Tagungsbericht: Online-Workshop "Involvierende Rezeption" am 15. Juli 2022
Begrüßung
Der Online-Workshop „Involvierende Rezeption“ fand am Freitag, den 15. Juli 2022, statt. Der Fokus der interdisziplinär ausgerichteten Veranstaltung lag auf Überlegungen zu heldenbezogenen Immersions- und Affizierungsstrategien aus multimedialen Perspektiven. Der Workshop wurde von Florian Nieser geleitet und stand im Zusammenhang mit dessen Gastforscherprogramm am SFB 948 Helden – Heroisierungen – Heroismen der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Andreas Rauscher: The Villain You Love to Play – Antiheld*innen in Videospielen
Andreas Rauscher, Vertretungsprofessor für Medienkulturwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, fokussierte sich in seinem Beitrag auf Schurk*innenfiguren im Film- und Spielgenre. Er erklärte, dass Involvierungsangebote in Videospielen einerseits an ikonische Figurentypen und die mit ihnen verbundenen Standardsituationen anknüpften, zugleich aber auch durch die ästhetische Eigenverantwortung der Spieler*innen eine systematische Abweichung von etablierten Schurk*innendarstellungen ermöglichten. So würden bei letzterem die Elemente des Bösen der Figuren aufgegriffen, überzeichnet sowie ironisiert und dadurch mit dem Schurk*innen-Charakter auf kreative, verspielte Weise gebrochen.
Es ließen sich dahingehend verschiedene Involvierungsformen ausmachen: erstens die performative Involvierung, bei der sich der Charakter der Figur aus ihren Aktionen ergebe und sich von einer etablierten Vorgeschichte löse; zweitens die Ausgestaltung des Avatars und Etablierung einer Hintergrundgeschichte; und drittens die Inszenierung der Geschichte, indem mit der Figur in der Rolle als Regisseur*in agiert werde, d. h. Handlungsweisen und Perspektiven für die Figur ausgewählt werden würden, die mit der Story und dem Setting zusammenpassten. Durch die ästhetische Involvierung von Spielenden, Fan-Gemeinschaft oder auch durch Marketing-Strategien entstünden ebenso spielerische Neuauslegungen der bekannten Motive, die es z. B. ermöglichten, die Erzählung der mit dem Bösen assoziierten Gegenseite zu konstruieren. Als Beispiel führte Rauscher die Figur des Darth Vader als Projektionsfläche für Perspektiven des absolut Bösen wie auch des cartoonhaft Schrulligen an. Letztendlich bestehe diese Entwicklung aus der andauernden Umcodierung von Schurk*innenfiguren mittels Auf- und Entladung bestimmter Eigenschaften, die zu paradoxen Zuschreibungen führe. Aus diesen nebeneinanderstehenden, sich häufig widersprechenden Figurenentwürfe entstünden – so Rauscher – stetig neue Involvierungsangebote.
Franziska Ascher: „I am what the gods have made me!“ Identifikationsprozesse jenseits von Sympathie und Antipathie
Franziska Ascher, Postdoc an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und Mit-Herausgeberin der Computerspielforschungszeitschrift PAIDIA, konzentrierte sich in ihrem Beitrag auf die Frage, welche Eigenschaften eine Held*innenfigur bzw. ein Avatar mitbringen müsse, damit Rezipient*innen sich mit ihr identifizieren könnten. Sie argumentierte, dass aufgrund der subjektiven Prozesse von Sympathie und Antipathie an einer basaleren Analyseebene angesetzt werden müsse: der Identifikation von Spieler*innenhandlungen mit Avatarhandlungen, die in der Regel zu einem Ebenenkurzschluss führe, welcher die Grundlage für eine stabile Spieler-Avatar-Bindung darstelle.
