Metaästhetik im Computerspiel SOMA –
Reflexivitäten zwischen Wahrnehmung, Für-Wahrnehmung, Sein und Nichtsein

23. September 2019
Abstract: Die folgenden Überlegungen illustrieren, wie durch das Computerspiel SOMA ästhetiktheoretische Fragen neu aufgeworfen und zu beantworten versucht werden. Das Spiel bedient sich einer Metaästhetik, die auf eindrucksvolle Art und Weise die Frage nach dem Wesen des Bewusstseins, der Wahrnehmung und des Menschseins skizziert und zur Reflexion einlädt.

Grundlagen

Unter dem Begriff der Ästhetik verstehen wir nicht die Beschreibung des Schönen (jenes würden wir als Kallistik bezeichnen), sondern die aisthetike episteme genannte Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung, wie sie als philosophische Disziplin seit dem 18. Jahrhundert verstanden wird.1 Wir erweitern den Ästhetikbegriff durch die Überlegungen Max Benses, dessen Ästhetiktheorie die Wahrnehmung mit Zeichensystemen verknüpft, und somit eine Schnittstelle zu Computerspielen erleichtert. Diese sind vor dem Hintergrund unserer Argumentation „in Kommunikationszusammenhang gebrachte Anordnungen von Zeichen“ – um Benses Duktus zu verwenden – in Form von Programmcode, Bild- und Tondaten, sowie Spielmechanismen und Algorithmen, mit welchen SpielerInnen interagieren können. Hier sind mehrere Ebenen sichtbar, namentlich der Programmcode als tiefste, die Spielmechanismen als mittlere und die Präsentation und Interaktion mit Charakteren und der Welt als höchste Ebene. Eine Meta-Ästhetik ist im vorliegenden Spiel die Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung, ein Phänomen, das sich, wie in diesem Text illustriert wird, aus Reflexionen zwischen SpielerInnen und Charakteren und zwischen Charakteren und deren Selbst ergibt. Die SpielerInnen übernehmen die Meta-Ebene zudem auch dadurch, dass sie einen Charakter beobachten, dem die Fähigkeit zur Selbsterkennung fehlt.

Der Begriff der Metaästhetik, den wir hier verwenden, fußt zunächst auf Max Benses Metatechnik. Diese ist die alles durchdringende Technik, welche sich aus unserer Sicht wiederum selbst bedingt und weiterentwickelt. Die Essenz dieser Hypothese sind die kybernetischen Reflexivitäten zwischen Menschen und Technik, die eine Weiterentwicklung der Technik durch Weiterentwicklung des Menschen bewirken, und wieder auf sich selbst zurückwirken, so, wie sich Wahrnehmungen durch die Rückkopplungen der Gegenseitigkeit autopoietisch verändern.2

Benses Denken ist durch die voranschreitende Technologisierung und deren Verwicklung in allen gesellschaftlichen Bereichen für unsere Argumentation hier von großer Bedeutung. Sein Verständnis von Philosophie ist das einer Metawissenschaft (wie der Begriff der Metaphysik ja schon lange deutlich macht), die auf „positiven Wissenschaften“ – wir würden sagen empiriebasierten Wissenschaften – beruht. Mit Metatechnik meint Bense nicht in erster Linie, dass Technik überall sei, sondern dass deren Strukturen überall hineinwirkten. Bense geht hier von einer „abstrakte[n] und technische[n] Natur“ aus, einer, die durch die Naturwissenschaft geschaffen werde. 3 Er nimmt weiterhin an, dass auch eine „gegebene Natur“ existiere, anhand derer die Erkenntnisse im Labor überprüft werden können.4 Jenes, welches Bense als „abstrakte Natur“ bezeichnet, wollen wir hier Modell nennen. Modellbildung geschieht nach Bense immer auf Zeichenbasis, sei es in Form mathematischer Terme oder als Modellierung im Sinne einer Plastik, einer Zeichnung oder in Worten. Computerspiele sind, wie erwähnt, Zeichenketten, die sich auf dieser Basis betrachten lassen.

Platons Höhlengleichnis5 ist ein Modell, das zu den ältesten erhaltenen abendländischen Überlegungen gehört, welche sich der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Sein und dem Schein annehmen, und sich überdies bemühen, einen Ansatz für eine wohl schwerlich abschließend feststellbare Antwort zu geben. Der Philosoph versuchte damit, die Komplikationen zu beschreiben, die ein menschlicher Geist erfährt, wenn er sich daran macht, die ihn umgebenden Reize und die in ihm liegenden Erfahrungen (insgesamt also die αἴσθησις [Aisthesis]) zu ordnen, zu beschreiben und zu erklären.

Das Höhlengleichnis beschreibt die Menschheit so: Alle Menschen sind zeit ihres Lebens in einer Höhle angekettet, sodass sie nichts als die vor ihnen liegende Felswand sehen können. Hinter ihnen brennt ein Feuer, und zwischen diesem und ihnen wandeln die Götter umher und tragen die Dinge der Welt vorbei. Man kann damit nur den Schatten eines Seienden wahrnehmen; die wahre Natur, was – im heideggerschen Sinne – in einer Sache „west“,6 bleibt dem Menschen verborgen. Die Menschen sehen dabei, wenn diese Interpretation erlaubt ist, offensichtlich auch nur ihre eigenen Schatten. Wenn jemand die Fesseln ablegen und die Höhle verlassen könnte, würde er von den Wahrheiten, die er wahrnehmen könnte, geblendet und überwältigt werden. Würde er dann zurück in die Höhle kommen, um den anderen davon zu erzählen, würden sie ihm nicht glauben und ihn gar töten. Schließlich sind in der Höhle ja nur die Schatten zu sehen.

