand einiger kurzer Beispiele angedeutet. Virulenter wird diese Interaktion, wenn man stärker die ‚soziale‘ Umgebung von digitalen Spielen mit in den Blick nimmt. Vor allem die (Online-)Fan-Kultur verspricht ein interessantes Forschungsfeld zu sein, um handelnde Subjekte im Zusammenspiel verschiedenster Kontexte zu beobachten.
Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien
Literatur
Braun-Thürmann, Holger: Künstliche Interaktion. Wie Technik zur Teilnehmerin sozialer Wirklichkeit wird. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002.
Buurman, Gerhard M. (Hg.): Total Interaction. Theory and Practice of a New Paradigm for the Design Disciplines. Basel: Birkhäuser 2005.
Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Stuttgart: Schwab 1960.
Charles, Alec: Playing with one’s self. Notions of Subjectivity and Agency in Digital Games. In: Eludamos. Journal of Computer Game Culture. Jg. 3, H. 2 (2009), S. 281-294.
Domsch, Sebastian: Freiheit oder Erzählung – oder beides? Zu Konzepten von Erzählung und Spielerfreiheit im Computerspiel. In: Nünning, Ansgar; Rupp, Jan; Hagelmoser, Rebecca; Meyer, Jonas Ivo (Hg.): Narrative Genres im Internet. Theoretische Bezugnahmen, Mediengattungstypologie und Funktionen. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2012, S. 195-207.
Domsch, Sebastian: Storyplaying. Agency and Narrative in Video Games. Berlin: De Gruyter 2013.
Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 3. Aufl. Frankfurt/M.: Campus 1997.
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Heinecke, Andreas M.: Mensch-Computer-Interaktion. Basiswissen für Entwickler und Gestalter. 2., überarbeitete und erweitere Auflage. Berlin: Springer 2012.
Hewson, Martin: Agency. In: Mills, Albert J.; Durepos, Gabrielle; Wiebe, Elden (Hg.): Case Study Research. Vol. 1. Los Angeles: SAGE 2010, S. 12-16.
Jäckel, Michael: Interaktion. Soziologische Anmerkungen zu einem Begriff. In: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 43, H. 4 (1995), S. 463-476.
Landay, Lori: Interactivity. In: Wolf, Mark J. P.; Perron, Bernard (Hg.): The Routledge Companion to Video Game Studies. New York: Francis & Taylor 2014, S. 173-184.
Laurel, Brenda: Computers as Theatre. Reading: Addison-Wesley Publishing Company 1993.
Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 2., erw. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.
Maletzke, Gerhard: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik. Hamburg: Verlag Hans-Bredow-Institut 1963.
Manovich, Lev: The Language of New Media. Cambridge, MA: The MIT Press 2001.
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Murray, Janet: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. New York, NY: The Free Press 1997.
Neuberger, Christoph: Interaktivität, Interaktion, Internet. Eine Begriffsanalyse. In: Publizistik, Jg. 52, H. 1 (2007), S. 33-50.
Quiring, Oliver; Schweiger, Wolfgang: Interaktivität – Ten Years after. Eine Bestandsaufnahme und ein Analyserahmen. In: Medien und Kommunikationswissenschaft. 54 (2006), S. 5-24.
Rimmon-Kenan, Shlomith: Concepts of Narrative. In: COLLeGIUM. Studies across Disciplines in the Humanities and Social Sciences. 1 (2006), S. 10-19.
Salen, Katie; Zimmerman, Eric: Rules of Play. Game Design Fundamentals. Cambridge, MA: The MIT Press 2004.
Schimank, Uwe: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. 4. Aufl. Weinheim: Juventa 2010.
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Computer- und Videospiele
Blizzard Entertainment: World of Warcraft (Windows, Mac OS). Activision Blizzard seit 2004.
Blizzard Entertainment: Hearthstone: Heroes of Warcraft (Windows, Mac OS). Activision Blizzard seit 2014.
Everything Unlimited: The Beginner’s Guide (Windows, Mac OS, Linux). Everything Unlimited 2015.
From Software: Dark Souls (Windows, PlayStation 3, Xbox 360). Bandai Namco Games 2011.