Entscheidend, so führte Ascher weiter aus, sei hier die Ebene der Untersuchung; ob man sich mit der Figur auf Avatar- oder auf Protagonist*innen-Ebene identifizieren könne, was sie an der Figur Kratos der God of War-Spielreihe verdeutlichte. Auf der Avatar-Ebene sei es leichter, sich mit Kratos zu identifizieren, weil dieser hier lediglich als effiziente Erweiterung der Handlungsmacht der Spieler*in gesehen werde. Die Identifikation mit Kratos als Protagonist bereite größere Probleme, da die Figur in bestimmten Situationen (z. B. Cutscenes) moralisch fragwürdige Entscheidungen treffe, auf die die Spielenden keinen Einfluss hätten und die mit ihrem persönlichen Wertekanon in Konflikt geraten könnten. Ungeachtet einer möglichen Abneigung gegen den Protagonisten könne die Synchronisation des Körperschemas von Spieler*innen mit der Figur als Avatar reizvoll sein und sie auf diese Weise involvieren. Von Bedeutung sei hierbei vor allem die Fähigkeit des Avatars zur Bewegung und damit zur Handlung. Auch wenn in der Spielpraxis keine scharfe Trennung zwischen motorischer und emotionaler Identifikation gemacht werde, so könne motorische Identifikation irgendwann zu emotionaler Identifikation führen.
Tobias Schlechtriemen: Die Sozialfigur des Whistleblowers und ihre multimodalen Rezeptionsarrangements
Tobias Schlechtriemen, Vertretungsprofessor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, beschäftigte sich in seinem Beitrag mit dem Konzept der Sozialfigur. Diese definierte er als Figur der öffentlichen Diskussion, über deren Vermittlung ein relevantes gesellschaftliches Thema in Umbruchzeiten erörtert werde. Es ließen sich – so Schlechtriemen – Gemeinsamkeiten von Sozialfiguren feststellen: erstens ein hoher Bekanntheitsgrad, zweitens die kontroverse Rezeption der Figur, die stets ein Grund für Affizierung der Öffentlichkeit sei, sowie drittens die Anschaulichkeit ihrer Darstellung und die daraus entstehende Möglichkeit zur Identifikation und Involvierung der Öffentlichkeit.
Die Sozialfigur des Whistleblowers männlichen Geschlechts passe – so Schlechtriemen – genau in dieses Schema. Stereotypisch für diesen sei seine Technikaffinität bzw. die Identifikation als Nerd. Das Kernelement des Whistleblowings bestehe in der Grenzüberschreitung. Der Whistleblower werde aufgrund dieser Grenzüberschreitung kontrovers dargestellt, d. h. entweder heroisiert oder dämonisiert. Dies geschehe über verschiedene mediale Darstellungsformen (z.B. Film, Zeitung, Autobiographien und Internet). Anhand des Whistleblowers Edward Snowden verdeutlichte Schlechtriemen die Charakterisierung der Sozialfigur. Er betonte, dass gerade Social Media eine aktive, in ihrer Tragweite nicht zu unterschätzende Teilnahme der Öffentlichkeit ermögliche, welche die Wirkung und Affizierung der Themen intensiviere. Die Sozialfigur – wie auch an Snowden erkennbar – bleibe dabei immer kontrovers.
Lukas Boch: Heilige (Anti-)Helden – Kirchengeschichtskultur in Warhammer 40k
Lukas Boch, wissenschaftlicher Mitarbeit am Seminar für Historische Theologie und ihre Didaktik sowie Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele (AKGWDS), untersuchte in seinem Beitrag die Darstellung von Religion und religiösen Held*innen im Warhammer-Universum. Er unterstrich die Bedeutung der aktuellen Populärkultur für die Kirchengeschichte, darunter auch von Tabletop-Strategiespielen wie Warhammer 40k, wo gewöhnlich mindestens zwei Spieler*innen gegeneinander antreten, die ihre Armee individuell zusammenstellen sowie ihre Figuren und Objekte eigenhändig bemalen.