Eine der Hauptaufgaben der Wissenschaften ist die Modellbildung, und häufig wird als Werkzeug hierfür die Rationalität angeführt.7 Dass Rationalität unmöglich eine Realität in allen Facetten beschreiben kann, hat Douglas Hofstadter in Gödel, Escher, Bach8 beschrieben: Die Mathematik sei ein Werkzeug zur Beschreibung der Rationalität, doch gebe sie zugleich zu, dass es unendlich viel mehr irrationale Zahlen gebe als rationale.9 Die Ratio, also das Ins-Verhältnis-setzen, fordert, dass jeder Wert als eine Division aus anderen rationalen Werten zusammengesetzt werden kann. Der Ratio(nalität) folgten Albert North Whitehead und Bertrand Russell, als sie ihr mathematisches Opus Magnum Principia Mathematica veröffentlichten und postulierten, dass alles, was es gebe, auch mathematisch beschreibbar sei, wenn nur die zur Verfügung stehenden Daten ausreichend präzise und die dahinter stehende Mathematik mächtig genug seien.10 Das ist falsch, wie Kurt Gödel eindrucksvoll bewiesen hat: Jedes hinreichend mächtige11 arithmetische System, zu dem auch die Mathematik gehört, enthält Aussagen, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Wenn also die Mathematik nicht einmal imstande ist, sich selbst vollständig zu ergründen und ihre Aussagen universell zu beweisen, so ist davon auszugehen, dass sie zumindest kein Universalmittel zur Beschreibung der Natur sein kann. Sie ist gleichwohl ein Mittel der Naturwissenschaften, Modelle von Natürlichem zu bilden. Modelle sind unvollkommene Abbildungen von Modelliertem. Ein exaktes, abweichungsfreies Modell ist identisch mit dem Abzubildenden, und somit kein Modell mehr.

Die Mathematik ist also weder die Herrscherin der Rationalität, noch ist sie geeignet, die Natur vollumfänglich zu beschreiben. Sie liefert jedoch Möglichkeiten, Wahrnehmung und Für-Wahr-Nehmung zu beschreiben. Hier soll dies anhand eines Computerspiels gezeigt werden. Denn dieses kann als nichts mehr als eine Reihe von Anweisungen und Daten verstanden werden, die in Abhängigkeit von Nutzereingaben ausgeführt und verarbeitet werden, wonach die Ergebnisse dieser Berechnungen als Text, Grafik und Ton präsentiert werden. Ein Computer ist eine reine Rechenmaschine. Wenn man sie auf ihre Grundfunktionen reduziert, kann eine Software immer nur eines, und nichts mehr: Zahlen addieren. Selbst eine komplexe Grafiksoftware, die aus dreidimensionalen Geometriedaten Animationsfilme wie jene von Pixar herstellt, hat nichts anderes getan, als Trillionen von Zahlen zusammenzuzählen.12 Dasselbe gilt für ein Computerspiel: Eine Reihe von Rechenanweisungen, die, in Abhängigkeit von menschlichen Eingaben, Resultate aus­spuckt, und somit den Spielverlauf zur Wahrnehmung freigibt.

Es ist also klar, dass ein solches mathematisches System nicht die Realität (die bensesche „gegebene Natur“) darstellen kann. Allerdings kann ein Computer im platonischen Sinne durchaus die Schatten einer Realität projizieren, die sich ein Mensch vorstellen kann. Dabei muss die erdachte Realität nicht mit dem kongruieren, was wahrgenommen wird. Ein Computerspiel kann Schatten werfen, welche nicht von Objekten stammen, die von den Göttern gehalten werden: Die Virtualität. Diese Form der Abstraktion ist durchaus in der Lage, während des Spiels eine neue Erkenntnis herauszufordern, auch wenn sie, wie oben diskutiert, keinen zwingenden Erkenntnisgewinn forcieren kann.

So schreibt auch Johan Huizinga in Homo Ludens dem Spiel eine eigene Qualität zu, denn es sei „vielmehr das Heraustreten aus ihm [dem gewöhnlichen Leben] in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz“13. Laut Sandl, der das Spiel historisch als wichtiges Element philosophischer und anthropologischer Überlegungen belegt, „fungiert das Spiel als Paradigma der Selbst- und Weltwahrnehmung“. Er schließt sich Huizingas Gedanken an, „dass die Ästhetik des Spiels auf der Ebene der Analyse ein epistemologisches Potential besitzt, das im Unterschied zu rationalistischen Entwürfen des Menschen und seiner Kultur zu definieren ist.“14 Für Huizinga ist Spielen eben nicht das „gewöhnliche Leben [...] [sondern] vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz.“15 Dabei geht es jedoch, darauf weist Sandl auch ausdrücklich hin, nur wenig um konkrete Spiele, sondern um Spiel und Spielen. Der vorliegende Artikel bringt jedoch beides zusammen. Ein Computerspiel ermöglicht eine Art und Weise der Auseinandersetzung mit ästhetischen Fragen, die eine Abstraktion von Vorgestelltem oder auch tatsächlich Wahrgenommenem mit sich bringt, die ohne die Virtualisierung nur schwerlich möglich wäre. Diese Überlegungen werden im Folgenden anhand Survival-Horror-Spiels SOMA 16 ausgeführt, um die Argumentation voranzutreiben.

Handlung

SOMA17 beginnt damit, dass sich Simon Jarrett (der Protagonist), welcher nach einem Unfall aufgrund einer schweren Kopfverletzung unter regelmäßigen Gehirnblutungen leidet, einer Untersuchung seines Gehirns, einem nicht näher erklärten „Brain-Scan“, bei einem gewissen Dr. Munshi unterzieht. Während der Untersuchung geschieht etwas, dessen Bedeutung den SpielerInnen zunächst verborgen bleibt; dieses Ereignis wird durch einen hellen Lichtblitz angedeutet. Die nächste Szene markiert den Beginn des eigentlichen Spiels: Simon wacht verwirrt in einer futuristisch anmutenden Unterwasserstation auf. Die SpielerInnen bekommen vorerst keine Erklärung dafür.

Simon erkundet die Station und entdeckt, dass es eine Forschungsstation namens PATHOS-II18 ist. Die Labore sind verlassen, nur kleinerenteils funktionsfähig, aber zumeist schwer beschädigt oder gar zerstört. Menschen gibt es keine, zumindest scheint es zunächst so zu sein. Ein unter einer beschädigten Maschine eingeklemmter Roboter schwört, dass er ein Mensch sei, und bittet darum, freigelassen zu werden. Simon kann ihn nicht retten, doch muss er ihn quälen, um in der Handlung weiterzukommen.

Wenig später findet der Protagonist eine der Mitarbeiterinnen, die im Sterben zu liegen scheint, und von seltsamen Schläuchen durchdrungen ist. Sie fleht ihn an, sie zu töten; die SpielerInnen müssen ihrem Wunsch entsprechen. „Please Don't! I Need this to live!“, ruft eine fast vollständig zerstörte Maschine, als Simon die Leitungen kappt. Die dramaturgische Inszenierung – die Stimme wird mit jedem Wort leiser – verstärkt den Effekt.

Im weiteren Verlauf trifft Simon auf Menschen (bzw. als solche dargestellten Wesen), die weder als eindeutig tot noch als eindeutig lebend zu identifizieren sind. Sie sind an Leitungen angeschlossen, die sie zu versorgen scheinen. Einige von ihnen versuchen, Simon einzufangen oder zu töten. Dem Genre des Survival-Horror entsprechend, kann sich der Protagonist nur verstecken, Waffen stehen ihm nicht zur Verfügung.