Galactic Cafe: The Stanley Parable (Windows, Mac OS, Linux). Valve 2013.
Game Freak: Pokémon (Game Boy u.a.). Nintendo seit 1996.
Mojang: Minecraft (Windows, Mac OS, Linux, Android, iOS u.a.). Mojang seit 2009.
Riot Games: League of Legends (Windows, Mac OS). Riot Games seit 2009.
- Vgl. hierzu Giddens: Konstitution der Gesellschaft. 1997, S. 77ff. [↩]
- Vgl. Quiring; Schweiger: Interaktivität. 2006, S. 5. [↩]
- Neuberger: Interaktivität. 2007, S. 35f. Vgl. dazu auch Landay: Interactivity. 2014, S. 173. [↩]
- Neuberger: Interaktivität. 2007, S. 43f. [↩]
- Goertz: Wie interaktiv sind Medien? 1995, S. 477 sowie 478. [↩]
- Goertz: Wie interaktiv sind Medien? 1995, S. 478. [↩]
- Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 1996, S. 11. [↩]
- Vgl. dazu Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation. 1963, S. 32. [↩]
- Eine Reaktion des Rezipierenden auf Rundfunkbeiträge, die Missfallen auslösen, kann nur erfolgen, wenn der mediale Kanal gewechselt wird, d.h. wenn eine Beschwerde-E-Mail oder ein Brief verfasst oder ein Telefonat geführt wird. Jeder dieser kommunikativen Akte findet allerdings außerhalb des ursprünglichen Mediums statt, sodass man hier nicht von einem interaktiven Medium (im medien- und kommunikationswissenschaftlichen Sinne) sprechen kann, da die Wechselseitigkeit der Interaktionen durch ein Machtgefälle (bezüglich der kommunikativen Mediennutzung) zwischen den Kommunikationsparteien unterbunden wird. [↩]
- Als ‚traditionell‘ sind diesbezüglich primär Arbeiten zu sehen, deren Interaktionsverständnis von Medien sich an Massenmedien im Sinne Maletzkes orientiert. Vgl. hierzu Sutter: Medienkommunikation als Interaktion? 1999 sowie Sutter: Wandel von der Massenkommunikation. 2010. [↩]
- Goertz: Wie interaktiv sind Medien? 1995, S. 479. Zum Interaktionsdesign im Allgemeinen vgl. Buurmann: Total Interaction. 2005 sowie im Besonderen in digitalen Spielen Salen; Zimmerman: Rules of Play. 2004, S. 60f. [↩]
- Goertz: Wie interaktiv sind Medien? 1995, S. 479. [↩]
- Vgl. Braun-Thürmann: Künstliche Interaktion. 2002, S. 14f. [↩]
- Goertz: Wie interaktiv sind Medien? 1995, S. 479. Zur Diskussion von Interaktivität und Interaktion in der Human Computer Interaction, also jener informatischen Teildisziplin, die sich u.a. mit Fragen der usability beschäftigt, vgl. exemplarisch Heinecke: Mensch-Computer-Interaktion. 2012. [↩]
- Jäckel: Interaktion. 1995, S. 463. [↩]
- Ebd., S. 464. [↩]
- Ebd., S. 467. [↩]
- Murray: Hamlet on the Holodeck. 1997, S. 128. [↩]
- Mertens: Computerspiele sind nicht interaktiv. 2004, S. 287. [↩]
- Manovich: The Language of New Media. 2001, S. 55 [↩]
- Dies trifft letztlich auf alle kulturwissenschaftlichen Termini zu und lässt sich besonders bei jenen beobachten, die durch den Linguistic Turn und alle aus ihm folgenden Cultural Turns zu hochfrequentierten Begriffen wurden. Das klassische Beispiel ist hier sicherlich der Textbegriff und alle Ausdrücke, die hiermit in Verbindung stehen. Für sie gilt, was Shlomith Rimmon-Kenan mit Blick auf das Narrativ und den Narrative Turn feststellte: „What do I gain by such a move? By narrowing the scope of ‚narrative‘, I am trying to defend the term against being emptied of all semantic content: if everything is narrative, nothing is.“ Rimmon-Kenan: Concepts of Narrative. 2006, S. 17. In dem Augenblick, in dem ein Konzept soweit ausgreift, dass es alles umfasst, verliert es seinen Aussagewert vollständig. [↩]
