Die Tür zum Kinderzimmer in der Elternwohnung der Autorin.“

Ein ‚Gamer‘ an der Universität und in der Wissenschaft: Vom Studium zur Videospielforschung

15. Oktober 2021

Anh-Thu Nguyen

 

Es ist 2014 und endlich bin ich eingeschriebene Studentin im Fach Medienkulturwissenschaften an der Universität zu Köln. Mein Wunsch, ‚irgendetwas mit Medien‘ zu studieren, wurde wahr und so begann eine Reise, von der ich nicht wusste, dass sie auch in 2021 noch lange nicht enden würde. Vor allem wusste ich wohl damals noch nicht, wie explizit mich Videospiele begleiten würden: mal ging es im Seminar um Grand Theft Auto V1 oder The Last of Us2, in einer Gruppenpräsentation trugen Kommiliton*innen und ich über das Pokémon-Franchise3 vor. Die Leidenschaft zu Medien, Internetkultur und Videospielen existierte zwar lange vor dem Studium, jedoch war ich selbst darüber erstaunt, dass sich in meinem Studium vieles um Videospiele drehte. Fast immer brachte ich meine Dozierenden dazu, ein Prüfungsthema durchzuwinken, dass irgendwie mit Videospielen zu tun hatte (sehr zum Leid meiner Dozierenden in meinem zweiten Fach Anglistik). Mediale Überwachung und Kontrolle? Kein Problem, da kann man sich auch auf Spiele wie Watch Dogs4 beziehen. Amerikanische Coming-of-Age Filme der 2000er? Das ist doch schon fast synonym zu Life is Strange5! Das Medium konnte ich also nicht loslassen – so wenig wie Videospiele über die letzten Jahre ihre Spieler*innen loslassen konnten. Auf so vielen Ebenen wurden Videospiele zahlreicher, vielfältiger, die Kultur um sie herum größer und faszinierender. Weiterentwickelte Technologien lassen Videospiele mit jedem Jahr ein bisschen besser, ein bisschen größer wirken, während andere Spiele auch heute noch mit Retro-2-D-Grafiken überzeugen können. In dieser rasanten Zeit durfte ich also studieren und wachsen. Ein Rückblick auf Videospiele und der Forschung an ihnen ist also auch zwangsweise ein Rückblick auf einige sehr persönliche Lebensabschnitte: vor allem als Studentin der Medienkulturwissenschaften, die erst mal lernen musste, der Fachbezeichnung gerecht zu werden und eben mit dem Medium wissenschaftlich umzugehen.

Die ersten Einblicke, die ich in die Videospielforschung erhielt, könnte man ungefähr so zusammenfassen: Die Anfänge der Videospielforschung waren alles andere als leicht, durchzogen von akademischen Dramen über Narratologie und Ludologie sowie stetigen, pauschalen Gewaltvorwürfen gegen das Medium und dementsprechendem Rechtfertigungsdruck unter Forscher*innen. Obwohl diese Debatten 2014 nicht mehr aktuell waren, blieb ein Nachgeschmack. Wenn man also über die Anfänge der Videospielforschung spricht, kommt man selten an diesen Themen vorbei. Als naive Studentin wunderte man sich über den teils polemischen Sprachgebrauch, der bei diesen Debatten teils angeschlagen wurde – ob gegen andere Forscher*innen oder die Medien, die über Videospiele berichteten. Wissenschaftler*innen sind eben auch Menschen – vielleicht die größte Lektion im ersten Semester. Was als Studentin aber wirklich zählte, waren nicht diese Dramen, sondern das eigene Verständnis von Videospielen zu hinterfragen.

Die Tür zum Kinderzimmer in der Elternwohnung der Autorin.“

Die Tür zum Kinderzimmer in der Elternwohnung der Autorin.

Vielleicht kann keine andere Kontroverse wie GamerGate verdeutlichen, in welchem Verhältnis Studierende zu Videospielen stehen. 2014 war das Thema hochaktuell und tauchte in einem meiner Seminare sogar auf dem Semesterplan auf. Zugegeben, ich war erst nicht begeistert davon, eher genervt. GamerGate verstand ich nämlich primär als Shitstorm, indem ‚Gamer‘ sich für transparenten Games-Journalismus einsetzten und so vor allem Zoë Quinn anprangerten und später später auch Anita Sarkeesian und ihre feministische YouTube-Serie kritisierten. Mein verknapptes Verständnis von der Debatte lautete also ungefähr so: Forderten hier ‚Gamer‘, die den Shitstorm verursachten, nicht einfach nur transparenten Journalismus? Durften weibliche Charaktere in Videospielen nicht mehr gerettet werden oder sich knapp kleiden? So oder so ähnlich reduzierte ich einen größeren politischen Diskurs auf einzelne Aspekte, die scheinbar mein ‚Gamer‘-Dasein bedrohten und vor allem meine Naivität im Großen und Ganzen demonstrierten. So sah ich nicht, dass der transparente Journalismus lediglich ein Vorwand war, bestimmte Minderheiten innerhalb dieser ‚Gamer‘-Gemeinschaft auszugrenzen. So traf vor allem wohl Sarkeesians YouTube-Serie einen Nerv, der größere Strukturen in der Produktion von Games, sowie ‚Gamer‘ selbst hinterfragt. Ähnlich werden auch heute Diskussionen über Rassismus, Sexismus oder Kolonialgeschichte in Videospielen auf einzelne Aspekte verzerrend reduziert. Es war klar: Meine Liebe zu Videospielen machte mich blind und ich war noch lange davon entfernt, eine kritische Perspektive zum Medium einzunehmen.