Abbildung 1: Catherine Chun: "Have you looked at yourself lately? You're a walking, talking diving suit with some electronics slapped on for good measure."

Eine tragende Rolle spielt die Figur der Catherine Chun, die zunächst als letzte Überlebende von PATHOS-II dargestellt wird. Anfangs besteht zwischen ihr und Simon nur Funkkontakt, mittels dessen sie ihn durch die Station leitet. Als der Protagonist Catherine erreicht, stellt er jedoch fest, dass auch sie eine schwer beschädigte Maschine ist. Deren Bewusstseinsdaten überträgt er auf ein mobiles Gerät, sodass er sich mit ihr gemeinsam durch die Station bewegen kann.
Im Verlauf der Reise erklärt Catherine Simon, dass auch er selbst nichts anderes sei als die Bewusstseinskopie eines vor über hundert Jahren gestorbenen Menschen. Die optische Präsentation der Spielfigur ändert sich hierbei; seine Hände werden nicht länger als menschliche, sondern als High-Tech­-Handschuhe dargestellt. Der Protagonist lernt, dass die Menschheit ausgestorben ist, nachdem ein Meteoriteneinschlag die Erde unbewohnbar gemacht hatte. Die Unterwasserstation, auf der sich Simon und Catherine befinden, war eine Forschungsstation gewesen. Nach der Katastrophe war die Station die mutmaßlich letzte Einrichtung, in der sich noch Menschen befanden. Die Station wird von einem mit Künstlicher Intelligenz ausgestatteten Computersystem namens WAU gesteuert, welches der Direktive folgt, die Menschen um jeden Preis am Leben zu halten.

Mithilfe des von Dr. Munshi entwickelten „Brain-Scans“ war es möglich, das Bewusstsein eines Menschen vollumfänglich zu kopieren. Es stellt sich heraus, dass Simons Brain-Scan der erste dieser Art war und dass sein Charakter in der Forschungsstation eigentlich eine Kopie ist – der ‚ursprüngliche‘ Simon starb vor langer Zeit an den Folgen seiner Gehirnverletzung . Er scheint dies allerdings nicht ganz zu begreifen.

Es war schließlich nach Bekanntwerden der kommenden Katastrophe versucht worden, die Gesamtheit der verbleibenden menschlichen Bewusstseinsdaten in einem Computer namens ARK (die Arche)19 zu speichern. Dieser Computer soll die Bewusstseinsdaten für die Dauer seiner Existenz erhalten und in einer virtuellen Welt existieren lassen. Der Protagonist erfährt, dass jene, die ihr Bewusstsein in die Arche kopiert hatten, oftmals nicht damit zurechtkamen, dass sie nun Kopien hatten, während ihr biologisches Leben ohne Zukunft wäre. Er liest Berichte über die „Originale“, die sich selbst entleiben. Schon früh im Spiel wurde erwähnt, dass es eine Technologie namens „Structure Gel“ gibt, die mit Nanorobotern versehen und in der Lage ist, sowohl Schäden an der Station und ihren Geräten zu reparieren, als auch Verletzungen der Menschen zu heilen. Eine übermäßige Verwendung des Structure Gels führt allerdings zu grotesken Veränderungen der menschlichen Physiologie und Psychologie. Die Unterwasserstation ist bevölkert mit Kreaturen, die einst menschlich waren, jedoch durch WAUs Versuch, ihr Leben künstlich zu erhalten, in groteske Monstren verwandelt wurden. Einige Maschinen sprechen dagegen wie Menschen, und scheinen nicht zu begreifen, dass sie keine biologischen Wesen mehr sind.

Die beiden Charaktere müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt einem ehemaligen Mitglied des Forschungsteams, dessen Bewusstsein auf einem Datenträger gespeichert ist, einige Informationen entlocken. Sie stecken ihn in einen Computer und müssen vor der Aktivierung eine Umwelt simulieren, die dem Bewusstsein vertraut und vertrauenswürdig erscheint. Scheitern sie, schlägt das Projekt fehl, und sie müssen von vorn beginnen: Das gespeicherte Bewusstsein weiß nicht, dass es kein natürlicher Mensch mehr ist, und reagiert auf eine ungewohnte Umgebung zunächst misstrauisch, später panisch. Dabei wirkt etwa eine schöne Landschaft unglaubwürdig auf das Bewusstsein, da es sich an seine Zeit in der Unterwasserstation erinnert. Es ist anzumerken, dass die Erlebnisse in der Simulation nicht im Abbild der Persönlichkeit gespeichert werden, sondern dass das Bewusstsein im Rechner jedes Mal von vorne beginnt.

Während seiner Reise durch die Station kann Simon auch in einen Spiegel blicken, und erkennen, dass er auch nicht mehr ist als ein Computer mit Kamera, der im Körper einer längst verstorbenen Mitarbeiterin steckt. Der Protagonist und die Protagonistin müssen tiefer in den Abgrund im Meer vordringen, was es notwendig macht, Simons Bewusstsein in einen neuen Körper zu kopieren. Nachdem die Kopie vollzogen ist, muss die SpielerIn entscheiden, ob das „Original“ am Leben gelassen und einsam dem sicheren Tod auf der Station überlassen werden soll, oder ob er ihn schmerz- und angstfrei tötet.

Gegen Ende des Spiels wird Simon mit der Entscheidung konfrontiert, den WAU zu vernichten, und so die grotesken, von ihm künstlich am „Leben“ gehaltenen Menschen von ihrem Leid zu erlösen, oder aber ihn gewähren zu lassen. Es stellt sich heraus, dass es WAU selbst war, der Simons Bewusstsein (gemäß der Weisung, menschliches Leben zu erhalten) in ein Gerät kopiert und es in einen toten menschlichen Körper installiert hatte.

Schlussendlich gelingt es Simon und Catherine, die ARK zu erreichen. Catherine fordert Simon dazu auf, die Startsequenz der ARK auszulösen, die den Rechner mit den Bewusstseinskopien, die in einer Simulation leben, in die Erdumlaufbahn bringen sollte. Sie verspricht Simon, dass sie beide auch dort hinein transferieren würde. Nachdem die ARK gestartet ist, verbleibt Simon jedoch auf der Station. Aus Wut darüber, nicht in die ARK gekommen zu sein, zerstört er das Werkzeug, in welchem sich Catherine befindet. Die Schlusssequenz zeigt wiederum Simon, wie er Catherine in der virtuellen Welt der ARK begegnet.