- Vgl. exemplarisch Domsch: Storyplaying. 2013. [↩]
- Andere Ansätze, wie beispielsweise jener, den Alec Charles wählt, betrachten Interaktivität und Agency beide als bloße Illusionen, die das digitale Spiel erzeugt, um Spielende davon abzulenken, dass die vorliegende Subjektivität nicht von den Individuen selbst ausgeht, sondern diesen vom Spiel aufoktroyiert wird, ohne dass sie dessen gewahr werden. Vgl. Charles: Playing with one’s self. 2009. Auch wenn Charlesʼ Schlussfolgerung in ihrer Totalität nicht zutreffend ist, so weisen seine Überlegungen dennoch darauf hin, dass in der Regel eine Diskrepanz zwischen dem vorherrscht, wie umfassend und weitreichend Spielende ihre Handlungsoptionen betrachten und welche Handlungsoptionen Spielenden vom digitalen Spiel tatsächlich geboten werden. Dieser Unterschied lässt sich einfach am Einsatz der Skybox in Open-World-Spielen aufzeigen. Die Skybox vergrößert die Spielwelt visuell in der Wahrnehmung des Spielenden und lässt sie groß erscheinen. Versucht man aber, bestimmte Orte, die am Horizont liegen, zu erreichen, so wird man feststellen, dass die Raumbemächtigung, von der Spielende glauben, sie zu haben, signifikant von der abweicht, die ihnen tatsächlich zukommt. Die Bandbreite an Handlungsoptionen ist dementsprechend nicht so umfangreich wie gedacht. Somit bauen digitale Spiele zwar Illusionen in Bezug auf bestehende Handlungsoptionen auf, man kann aber nicht behaupten, dass gar keine vorhanden wären, Handlungen und Interaktionen sind lediglich nicht in der erwarteten Fülle existent. [↩]
- Murray: Hamlet on the Holodeck. 1997, S. 126. [↩]
- Domsch: Freiheit oder Erzählung. 2012, S. 197. [↩]
- Zu Handlungsbedingung und Handlungswirkung vgl. auch Schimank: Handeln und Strukturen. 2010. [↩]
- Hewson: Agency. 2010, S. 12. [↩]
- Ebd., S. 12f. [↩]
- Ebd., S. 13. ‚Kollektive Entitäten‘ in der digitalen Spielkultur sind im engeren Sinne Clans oder Gilden in Massively Multiplayer Online Games sowie in einem weiteren Sinne Fan Communities, die sich um bestimmte digitale Spiele herum gruppieren. [↩]
- Ebd. [↩]
- Vgl. ebd. [↩]
- In diesem Zusammenhang wirkt die poststrukturalistische Kritik an dem Agency-Konzept besonders schwer, da diese die „bases of agency“ angreift. Ebd., S. 15. Gegen die Intentionalität wenden die Poststrukturalisten ein, dass Menschen keine derart stabile Identität haben würden, sodass auch nicht davon ausgegangen werden könne, dass ihre Intentionen dementsprechend kohärent seien. Gegen den Begriff der Handlungsmacht wenden sie ein, dass Akteure keine Macht hätten, sondern dass – im Gegenteil – nur die Macht handeln könne, da sie diejenige Kraft sei, die die Strukturen (beispielsweise den Diskurs) forme. Gegen die Rationalität wenden die Poststrukturalisten ein, dass diese einerseits nicht valide zu begründen sei und dass sie andererseits, wenn man dann doch von ihrer Existenz ausgehe, unterdrückend wirke. Vgl. ebd. Die Kritik der poststrukturalistischen Strömungen am Agency-Konzept ist vor dem Hintergrund der generellen Kritik des Poststrukturalismus an dem Subjekt und der Subjektivität zu sehen. So betrachtet stellt sich dann aber die Frage, inwiefern die Kritik des Poststrukturalismus an der Agency als universell gültig zu beurteilen ist. Es ist sicherlich korrekt, diese Bedenken aus einer internen Logik des Poststrukturalismus heraus zu äußern. Es ist aber fraglich, und die zahlreichen Debatten der vergangenen zwei Jahrzehnte um die ‚Rückkehr des Subjekts‘ und die ‚Rückkehr des Autors‘ haben dies untermauert, wie gewichtig diese Einwände im Allgemeinen, vor allem jenseits der Metatheorien französischer Prägung, sind. [↩]