Im Warhammer-Universum – so fasste Boch kurz zusammen – befänden sich verschiedene Völker im andauernden Krieg, mit dem Ziel, sich gegen die Feinde und das Chaos durchzusetzen. Boch legte hier den Fokus seiner Analyse auf das fiktive Imperium der Menschheit, das von einem Gottimperator beherrscht wird und dabei von Theokratie wie Technokratie beeinflusst ist. Am Beispiel des militärisch organisierten Nonnenordens der Adepta Sororitas aus dem Warhammer-Universum zeigte er, dass die Involvierung der Spielenden nicht nur durch deren eigene Aktivität bei der Gestaltung ihrer Figuren entstehe, sondern auch durch das Zusammenspiel dreier Faktoren beeinflusst werde. Diese Faktoren seien die – bei den Adepta Sororitas v. a. christlich konnotierte – Ästhetik der Figuren und Objekte, die spezifische Lore – hier die fiktive Entstehungsgeschichte des Ordens im Imperium der Menschheit – und das Regelwerk, was in Bochs Beispiel den Spielenden zusätzliche Handlungsmöglichkeiten gebe.
Ralf Schlechtweg-Jahn: Helden im Gewimmel. Immersion durch Unübersichtlichkeit im Bilderzyklus des „Loher und Maller“ Elisabeths von Nassau-Saarbrücken
Ralf Schlechtweg-Jahn, Privatdozent und Lehrkraft für besondere Aufgaben der Älteren deutschen Literatur und Sprache an der Freien Universität Berlin, stellte in seinem Beitrag die Illustrationen der Handschrift „Loher und Maller“ aus dem 15. Jahrhundert vor. Die Bilder hätten – so seine These – einen immersiven Effekt, weil sie im Hin und Her von Bildbetrachtung und Textlektüre eine besonders intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte ermöglichten bzw. erforderten. Anhand mehrerer Beispiele erstellte Schlechtweg-Jahn eine Typologie, in die sich ein Großteil der Handschriftenillustrationen einordnen ließe, welche zudem verschiedene Effekte auf die Betrachter*innen hätten.
Die Typologie bestehe erstens aus dem Einzelbild, zweitens der Bildserie, drittens dem Wimmelbild und viertens dem Simultanbild. Auch wenn jede Bildart ihre spezifische Lesart verlange, sei die Lektüre der Bilder stets explorativ – im Gegensatz zu der iterativ-narrativen des Textes. Beide Lektürearten überlagerten sich in der Handschrift und führten zu Kontaminationen, wodurch die Lektüre intensiviert werde, da von den Betrachtenden verlangt werde, im wechselnden Spiel zu lesen und zu betrachten. Die daraus entstehende vagabundierende Aufmerksamkeit bzw. Augenbewegung passe zu dem Inhalt der Erzählung des „Loher und Maller“, die v. a. eine mäandernd Abenteuergeschichte sei. Immersion entstehe gerade aus der suchenden Augenbewegung, dem bewussten Identifizieren von Details sowie einem Abgleichen von Text und Bild.
Tobias Unterhuber: „I’m (not) the hero of the story, (no) need to be saved.“ Das Ende der Personalunion von Held*in und Protagonist*in im Computerspiel
Tobias Unterhuber, Postdoc am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck und Mit- Herausgeber der Computerspielforschungszeitschrift PAIDIA, stellte seinem Vortrag die Beobachtung voran, dass in den letzten Jahren Spiele immer häufiger die Verbindung von Held*innen und Protagonist*innen auflösten und auf mehrere Figuren verteilten. Zwar blieben die Spielfiguren meist handlungsmächtig, stünden aber z. B. nicht in der Mitte der Erzählung, sondern fungierten als Perspektivfiguren auf die Geschichten anderer Figuren, an denen sie nicht beteiligt sein müssten.
An dieser Stelle machte Unterhuber auf die Bedeutung der analytischen Unterscheidung von Held*in, Protagonist*in und Avatar aufmerksam: Held*in und Protagonist*in seien die zentrale, meist außergewöhnliche Figur einer Fiktion, wobei der Avatar als Stellvertreter oder Werkzeug fungiere, mittels dessen im Spiel interagiert werden kann. Auffällig sei in Spielen wie Gone Home, Life is Strange I und II sowie A Normal Lost Phone, dass die Figuren, entlang derer die Geschichten erzählt werden, nicht die Held*in des Spiels darstellten – stattdessen handelten diese eher reaktiv bzw. beobachtend, was paradoxerweise involvierender auf die Spielenden wirke. Dies stelle einen Widerspruch zu Empowerment-Fantasien von außergewöhnlichen Held*innen dar und beschneide teilweise auch deren Agency im Spiel. Hier sei es von Bedeutung, zwischen der figurenbezogenen Agency und der spielerbezogenen Agency zu unterscheiden, um die Phänomene im Computerspiel präziser fassen zu könne. Die Folgen seien Konventionsbrüche mit der erwarteten Spielart, stärkere Bindung an Figuren, die nicht steuerbar und damit auch nicht direkt beeinflussbar seien, und eine höhere emotionale Involvierung der Spielenden.