Die platonische Höhle

Benses Ansatz, die Wahrnehmung aus der Perspektive einer zeichenbasierten Ästhetik zu betrachten, kommt im Folgenden zum Tragen: Die Protagonisten sind selbst eine Kombination aus Datensätzen, Algorithmen und Softwaremechanismen, also Modellen, welche als Repräsentationen des natürlichen Bewusstseins auftreten. Basierend auf Benses Unterscheidung zwischen einer „abstrakten Natur“ und einer „gegebenen Natur“ unterscheiden wir hier das Modell und das modellierte Objekt, namentlich die Bewusstseinskopie und das originäre Bewusstsein, die hierbei in reflexive Beziehungen gesetzt werden.

SOMA porträtiert das dem platonischen Höhlengleichnis inhärente Problem der Wahrnehmung der Welt und somit auch das der Selbstwahrnehmung, nachdem das Selbst Teil der Welt ist. Der Protagonist weigert sich bis zuletzt, seine eigene Natur wirklich zu begreifen. Auf dem Bildschirm vollziehen sich einige Wandlungen: SpielerInnen sehen zunächst Simons Hände als menschliche, etwa während der Anfangssequenz, in welcher sich der Protagonist aufmacht, zu Munshis Labor zu gehen. Als Simon auf PATHOS-II aufwacht, sind seine Hände zunächst auch nackte, natürliche – später jedoch werden sie als High-Tech-Handschuhe dargestellt. Zwischenzeitlich, vor allem in Bedrohungssituationen, wird das Bild verzerrt wie eine Übertragungsstörung während eines übers Internet übertragenen Films, oder auch wie ein gestörtes Fernsehsignal.20 Den SpielerInnen wird anfangs keine Erklärung hierfür gegeben. Es bleibt zunächst ihnen überlassen, diese Störungen als inhaltlichen Hinweis oder als grafisches Stilmittel zu interpretieren.21

SOMA verdeutlicht die Problematik des Bewusstseins, die Frage nach der Seele und was mit beidem nach dem Tode passiert. In der intradiegetischen Realität wird die Bedeutung der Körperlichkeit infrage gestellt. Erinnern wir uns an die Situation, in der die beiden Charaktere einer menschlichen Sicherungskopie Informationen entlocken wollen. Hier ist es für das Gelingen essenziell, die Simulation ästhetisch möglichst glaubwürdig zu gestalten – der Computer, auf dem die Kopie laufen soll, muss so eingerichtet werden, dass er ihr eine akzeptable Umgebung vorgibt. Hierin finden wir die Meta-Ästhetik: Simulierte Personen versuchen, mit einer simulierten Person zu sprechen, und werden dabei durch die SpielerInnen gesteuert. Simons Bewusstsein ist ein Modell des ursprünglichen, als Teil seines biologischen Körpers vorhandenen neuronalen Netzes. Eine Metaebene höher betrachten die SpielerInnen, wie die Charaktere als Modelle im Modell, also als Bewusstseinsentitäten, die bereits in der virtuellen Welt Modelle sind, wie sie miteinander umgehen. Simon und Catherine versuchen dann, mit der Kopie eines anderen Charakters zu kommunizieren, womit sie selbst wieder eine Metaebene aufbauen. Die Kopie weiß dabei nicht, dass sie eine Kopie ist, und reagiert verwirrt auf das von ihr wahrgenommene Umfeld, wenn es nicht deckungsgleich mit ihrer Erinnerung ist. Wenn sie in einer schönen und angenehmen Umgebung „aufwacht“, dann fragt sie mit zunehmender Vehemenz und Panik, wie sie dorthin gelangt sei – eine Frage, die Catherine und Simon nicht beantworten können. Die Station entspricht dabei der platonischen Höhle: Sie ist das gewohnte Umfeld dieser Person. In der bildlichen Darstellung reflektiert sich auch das Schattenhafte des Gleichnisses; es gibt wenig Licht, viel Schatten und die Charaktere sind ebenso darin gefangen. Das Ungewohnte, die einladende Landschaft, in der keine optischen Schatten zu sehen sind, ist dabei eben nicht das, was die Person erwartet und glauben kann. In einem dunklen Raum eingesperrt zu sein war die gewohnte Umgebung der Kopie, und somit lässt sie sich nur dann auf Befragungen ein, wenn sie mit einer solchen konfrontiert wird. Bei korrekten Einstellungen und der Erwähnung eines ihr bekannten Ereignisses öffnet sie sich dann gegenüber den Befragenden. Es sei noch angemerkt, dass es den SpielerInnen überlassen bleibt, die Kopie nach der Extraktion der Informationen zu löschen oder nicht. Eine schwierige ethische Frage: Was ist das Selbst, wenn ein Bewusstsein kopiert werden kann? Es wird deutlich, dass sich in SOMA ein kopiertes Bewusstsein selbst in der Regel seiner Natur nicht gewahr ist und sich weiterhin für einen Menschen hält. Eine auf dem Boden liegende Maschine, die von einem Balken eingeklemmt ist, klagt über Schmerzen und bittet Simon, ihn zu retten. Auf die Frage, was er denn sei, reagiert er mit Missfallen und nennt seinen Namen. Ob er ein Mensch sei? Selbstverständlich!

Ein natürliches Bewusstsein – die SpielerIn – beobachtet und steuert ein künstliches Bewusstsein, ein Modell, in Form des Protagonisten, ganz im Sinne Benses Unterscheidung zwischen Natürlichem und Abstrahiertem. Die Meta-Ebene entsteht dadurch, dass eben jene Natürlichkeit in eine Abstraktion übergeht, dass also das Original zum Modell wird, in dem Simons Bewusstsein kopiert wird. Das Modell selbst, in der Person von Simon, kann seine modellhafte Natur nicht begreifen, und betrachtet sich als Original.

