WoW: Hexe und Worgenkrieger

Jeder ist ein Zauberer

15. Oktober 2011

Es ist egal, für welche Klasse man sich am Anfang eines Fantasyrollenspiels auch entscheidet – am Ende spielt man immer einen Zauberer und das aus einem ganz bestimmten Grund: Jeder Charakter in einem Rollenspiel ist ein Held, was bereits in seiner Erscheinung manifest ist - in den absurd musku­lösen Schultern der Helden von World of Warcraft (WoW) beispielsweise oder den engelsgleichen Gesichtern seiner Heldinnen. Vor allem aber drückt sich Heldsein darin aus, dass jemand Dinge vollbringt, die unmöglich sind oder unmöglich erscheinen. Und eben das ist Zauberei.

Der klassische Zauberer ist eine Figur, die aus dem Rollenspielgenre nicht weg­zudenken ist, und allein ihn einen „Zau­berer“ zu nennen, stellt wissen­schaftlich betrachtet bereits ein Problem dar. Wollten wir den Begriff wis­sen­schaftlich verstehen, so müsste an dieser Stelle Magier anstatt des Zau­berers stehen, da die Wissenschaft streng zwischen Magie, als der tatsäch­lichen Macht, die Umwelt auf übernatürliche Weise zu beeinflussen, und Zauberei als das bloße Vortäuschen einer magischen Handlung (z.B. als Büh­neneffekt) trennt.

Die Welt der Computerspiele aber kennt eine Vielfalt an Bezeichnungen für ihre magischen Klassen, welche teilweise durch Übersetzung noch weiter verunklärt werden und sich nicht ohne Weiteres auf den Magier-Begriff reduzieren lassen: Die Spiele sprechen von Zauberern, Ma­giern, Hexern, Hexenmeistern, Beschwörern, Nekromanten etc. Ein Bühnenzauberer ist keiner von ihnen, da das Computerspiel schlichtweg der Alltagssprache näher steht als der Wissenschaft. Dies macht es mir unmöglich, mit der schlichten Zauberer/Magier-Unterscheidung zu operieren. Von daher möch­te ich mich den Begriffen stattdessen in ihrem natürlichen Kontext nähern.

Dort stehen die verschiedenen Begriffe teils gleichwertig als unterschied­liche Klassen nebeneinander, teils bilden sie Subkategorien. So unterschei­det man in Aion beispielsweise Zauberer und Beschwörer, beide jedoch sind Magier. In World of Warcraft stellen hingegen der Hexenmeister und der Magier zwei unabhängige Klassen dar.

Damit ist in Aion die Sachlage relativ klar: Es wird uns gesagt, was wir jeweils als Magier oder Zauberer zu verstehen haben (Zauberer = Magier; Magier = Zauberer oder Beschwörer). In WoW jedoch wird die Abgrenzung zu den nichtmagischen Klassen plötzlich zum Problem. Derzeit gibt es in WoW die Klassen Krieger, Paladin, Jäger, Schurke, Todesritter, Priester, Schamane, Ma­gier, Hexenmeister und Druide, wobei 60% der Klassen über ein Magiere­servoir, besser bekannt als Manaleiste, verfügen und somit prinzipiell in der Lage sind, magischen Schaden zu verursachen.

Zwei Klassen (Hexenmeister und Magier) sind gewissermaßen im engsten Sinne ˛Zauberer‘; vier weitere (Priester, Schamane, Druide und Paladin) be­wirken sowohl Heilung als auch Schaden auf Manabasis. In christlichem Sin­ne 1 müsste man jedoch Priester und Paladin vom Zaubererbegriff ausschlie­ß­en, da ihre ˛Magie‘ religiös bedingt ist, was per definitionem keine Zauberei ist, sondern eher dem Wunder nahesteht. Allerdings müsste man in diesem Fall spätestens bei den Schamanen und Druiden in der Klassifikation kapitu­lieren, da ihre Motive zwar ebenfalls spiritueller Art sind, es aber dennoch kulturell akzeptiert ist, Schamanen und Druiden mit Magie in Verbindung zu bringen. Gehören sie also den magischen Klassen an oder nicht?

Systematik der World-of-Warcraft-Klassen

Wenden wir uns den verbliebenen vier Klassen zu, die keine Manaleisten besitzen, dafür jedoch Leisten für ˛Wut', ˛Energie', ˛Fokus' und ˛Runen­macht'. Selbstverständlich steht auch die Runenmacht des Todesritters so­fort unter Zaubereiverdacht, aber auch die Eis- und Feuerfallen des Jägers sowie das ˛Schleichen' des Schurken, das von einem uneingeweihten Be­obachter nicht anders denn als Unsichtbarkeit interpretiert werden kann, wirken bei näherer Betrachtung seltsam magisch. Und selbst die Krieger­kaste, die magiefernste aller Klassen, zieht mit ihren Schwertern gleißende Lichtschlieren in allen Farben durch die Luft. Damit steht fest: Eine wirklich nichtmagische Klasse gibt es nicht mehr.