- Zu den Begriffen ‚ludus‘, ‚paidia‘, ‚agôn‘, ‚alea‘, ‚mimicry‘ und ‚ilinx‘ vgl. Caillois: Die Spiele und die Menschen. 1960, S. 19ff. [↩]
- Dies zeigt, dass die individuelle Agency des spielenden Subjektes durch den Kontext und die Interaktion des Spielenden mit dem Regelsystem und den Mechaniken des Systems Spiel bestimmt wird. Umso höher die interaktive Handlungskompetenz des Subjektes ist, umso höher ist auch die individuelle Agency, da, was Hewson andeutet, nicht nur die schlichte Anwesenheit von Agency entscheidend ist, sondern auch das Bewusstsein des Subjektes über die Fülle der bestehenden Handlungsoptionen. Ein Beispiel für diesen abstrakten Sachverhalt sind Walkthroughs. Sie werden von Spielenden angefertigt, die durch die fortwährende Interaktion mit Regelsystem und Spielmechaniken einen hohen Grad an Könnerschaft, eine sehr ausdifferenzierte Form von individueller Agency erworben haben und diese nun (via Walkthrough) mit anderen Spielenden teilen, deren individuelle Agency nicht ausreicht, um eine komplexe Spielsituation Kraft der Nutzung der eigenen Handlungsmacht zu bewältigen. Insofern erweitern die Hilfesuchenden ihre eigene individuelle Agency, indem sie die Nutzung der individuellen Agency anderer konsultieren. Ähnliches kann auch für Let’s Plays gelten. [↩]
- Zudem steht die Exzesshaftigkeit der ilinx-Spielform, die oft in paidia-Spielen eine gewichtige Rolle spielt, der ratio entgegen. [↩]
- Blizzard Entertainment: World of Warcraft. Seit 2004. [↩]
- Riot Games: League of Legends. Seit 2009. [↩]
- Dies gilt tendenziell für relativ viele (auch nicht-digitale) agonale Strategiespiele wie beispielsweise Schach. Erfolgreiche Spielende nehmen im Spielverlauf immer mehr gegnerische Spielfiguren vom Feld, limitieren hierdurch die Anzahl potenzieller Züge bzw. Handlungsoptionen und senken dementsprechend die individuelle Agency des gegnerischen Subjekts. [↩]
- Mojang: Minecraft. Seit 2009. [↩]
- Quiring; Schweiger: Interaktivität. 2006, S. 10 sowie 9. [↩]
- From Software: Dark Souls. 2011. [↩]
- Schimank: Handeln und Strukturen. 2010, S. 16. Herv. i. Orig. [↩]
- Ebd., S. 19. [↩]
- In der Game Culture spricht man hier vom sog. ‚abusen‘. [↩]
- Blizzard Entertainment: Hearthstone. Seit 2014. [↩]
- Ein Glitch (engl. Panne, Verzögerung) ist (wie ein Bug) ein Programmfehler. [↩]
- Game Freak: Pokémon. Seit 1996. [↩]
- Schimank: Handeln und Strukturen. 2010, S. 23. [↩]
- Vgl. Charles: Playing with one’s self. 2009. [↩]
- Vgl. dazu Laurel: Computers as Theatre. 1993, S. 20. [↩]
- Galactic Cafe: The Stanley Parable. 2013. [↩]
- Everything Unlimited: The Beginner’s Guide. 2015. [↩]
- Coda ist ein sprechender Name, der bereits auf die Entwicklung des Geschehens gegen Ende des Spiels vorausdeutet. Die Abkürzung steht für ‚Co-Dependents Anonymous‘ und ist ein Therapieprogramm, das für Co-Abhängige ist. [↩]