Die Selbstwahrnehmung und die intradiegetische Realität sind hier so fundamental verschieden, dass es auf SpielerInnen geradezu kurios und witzig wirken könnte, wäre die Ästhetik des Spiels nicht von so großer Düsternis geprägt. Dabei wirft SOMA eine erschreckende Frage auf: Was, wenn auch ich nur in einer Simulation lebe? Der Gedanke ist keineswegs neu. So hat etwa Hilary Putnam in seinem bekannten Gedankenexperiment „brain in a vat“ – in Anlehnung an René Descartes‘ genius malignus – ein Szenario entworfen, in dem ein Mensch nur ein Gehirn in einem Tank ist, dessen Wahrnehmung durch einen mit ihm verbundenen Computer erzeugt wird.22 In der Science-Fiction wurde dies etwa auch im Film Matrix aufgegriffen.23 SOMA geht aber noch einen Schritt weiter, da es vor die Simulation von Wahrnehmung noch die Kopie der wahrnehmenden Person setzt. Wenn sämtliche Sinneserlebnisse als elektrochemische Prozesse angesehen werden, so ist es zumindest hypothetisch möglich, eine Kopie einer menschlichen Selbstwahrnehmung anzufertigen, und jegliche Empfindung durch informationstechnische Signale soweit zu emulieren, dass das Selbst von der Selbsterkenntnis ferngehalten wird – es sich also selbst für das Original hält. Wenn wirklich alles, was ein Mensch wahrnimmt, ausschließlich ein Resultat eines Netzwerks elektrochemischer Prozesse wäre, dann könnte eine akkurate, vollständige Simulation nicht von der Realität unterschieden werden. Wie eingangs erläutert sind Modelle nichts anderes als Vereinfachungen einer messbaren Natur, die in der Regel mit dem unvollkommenen Werkzeug der Mathematik aufgestellt werden. Ein exaktes Modell einer Sache oder eines Prozesses gibt es nicht, da eine totale Genauigkeit dazu führen würde, dass das Modell nicht länger vom Original zu unterscheiden und somit mit diesem identisch wäre. Ein abweichungsfreies Modell eines Bewusstseins, wie es bei SOMA angefertigt werden kann, ist also dem Original nicht nur gleich, sondern mit diesem identisch. Damit kann es nicht länger als eine Summe von Anweisungen und Prozessen gesehen werden, sondern ist als Person zu betrachten. Diese Entität wüsste nicht, dass sie in Platons Höhle, dem Computer, feststeckt.

Daraus ergibt sich die ethisch brisante Frage, welche Rechte denn eine solche Kopie hätte. Zum einen gilt die Trennung Original/Kopie nicht mehr, zum anderen nimmt sie sich selbst als vollwertigen Menschen wahr. Die allgemeinen Menschenrechte würden ihr womöglich aber nicht zugestanden werden. Gesa Lindemann hat gesellschaftstheoretisch herausgearbeitet, dass der „biologisch lebendige Mensch der Referenzpunkt für die Zuerkennung von Grund- bzw. Menschenrechten“24 ist. Diese Bestimmung findet vor dem Hintergrund von Helmuth Plessners Anthropologie der „exzentrischen Positionalität“ statt. Darin bestimmt er den Menschen als Wesen, das sich als Selbst erlebt, sich von der Welt um ihn herum abgrenzen und sich in Bezug zu seinem Selbst, der Außenwelt und seiner Mitwelt setzen kann.25 Lindemann beschreibt nun ein „anthropologisches Quadrat“26, also vier Grenzen, innerhalb derer der Mensch festgestellt wird. Es sind die Grenzen von Lebensanfang, Lebensende, Mensch-Tier- sowie Mensch-Maschine-Differenz. Sie betont dabei, dass diese Grenzen schon immer dynamisch gewesen seien.27 Und tatsächlich handelt es sich hier ja um Punkte anhaltender ethischer Debatten. Man denke dabei an Embryonenschutz-Gesetze oder die Todeszeitpunktbestimmung. Doch auch die Mensch-Tier bzw. Mensch-Maschinen-Grenzen werden zunehmend unsicher. Die in Soma aufgeworfene Frage kann dadurch erschütternd wirken, dass sie die Selbstwahrnehmung des Menschen in Frage stellt. Lässt man den erneut kopierten Simon in der Station allein zurück, oder tötet man ihn? Die SpielerInnen bekommen zu einem Zeitpunkt, zu dem Simon bereits als ein liebenswürdiger, wenn auch ein wenig dümmlicher Charakter etabliert wurde, die schreckliche Erkenntnis, dass er – beziehungsweise sein menschlicher Leib – bereits vor über hundert Jahren gestorben ist. Im Spiegel sieht man einen Körper in einer Kapuze, aus deren Innern zwei rote Lampen leuchten. Die Tatsache, dass Simons Computer digitalisiertes Bewusstsein in einer enthaupteten Leiche steckt, deren einzige Aufgabe es ist, ihm Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, kann als grotesk gesehen werden. Das Groteske daran wird forciert, als Simon einen Computer in einen weiteren kopflosen Körper steckt, sich selbst dorthin kopiert, und diese Kopie dann mit der Entscheidung konfrontiert wird, jenen, der ihn gemacht hat, zu töten oder zu verlassen. Ob man ihn sterben oder leben lässt hat keine Konsequenz auf den Spielverlauf, doch die Frage ist so gestaltet, dass sie einen bleibenden Eindruck auf die SpielerInnen hinterlassen soll.

Horror

SOMA reflektiert des Weiteren den exis­tenziellen Horror der Machtlosigkeit, den etwa H. P. Lovecrafts Kurzgeschichte Call of Cthulhu zu beschreiben versucht, und evoziert ihn mithilfe mehrerer Mittel: Das Spiel wird als „Survival Horror Game“ bezeichnet, bei dem der Protagonist vollkommen machtlos ist und sich nicht wie in anderen Spielen des Horror-Genres mithilfe von Waffen wehren kann.2

Abbildung 2: Bloß nicht hinschauen!

Simons einzige Möglichkeiten, mit den Feinden umzugehen, sind die Flucht und das Verstecken. Die Angst, die damit auf die SpielerInnen übertragen werden soll, wird durch die grafische Darstellung einer finsteren Hightech-Station, des gähnenden Abgrunds oder der Unterwasserströme, welche den Protagonisten ins Dunkel zu treiben drohen, ästhetisch verstärkt. Dies gilt auch für die Monster, die Simon jagen: Sie sind recht verschieden voneinander; manche können ihn sehen, sind aber zugleich fast taub – während andere blind sind, aber sehr gut hören können. Ein besonderer Feind reagiert nicht nur auf Geräusche, sondern vor Allem darauf, dass der Avatar ihn ansieht. Sehen und Gesehen werden gleichen hier der Wahrnehmung von Kindern unter fünf Jahren nach dem Schema: „Wenn ich dich nicht sehe, siehst du mich auch nicht.“