Im Sinne Max Webers handelt es sich bei dem, was ich bisher Exorbitanz ge­nannt habe, um Charisma – eine außeralltägliche Gabe mit einem gewissen revolutionären Potential, 2 die bei einer Anhängerschaft, die Anteil an der heil­bringenden Kraft des Charismatikers nehmen möchte, Bewunderung und Verehrung auslöst. Im Computerspielkontext entspricht dem die be­kann­te ˛Auserwähltheit' des Helden.

Charisma aber kann im Spiel nur begrenzt sichtbar gemacht werden, denn Avatare wirken nun einmal keine Wunder oder halten Reden, die ein Millio­nenpublikum mitreißen, aber dennoch bringen sie der Spielwelt Heil: Und zwar indem sie für eine Sache kämpfen. Das Charisma eines WoW-Helden äußert sich in seiner Kampfkraft – für den Kampf wurde er geschaffen, für den Kampf wird er durch positives Feedback belohnt.

Zauberkraft ist nun prototypisch für eine Gabe, wie von Max Weber be­schrie­ben, und auch wenn die Helden tatsächlich Krieger, Jäger oder Priester sein mögen (und eben keine Zauberer), so ist für Zauberei doch ein so rei­cher Bilderschatz in unserem kulturellen Bewusstsein vorhanden, dass durch den Eintritt eines charismatischen Konzeptes in die Beschränkungen des Computerspielraums und dem damit verbundenen Wegfallen der meis­ten anderen Darstellungsmöglichkeiten eine Ausdehnung des vertrauten Zeicheninventars für Magie auf Charisma im Allgemeinen stattfindet.

In gewisser Weise ˛zaubert' der Krieger, wenn er sein Schwert schwingt, ebenso wie der Zauberer, wenn dieser einen Feuerball schleudert. Jeder tut auf seine Art dasselbe und diese Art ist sich keinesfalls so unähnlich, wie zu Beginn noch gedacht: Beide demonstrieren sie ihr Charisma und deshalb kann auch der Krieger einen Feuerschweif durch die Luft ziehen.

Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien

Bilder

Vielen Dank an Azalyra und Bryndle für den Screenshot von ihren beiden WoW-Charakteren, den ich als Artikelbild verwenden durfte.

Computerspiele

Blizzard Entertainment: World of Warcraft. Frankreich: Vivendi 2004.
Blizzard Entertainment: World of Warcraft - Burning Crusade. Frankreich: Vivendi 2007.
Blizzard Entertainment: World of Warcraft - Wrath of the Lich King. USA: Activision Blizzard 2008.
Blizzard Entertainment: World of Warcraft - Cataclysm. USA: Activision Blizzard 2010.
NCsoft Corporation: Aion - The Tower of Eternity. Deutschland: Gameforge 2009.
NCsoft Corporation: Aion - Assault on Balaurea. Deutschland: Gameforge 2009.

 Texte

Blizzard Entertainment: World of Warcraft-Klassen. <http://eu.battle.net/wow/de/game/class/> [15.10.2011]
Sukale, Michael: Max Weber. Leidenschaft und Disziplin. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2002.
Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. In: Weber, Marianne (Hrsg.): Grundriß der Sozialökonomie, Band III. Tübingen 1925.

  1. Eine Betrachtungsweise, die im Zusammenhang mit einem Fantasyrollenspiel zunächst abwegig erscheinen mag, jedoch Relevanz erlangt, wenn man bedenkt, dass WoW als westliches Produkt naturgemäß von christlichen Werten und Vorstellungen beeinflusst ist. Bestes Beispiel dafür ist der Begriff Mana, welcher aus der Bibel übernommen und mit neuem Sinn gefüllt wurde. Inzwischen ist er international etabliert. []
  2. vgl. Sukale 2002, S. 394 bzw. Weber 1925, S. 759 []

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Ascher, Franziska: "Jeder ist ein Zauberer". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 15.10.2011, https://paidia.de/zauberer_und_magier/. [03.12.2024 - 16:55]

Autor*innen:

Franziska Ascher

Dr. Franziska Ascher ist Akademische Rätin für Ältere Deutsche Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal und Mitherausgeberin von PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. Von 2008 – 2014 studierte sie Sprache und Literatur des Mittelalters, Neuere Deutsche Literatur sowie Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte 2020 in der Germanistischen Mediävistik bei Prof. Dr. Michael Waltenberger zum Thema „Erzählen im Imperativ – Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen“. Von 2021 – 2024 hatte sie einen Post-Doc-Stelle an der Universität Innsbruck inne, wo sie die Forschungsgruppe „Game Studies“ mitbegründete und -leitete. Dissertation: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5811-8/erzaehlen-im-imperativ/?c=310000018&number=978-3-8394-5811-2