Es ist egal, für welche Klasse man sich am Anfang eines Fantasyrollenspiels auch entscheidet – am Ende spielt man immer einen Zauberer und das aus einem ganz bestimmten Grund: Jeder Charakter in einem Rollenspiel ist ein Held, was bereits in seiner Erscheinung manifest ist - in den absurd muskulösen Schultern der Helden von World of Warcraft (WoW) beispielsweise oder den engelsgleichen Gesichtern seiner Heldinnen. Vor allem aber drückt sich Heldsein darin aus, dass jemand Dinge vollbringt, die unmöglich sind oder unmöglich erscheinen. Und eben das ist Zauberei.
Der klassische Zauberer ist eine Figur, die aus dem Rollenspielgenre nicht wegzudenken ist, und allein ihn einen „Zauberer“ zu nennen, stellt wissenschaftlich betrachtet bereits ein Problem dar. Wollten wir den Begriff wissenschaftlich verstehen, so müsste an dieser Stelle Magier anstatt des Zauberers stehen, da die Wissenschaft streng zwischen Magie, als der tatsächlichen Macht, die Umwelt auf übernatürliche Weise zu beeinflussen, und Zauberei als das bloße Vortäuschen einer magischen Handlung (z.B. als Bühneneffekt) trennt.
Die Welt der Computerspiele aber kennt eine Vielfalt an Bezeichnungen für ihre magischen Klassen, welche teilweise durch Übersetzung noch weiter verunklärt werden und sich nicht ohne Weiteres auf den Magier-Begriff reduzieren lassen: Die Spiele sprechen von Zauberern, Magiern, Hexern, Hexenmeistern, Beschwörern, Nekromanten etc. Ein Bühnenzauberer ist keiner von ihnen, da das Computerspiel schlichtweg der Alltagssprache näher steht als der Wissenschaft. Dies macht es mir unmöglich, mit der schlichten Zauberer/Magier-Unterscheidung zu operieren. Von daher möchte ich mich den Begriffen stattdessen in ihrem natürlichen Kontext nähern.
Dort stehen die verschiedenen Begriffe teils gleichwertig als unterschiedliche Klassen nebeneinander, teils bilden sie Subkategorien. So unterscheidet man in Aion beispielsweise Zauberer und Beschwörer, beide jedoch sind Magier. In World of Warcraft stellen hingegen der Hexenmeister und der Magier zwei unabhängige Klassen dar.
Damit ist in Aion die Sachlage relativ klar: Es wird uns gesagt, was wir jeweils als Magier oder Zauberer zu verstehen haben (Zauberer = Magier; Magier = Zauberer oder Beschwörer). In WoW jedoch wird die Abgrenzung zu den nichtmagischen Klassen plötzlich zum Problem. Derzeit gibt es in WoW die Klassen Krieger, Paladin, Jäger, Schurke, Todesritter, Priester, Schamane, Magier, Hexenmeister und Druide, wobei 60% der Klassen über ein Magiereservoir, besser bekannt als Manaleiste, verfügen und somit prinzipiell in der Lage sind, magischen Schaden zu verursachen.
Zwei Klassen (Hexenmeister und Magier) sind gewissermaßen im engsten Sinne ˛Zauberer‘; vier weitere (Priester, Schamane, Druide und Paladin) bewirken sowohl Heilung als auch Schaden auf Manabasis. In christlichem Sinne 1 müsste man jedoch Priester und Paladin vom Zaubererbegriff ausschließen, da ihre ˛Magie‘ religiös bedingt ist, was per definitionem keine Zauberei ist, sondern eher dem Wunder nahesteht. Allerdings müsste man in diesem Fall spätestens bei den Schamanen und Druiden in der Klassifikation kapitulieren, da ihre Motive zwar ebenfalls spiritueller Art sind, es aber dennoch kulturell akzeptiert ist, Schamanen und Druiden mit Magie in Verbindung zu bringen. Gehören sie also den magischen Klassen an oder nicht?