Eine Zuspitzung der Immersion und des Horrors ergibt sich durch die sporadisch auf­findbaren Dokumente, welche die Geschichte der Station erzählen (s.o.) Gerade in der Duplikationsmöglichkeit der Persönlichkeiten liegt ein besonderes Potenzial des Schreckens: Einige der Menschen, die sich haben kopieren lassen, töteten sich selbst, weil sie in ihrem biologischen Leben keinen Sinn und keine Zukunft mehr sahen. Auch die SpielerInnen werden damit konfrontiert, namentlich bei der Entscheidung, ob sie Simons Kopiervorlage vor der Weiterreise in die Tiefe am Leben lassen oder sie terminieren sollen. Simon scheint jedoch das Prinzip dieser Form der Duplikation nicht zu begreifen, denn sein Wutanfall am Ende der Geschichte zeigt deutlich, dass ihm nicht wirklich bewusst war, dass er nur eine Kopie einer Kopie ist, und dass „der Andere“ durchaus dort war, wo er sein sollte. Catherine dagegen hatte die Mechanik begriffen: Sie ist diejenige, die in Platons Höhlengleichnis aus der Höhle ausbricht und die wahre Welt sieht, an den Schatten vorbei, und schlussendlich von jenem getötet wird, der ihr nicht glauben will oder kann.28

Der WAU, welcher die Station kontrolliert, folgt seiner Direktive, die Menschen zu erhalten, entsprechend den drei Regeln der Robotik von Isaac Asimov: 1. Ein Roboter darf keinem Menschen schaden oder zulassen, dass ihm Schaden zugefügt wird. 2. Er muss den Befehlen eines Menschen folgen, wenn dadurch die erste Regel nicht verletzt wird. 3. Er muss sich selbst erhalten, wenn die daraus resultierenden Bemühungen die ersten beiden Regeln nicht angreifen.29 Der Stationsname PATHOS-II wurde zunächst ohne WAUs Eingreifen zur Realität: Unsägliches Leid, ein Eingesperrtsein unter dem Meer, Perspektivlosigkeit und ihre Ersetzbarkeit hatte die Menschen teils in den Selbstmord getrieben, und den anderen einen langsamen Untergang beschert. WAU folgt der ersten Regel, indem er versucht, die Menschen durch künstliche Eingriffe am Leben zu erhalten oder, wenn sie bereits tot sind, wiederzubeleben. WAUs Interpretation seiner Direktiven entspricht sicherlich nicht der Intention seiner SchöpferInnen, doch aus Sicht eines Programms scheint diese wohl die beste aller möglichen Alternativen zu sein. Der Stationscomputer versucht mehrfach, Simon zu integrieren, und schickt ihm seine Kreaturen hinterher, wenn er flieht. Er ist hier nicht als eine Skynet-esque30 Entität zu sehen, die sich gegen ihre Schöpfer auflehnt, sondern vielmehr als ein System, das verzweifelt versucht, seiner unmöglichen Aufgabe gerecht zu werden. Der Horror ergibt sich hier aus den Konsequenzen des eigenen Wollens.

Ästhetik

Fragen nach der Wahrnehmung und der Für-Wahr-Nehmung der Welt, die Platon in seinem Höhlengleichnis stellt, werden in SOMA weiter aufgegriffen und ausgearbeitet. Die Vorstellung, man könne ein menschliches Gehirn kopieren, wurde insbesondere durch die Wissenschaftler Warren McCulloch und Walter Pitts geprägt: Sie entwickelten das seitdem als McCulloch-Pitts-Zelle bekannte Modell von Neuronen. Nach diesem funktioniere die Reizweiterleitung einer Gehirnzelle nach der boole'schen Logik, also einem binären System. Alles menschliche Verhalten beruhe letztlich auf dieser Systematik.31 Die gegenwärtige Forschung zeigt, dass dieses Modell zu einfach gedacht wurde, da natürliche Neuronen mehr Zustände annehmen können als 1 und 0. Dennoch liefert es die Grundlage für aktuelle Überlegungen, eine Gehirnzelle zu kopieren. Einer der bekannteren Wissenschaftler in diesem Themenfeld ist sicherlich Ray Kurzweil, Director of Engineering bei Google. Er schreibt in diesem Zusammenhang vom Upload des Gehirns. Das Ziel sei „ein Gehirn bis ins letzte Detail zu scannen und in einem anderen geeigneten Medium nachzubilden. Dadurch würden die Persönlichkeit und sämtliche Erinnerungen und Fähigkeiten einer Person erfasst.“32 Das ist heute noch nicht möglich, denn die einzigen Rechnertopologien, die nach aktuellem Stand der Wissenschaft dazu in der Lage sein könnten, sind der Architektur der natürlichen Nervensysteme zu unähnlich. Während ein handelsüblicher Computer zwar etwa zwei bis fünf Milliarden Rechenoperationen pro Sekunde und Rechenkern ausführen kann, ist ein natürliches Neuron nur zu maximal etwa zweihundert Operationen pro Sekunde in der Lage. Allerdings kann ein einzelnes humanes Neuron mit bis zu vierzigtausend anderen verbunden sein. Dadurch hat das menschliches Nervensystem eine weitaus komplexere Struktur als das, was sich derzeit mit technischen Rechensystemen nachbilden ließe. Theoretisch denkbar ist es jedoch; und bei Betrachtung der aktuellen Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz und deren Algorithmik, sowie der Quantencomputertechnik, nimmt die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung zu.

Abbildung 3: "The idea is just incredible, by every definition. It really makes you think about what it means to be human."

SOMA ist nichts anderes als ein Programm und folgt damit einer mathematischen Rationalität, die, wie eingangs erwähnt, nicht ausreichen kann, um das, was gemeinhin „Realität“ genannt wird, hinreichend zu beschreiben. Das Spiel versucht nicht, eine „Realität“ zu beschreiben, sondern vielmehr die Schwierigkeiten, die wir haben, wenn wir das sinnlich Erlebbare fassen wollen. Computerspiele sind Medien, die solche Fragestellungen mit neuen Mitteln aufwerfen und diskutieren können.