Florian Nieser und Antonia Imbeck: Reverse engineering mittelalterlicher Literatur anhand digitaler Spiele? Immersive Mechanismen als Bestandteil spezifischer Informationsvergabe über zentrale Figuren
Florian Nieser, Gastforscher im Projekt „Involvierte Rezeption und die Rolle von intermedialen (Spiel-)figuren als Herausforderung der Heldenforschung“ am SFB 948 der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, und Antonia Imbeck, wissenschaftliche Hilfskraft im selben Projekt, untersuchten in ihrem Beitrag die spezifische Informationsvergabe über zentrale Figuren und deren immersive Wirkung auf die Rezipierenden. Anhand des Ansatzes reverse engineering zogen sie Rückschlüsse von digitalen Spielen auf mittelalterliche Literatur und suchten Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Informationsvergabe.
Im ersten Teil des Vortrags legte Nieser nahe, dass sich (Held*innen-)Figuren besonders als Schnittstelle immersiver Mechanismen eigneten und diese deshalb der Anknüpfungspunkt für das reverse engineering seien. Er analysierte für den Beitrag notwendige Begriffe wie Immersion, Fiktionalität/Virtualität sowie Rezeption und definierte unter Bezugnahme auf Erkenntnisse aus den neuropoetics den Arbeitsbegriff „Figur“. Auf dieser Grundlage formulierte er die These, dass das Mittel der Informationsvergabe über zentrale Figuren im Spiel wie in mittelalterlicher Literatur ein stabiler Faktor im Bereich involvierender Rezeption sei.
Die These wurde anhand von drei Beispielbereichen von Imbeck veranschaulicht. Dabei wurden die Spiele so ausgewählt, dass sowohl unvollständige Informationsvergabe über Figuren (Shadow of the Colossus), auserzählte Figurenentwürfe (Hellblade: Senua’s Sacrifice) als auch das Spiel mit den Informationen bzw. dem Wissen der Rezipierenden über Held*innenfiguren und -inszenierungen (Death Stranding) vertreten waren. Mit Rückschluss auf mittelalterliche Erzählungen (Nibelungenlied, Willehalm bzw. Parzival und Wigalois) zogen Nieser und Imbeck das Fazit, dass sich Gemeinsamkeiten bezüglich ihrer Figurenentwürfe zwischen digitalen Spielen und mittelalterlicher Literatur finden ließen und dass alle drei Arten der Informationsvergabe trotz ihrer Unterschiede involvierend auf die Rezipierenden wirkten.
Abschlussdiskussion
In der Abschlussdiskussion wurden offene Fragen der vorangegangenen Diskussionen in den Zusammenhang des Workshopthemas eingeordnet. Dabei zeigte die Diskussion, dass einige Begriffe wie Immersionsbruch, Rezeption und Innenleben von Figuren einer erneuten Untersuchung bedürfen, um diese in der Forschung zu präzisieren. Medienhistorisch sei v. a. zu beachten, welche Kontinuitäten von Figurendarstellungen in verschiedenen Genres und Erzählungen weiterexistierten, ohne dass diese im Kanon oder der Forschung wahrgenommen würden. Ansatzpunkte weiterer Diskussionen oder Veranstaltungen könnten Tabletop-Spielkulturen, Text-Bild-Relationen oder die Agency von Figuren bzw. Rezipierenden in verschiedenen Medien sein. Zum Schluss bedankte sich Florian Nieser bei allen Teilnehmenden für ihre Beiträge, Anregungen und die lebhafte Diskussion. Er verwies auf den zweiten Workshop im November 2022, der auf diesem aufbauen solle.