Wenden wir uns den verbliebenen vier Klassen zu, die keine Manaleisten besitzen, dafür jedoch Leisten für ˛Wut', ˛Energie', ˛Fokus' und ˛Runenmacht'. Selbstverständlich steht auch die Runenmacht des Todesritters sofort unter Zaubereiverdacht, aber auch die Eis- und Feuerfallen des Jägers sowie das ˛Schleichen' des Schurken, das von einem uneingeweihten Beobachter nicht anders denn als Unsichtbarkeit interpretiert werden kann, wirken bei näherer Betrachtung seltsam magisch. Und selbst die Kriegerkaste, die magiefernste aller Klassen, zieht mit ihren Schwertern gleißende Lichtschlieren in allen Farben durch die Luft. Damit steht fest: Eine wirklich nichtmagische Klasse gibt es nicht mehr.
Im Sinne Max Webers handelt es sich bei dem, was ich bisher Exorbitanz genannt habe, um Charisma – eine außeralltägliche Gabe mit einem gewissen revolutionären Potential, 2 die bei einer Anhängerschaft, die Anteil an der heilbringenden Kraft des Charismatikers nehmen möchte, Bewunderung und Verehrung auslöst. Im Computerspielkontext entspricht dem die bekannte ˛Auserwähltheit' des Helden.
Charisma aber kann im Spiel nur begrenzt sichtbar gemacht werden, denn Avatare wirken nun einmal keine Wunder oder halten Reden, die ein Millionenpublikum mitreißen, aber dennoch bringen sie der Spielwelt Heil: Und zwar indem sie für eine Sache kämpfen. Das Charisma eines WoW-Helden äußert sich in seiner Kampfkraft – für den Kampf wurde er geschaffen, für den Kampf wird er durch positives Feedback belohnt.
Zauberkraft ist nun prototypisch für eine Gabe, wie von Max Weber beschrieben, und auch wenn die Helden tatsächlich Krieger, Jäger oder Priester sein mögen (und eben keine Zauberer), so ist für Zauberei doch ein so reicher Bilderschatz in unserem kulturellen Bewusstsein vorhanden, dass durch den Eintritt eines charismatischen Konzeptes in die Beschränkungen des Computerspielraums und dem damit verbundenen Wegfallen der meisten anderen Darstellungsmöglichkeiten eine Ausdehnung des vertrauten Zeicheninventars für Magie auf Charisma im Allgemeinen stattfindet.
In gewisser Weise ˛zaubert' der Krieger, wenn er sein Schwert schwingt, ebenso wie der Zauberer, wenn dieser einen Feuerball schleudert. Jeder tut auf seine Art dasselbe und diese Art ist sich keinesfalls so unähnlich, wie zu Beginn noch gedacht: Beide demonstrieren sie ihr Charisma und deshalb kann auch der Krieger einen Feuerschweif durch die Luft ziehen.
Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien
Bilder
Vielen Dank an Azalyra und Bryndle für den Screenshot von ihren beiden WoW-Charakteren, den ich als Artikelbild verwenden durfte.
Computerspiele
Blizzard Entertainment: World of Warcraft. Frankreich: Vivendi 2004.
Blizzard Entertainment: World of Warcraft - Burning Crusade. Frankreich: Vivendi 2007.
Blizzard Entertainment: World of Warcraft - Wrath of the Lich King. USA: Activision Blizzard 2008.
Blizzard Entertainment: World of Warcraft - Cataclysm. USA: Activision Blizzard 2010.
NCsoft Corporation: Aion - The Tower of Eternity. Deutschland: Gameforge 2009.
NCsoft Corporation: Aion - Assault on Balaurea. Deutschland: Gameforge 2009.
Texte
Blizzard Entertainment: World of Warcraft-Klassen. <http://eu.battle.net/wow/de/game/class/> [15.10.2011]
Sukale, Michael: Max Weber. Leidenschaft und Disziplin. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2002.
Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. In: Weber, Marianne (Hrsg.): Grundriß der Sozialökonomie, Band III. Tübingen 1925.
- Eine Betrachtungsweise, die im Zusammenhang mit einem Fantasyrollenspiel zunächst abwegig erscheinen mag, jedoch Relevanz erlangt, wenn man bedenkt, dass WoW als westliches Produkt naturgemäß von christlichen Werten und Vorstellungen beeinflusst ist. Bestes Beispiel dafür ist der Begriff Mana, welcher aus der Bibel übernommen und mit neuem Sinn gefüllt wurde. Inzwischen ist er international etabliert. [↩]
- vgl. Sukale 2002, S. 394 bzw. Weber 1925, S. 759 [↩]