SOMAs Handlung und Ästhetik können bisweilen sehr schmerzhaft wirken, und der Schmerz, den die Charaktere empfinden, wird im Verlauf des Spiels in aller Deutlichkeit präsentiert. Während Simon und Catherine im Aufzug nach unten, wortwörtlich in den Abgrund fahren, lassen sie Simons Kopiervorlage entweder als Leiche zurück, oder als lebende Kopie von Simon. Sie ist ein derart umfassendes und präzises Modell, dass sie sich wohl verraten fühlen wird, wenn sie alleine gelassen in einer feindseligen Umgebung zurückbleibt. Der Charakter, den die SpielerInnen kennen lernen, ist eine Kopie einer Kopie, ein Modell eines Modells, und somit nicht nur fiktiv, sondern auch meta-fiktiv. Diese Fiktion der Fiktion wird auf eine Art und Weise präsentiert, zunächst in Stille, mit ständig schwindender Beleuchtung bei konstanter Bewegung nach unten, dass sich ein Gedanke aufdrängt: „Was habe ich da bloß getan?“ Oder: „Warum habe ich ihn getötet?“ Oder: „Warum habe ich ihn nicht getötet?“

Wenn wir nach dem Höhlengleichnis nur die Schatten der Welt und unsere eigenen sehen, sollten wir denn aus der Höhle ausbrechen, und wollen wir es denn? Was würde passieren, wenn jene, die tatsächlich herauskommen, herausfänden, dass der Mensch schlussendlich doch nichts mehr als ein biologisches System sei, und dass das Bewusstsein nur eine vereinfachte Darstellung eines komplexen neurochemischen Prozesses wäre? SOMAs Metaästhetik trägt damit zu den Überlegungen zu einer weiteren „Kränkung der Menschheit“ bei.33 „The brain has no say over what goes on in the brain“34 war eine der Erkenntnisse, die wir aus dem Symposion für Neuroästhetik am ZKM in Karlsruhe gewinnen konnten.35 Diese Kränkung, so kann man es möglicherweise sehen, wäre die Einsicht, dass Dinge wie die Seele abstrakte und wohltuende Konzepte seien, welche über die Realität hinwegsähen und ignorierten, dass der Mensch – wie alles andere – ein natürliches Konstrukt und sein Leben ein Prozess sei, welcher ohne göttliche Fügung und ohne Sinn und Grund existiert und vergeht:36 Schließlich haben sich viele Menschen, die in PATHOS-II gelebt hatten, aus ebendiesem Grunde das Leben genommen. In der virtuellen Welt von SOMA wird der Wert einer Person im Sinne einer Persönlichkeit ganz fundamental infrage gestellt. Wer kopiert werden kann, ist darin nicht länger etwas wert, solange es noch eine Sicherungskopie gibt. Die Essenz der Metaästhetik in SOMA birgt die Frage: Welchen Wert messe ich mir selbst bei, wenn ich erkenne, dass ich nur ein Prozess bin, der in einem komplexen neurobiologischen System abläuft?

Medienverzeichnis

Texte

Asimov, Isaac: I, Robot, Garden City/New York: Doubleday, 1950.

Freud, Sigmund; Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Imago. Zeitschrift für Anwen­dung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaft. H. 5 (1917), S. 1-7.

Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart: Reclam 2010.

Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach. Ein endloses geflochtenes Band, 3. Auf­lage. Stuttgart: Klett-Cotta 1993.

Huizinga, Johan: Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 24. Auflage. Ham­burg: rororo 2015.

Kurzweil, Ray: Menschheit 2.0: Die Singularität nah. 2. Auflage. Berlin: Lola Books 2014.

Lindemann, Gesa; Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung. In: Zeit­schrift für Soziologie. Jg. 38, H. 2 (2009), S. 94-112.

Lüttke, Mirko; Die Kränkung des Menschen. Die Naturwissenschaften und das Ende des antik-mittelalterlichen Weltbildes. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012.

McCulloch, Warren S.; Pitts, Walter: A logical calculus of the ideas immanent in nervous activity. In: The Bulletin of Mathematical Biophysics, Jg. 5, H. 4 (1943), S. 115-133.

Nolan, Jonathan; et al.: Westworld. The Maze. USA: Bad Robot Productions et al. 2016.

Plato: Platon. 32. Auflage. Sämtliche Werke, Bd. 2. Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2008.

Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philo­sophische Anthropologie. 3. Auflage. Berlin: de Gruyter 1975.

Putnam, Hilary: Reason, truth, and history. Cambridge: Cambridge University Press 1981.

Sandl, Marcus: Homo ludens. Überlegungen zur historischen Anthropologie des Spiels. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. J. 39, H. 2 (2014).

Schärtl, Thomas: Nichts ist so reell wie die Fiktion. Science-Fiction-Filme als imaginatives und begriffliches Laboratorium. In: Schärtl, Thomas; Hassel, Jasmin (Hg.): Nur Fiktion? Religion, Philosophie und Politik im Science-Fiction-Film. Münster: Aschendorff 2015, S. 7-40.

Wachowski, Lana; Wachowski, Lilly: The Matrix. GB, USA: Village Roadshow Film et. al. 1999.

Whitehead, Alfred North; Russell, Bertrand; Principia mathematica. Cambridge: Cambridge University Press 1950.

ZKM - Zentrum für Kunst und Medien; Neuroästhetik: Symposioum 22. - 24.11.2012. <https://zkm.de/de/event/2012/11/neuroasthetik> [24.03.2019].

Spiele

Frictional Games: SOMA. Schweden: Frictional Games 2015.

Frictional Games: Amnesia: The Dark Descent. Schweden: Frictional Games 2010.

Creative Assembly: Alien: Isolation. 2014/2015.

Abbildungen

Titelbild: SOMA

Abbildung 1: Catherine Chun

Abbildung 2: Bloß nicht hinschauen!

Abbildung 3: „The idea is just incredible, by every definition. It realls makes you think about what it means to be human”

Sämtliche Abbildungen sind durch uns erstellte Screenshots von SOMA.

  1. Vgl. Pöltner: Philosophische Ästhetik. Grundkurs Philosophie Band 16.[]
  2. Eine ausführlichere Diskussion dieser Wechselwirkungen ist zu finden in: Schölly 2012, Homo ex machina usw.[]
  3. Bense 1951, 52.[]
  4. Bense 1951, 51.[]
  5. Plat. pol. 7. Buch. Abs. 106.[]
  6. Heidegger: Ursprung des Kunstwerks. 2010, S. 36f.[]
  7. Die Ratio ist hier das Ins-Verhältnis-Setzen eines Bekannten und Verstandenen.[]
  8. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach. 1993; siehe auch Kurzweil 2.0, S. 169, 198[]
  9. Das lässt sich leicht beweisen: Jede rationale Zahl, mit einer irrationalen multipliziert, ergibt eine irrationale Zahl. Jede irrationale Zahl, mit irgendeiner außer Null multipliziert, ergibt eine irrationale oder eine komplexe. Eine Zahl bleibt nur dann rational, wenn sie sich rechnerisch nur mit anderen rationalen Zahlen abgibt, alle anderen werden irrational oder komplex.[]
  10. Whitehead; Russell: Principia mathematica. 1950.[]
  11. «Mächtigkeit» beschreibt in der Mathematik den Grad der Komplexität und des Ausmaßes eines arithmetischen Systems.[]
  12. Eine Subtraktion wird auf eine Addition mit negativen Zahlen zurückgeführt, eine Multiplikation auf mehrere Additionen, eine Division auf mehrere Subtraktionen, eine Integration auf viele Additionen und Multiplikationen, und so weiter.[]
  13. Huizinga: Homo Ludens. 2015, S.16.[]
  14. Sandl: Homo Ludens. Überlegungen zur historischen Anthropologie des Spiels. 2014, S. 411.[]
  15. Huizinga: Homo Ludens. 2015, S.16.[]
  16. Frictional Games: SOMA. 2015[]
  17. σῶμα griechisch zunächst allgemein für «Körper». Ein Nervensystem kann als „a net of neurons, each having a soma and an axon.“ (McCulloch; Pitts:Logical Calculus. 1943, S. 115) beschrieben werden. Das Soma ist der Zellkörper der Nervenzelle (siehe auch weiter unten in diesem Artikel). Dadurch gibt schon der Titel des Spiels SOMA einen Hinweis auf die Umgebung der Spielwelt.[]
  18. Bei diesem Namen sollte an die eigentliche Bedeutung des Begriffs gedacht werden, im Kontext von SOMA also Pathos und Körperlichkeit als Überzeugungsmittel oder vorsätzlich herbeigeführte Gefühlserregung, Leid, Freud, Leidenschaft oder auch, im Sinne der Patho-Logie, als ultimative Pein des Todes. Die Zwei kann hier als Foreshadowing verstanden werden.[]
  19. Hierin kann man einen Verweis auf die biblische Arche Noah sehen, und zugleich eine Parallele zum nicht mit diesem Begriff verwandten altgriechischen Begriff Arche - Ursprung von Allem, Begründung, Rechtfertigung, Seinsgrund, ... finden. Diese Überlegung wollen wir hier allerdings nicht weiterverfolgen.[]
  20. Für Jene, die schon ferngesehen haben, als das Signal noch via Antenne kam.[]
  21. Seltsamerweise kann man das Bildrauschen abschalten, obschon es ein wichtiges narratives Mittel ist.[]
  22. Putnam: Reason, truth, and history. 1981, S.1-21.[]
  23. Wachowskis: Matrix. 1999.[]
  24. Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime. 2009, S. 97f.[]
  25. Plessner: Stufen. 1975, S. 300-304.[]
  26. Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime. 2009, S. 98.[]
  27. Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime. 2009, S. 97-98.[]
  28. Ähnliche Spiele sind beispielsweise Amnesia: The Dark Descent (auch von Frictional Games) oder Alien: Isolation.[]
  29. Asimov: I, Robot. 1950, S. 40.[]
  30. Skynet ist der übermächtige Computer der Terminator-Filmreihe, der sich gegen die Menschheit als sein Schöpfer auflehnt und sie vernichten will.[]
  31. McCulloch/Pitts: Logical Calculus. 1943, S. 115, 129, 131.[]
  32. Kurzweil: Menschheit 2.0. 2015, S.199.[]
  33. Die erste ist, nach Sigmund Freud, die kosmologische Kränkung, dass unsere Welt eben nicht im Zentrum des Universums ist, sondern sich in einem kleinen Arm am Rande unserer Galaxie, neben unzähligen weiteren Galaxien befindet. Die zweite ist die biologische, die besagt, dass der Mensch nichts mehr als ein Tier sei. Die dritte ist die psychologische, namentlich die Erkenntnis, dass der Mensch weit weniger zur Selbstkontrolle fähig sei, als er zuzugeben vermag. Freud: Schwierigkeit der Psychoanalyse. 1917, S. 1-7.[]
  34. Aus einem Vortrag von Georg Northoff während ebendieser Veranstaltung.[]
  35. ZKM: Neuroästhetik. 2012, o. S. https://zkm.de/de/event/2012/11/neuroasthetik [14.03.2019].[]
  36. Mittlerweile wurden von vielen WissenschaftlerInnen eine ganze Reihe an Kränkungen konstatiert. Mirko Lüttke fasst diese zusammen als eine einzige Kränkung, nämlich der des antik-mittelalterlichen Menschenbildes durch die Herausbildung der modernen Naturwissenschaften. (Lüttke: Kränkung des Menschen. 2012, passim.). Auch die hier vorgeschlagene vierte Kränkung lässt sich in diesen Kontext einordnen, da sie durch die Historisierung des Menschen eine göttliche Entität ausklammert.[]

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Schölly, RetoMüller, Damaris: "Metaästhetik im Computerspiel SOMA –
Reflexivitäten zwischen Wahrnehmung, Für-Wahrnehmung, Sein und Nichtsein". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 23.09.2019, https://paidia.de/metaaesthetik-im-computerspiel-soma-reflexivitaeten-zwischen-wahrnehmung-fuer-wahrnehmung-sein-und-nichtsein/. [21.11.2024 - 17:52]

Autor*innen:

Reto Schölly

Reto Schölly studierte Technische Kybernetik (Dipl.-Ing.) und Betriebswirtschaftslehre (M.A.) in Stuttgart, sowie Kunstphilosophie in Wuppertal. Seine Promotion zum Dr. phil. in Ästhetik erfolgte 2012. Derzeit arbeitet er als „Teaching Fellow“ an der Albert Ludwigs-Universität Freiburg, wo er unter Anderem „Computational Modeling“ und „Robot Design“ lehrt. Frühere Vorlesungen beinhalten „Innovations- und Technologie¬management“, „Artificial Life“, „Mikrocomputertechnik“, „Digitale Bildverarbeitung“ und andere. Weiterhin beteiligt er sich an verschiedenen Kunsthappenings, etwa mit Bazon Brock, Peter Weibel, Martina Schettina oder Galsan Tschinag. Persönliche Homepage: www.reto-schoelly.com

Damaris Müller

Damaris Müller, Jahrgang 1989, hat von 2010 bis 2015 das Bachelorstudium der Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. absolviert. 2018 hat sie den Master in Interdisziplinärer Anthropologie, ebenfalls an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., erfolgreich abgeschlossen. Ihre Schwerpunkte lagen in Bereichen der Soziologie, Kulturanthropologie, Philosophie und Theologie. Während des Masterstudiums war sie Leiterin der Vortragsreihe „Diskussionsrunde der Interdisziplinären Anthropologie“. Derzeit bereitet sie ihr Dissertationsprojekt vor.