In einem Artikel von 2008 auf gamestudies.org über die Lehre von Videospielen an Hochschulen heißt es in etwa über Studierende: „In many ways, being expert videogame players interferes with their abilities to step back from their role as ‚gamers‘ or ‚fans‘ and reason critically and analytically about the games they are studying or designing.“6 Es ist wohl nicht überraschend, denn viele Kommiliton*innen waren in der Hinsicht Gleichgesinnte: Wir spielten Videospiele in unserer Kindheit, Jugend und auch noch weiter in der Studienzeit. Vielleicht auch gerade weil die einzigen angeblich kritischen Perspektiven sich lange nur mit Gewaltdarstellungen in Spielen beschäftigten, die unweigerlich mit Amokläufen in Verbindung gebracht wurden, sehnte man sich also nach einem positiven Blick auf das Medium.

Dass ein positiver Blick auf das Medium gleichzeitig einer sein kann, der distanziert von der eigenen Erfahrung mit dem Medium ist, war eine Balance, die anfangs schwierig zu schaffen war. Nicht nur stellte GamerGate inhaltlich eine Herausforderung dar, zu verstehen, dass der Shitstorm vor allem ein überzogener Angriff auf bestimmte Gruppen, wie in etwa nicht-binäre Personen, sowie Frauen im Gamedesign oder in der Forschung war, sondern auch grundlegende Fragen offenbarte wie: Wer ist ein ‚Gamer‘? Für wen werden Videospiele in der Regel gemacht? Was heißt es, ein Videospiel zu spielen? Diese Fragen forderten vor allem von mir als Studentin, eine kritische Perspektive auf das Medium einzunehmen. Die größte Herausforderung war es, nicht wegen der eigenen Liebe zum Medium ignorant zu werden. So ist es auch hier, dass ich ‚Gamer‘ stets in Anführungszeichen setze und auch mittlerweile im alltäglichen Sprachgebrauch nie ohne einen leicht ironischen oder sarkastischen Unterton nutze. Das reflektiert vor allem die Ambivalenz und Spannung zwischen dem, was typischerweise ein ‚Gamer‘ ist, zu dem ich wohl als Frau of Colour nicht ganz dazugehöre. Es ist ein Versuch, sich ein wenig von diesen typischen ‚Gamer‘-Sphären zu distanzieren: genau diese Art von ‚Gamer‘, die während GamerGate klare Linien zogen, wer überhaupt ein ‚Gamer‘ sein darf und wie Videospiele sein müssen. Stattdessen bin ich ein ‚Gamer‘, die sich genau gegen diese GamerGate-Mentalität stellt und davon überzeugt ist, dass Videospiele für alle sind.

Wie konnte ich mich also von der Position als ‚Gamer‘ und Fan distanzieren? Dabei ist es kein Widerspruch, sich kritisch mit einem Medium zu befassen, das man auch liebt und schätzt. Die zahlreichen Dozierenden in meinen Kursen lebten es vor: Viele waren mit Leidenschaft dabei und doch verstanden sie kulturwissenschaftliche Theorie, die sie auf Medien anwendeten. Rückblickend sehe ich dabei zwei wichtige Faktoren, die in meiner eigenen Entwicklung eine immense Rolle gespielt haben: der Zugang zur Forschung sowie meine Dozierenden.

Videospielforschung ist gerade aufgrund ihres jungen Alters so aufregend. Aus diesen Umständen entsteht auch ein Bedürfnis, sich a) als eigenes Forschungsfeld zu etablieren und b) so viele wie möglich zu dieser Forschung zu bringen, um zu zeigen: „Wir machen was Spannendes! Es ist anders und neu! Und dazu brauchen wir viele neue Ansätze, die es bisher vielleicht gar nicht gegeben hat!“ Wissenschaftliches Arbeiten in der Videospielforschung bedeutete vor allem den Zugang zur Forschung so leicht wie möglich zu machen. Ressourcen, die kostenfrei online verfügbar waren. Die stetige Zunahme an Open-Access-Literatur. Als Studentin, für die der universitäre Raum häufig von Elitismus geprägt war, wurde die Videospielforschung ein Mittel, um in die Wissenschaft zu kommen. Um es anders zu formulieren: Es gab einen Tutorial-Modus und so wurde ich beim wissenschaftlichen Arbeiten, Analysieren und Besprechen einiger Texte und theoretischer Ideen noch an die Hand genommen. Der Einstieg wurde mir einfach gemacht und ich erhoffe mir, dass es auch zukünftig so bleibt – auch wenn vielleicht in 50 Jahren die Forschung etablierter und institutionalisierter ist. Vielleicht hat kein Bereich mehr als die Videospielforschung das Potenzial, um eine junge Generation für Wissenschaft zu begeistern und ein kritisches Verständnis für Medien zu vermitteln. Vielmehr noch kann man mit Videospielen nicht nur eine junge Generation begeistern, sondern auch eine mit den verschiedensten Hintergründen.

All das wäre ohne meine Dozierenden nicht möglich gewesen. Hier liegt wohl eins der größten Probleme in der Forschung: befristete Verträge und prekäre Arbeitsbedigungen. Natürlich ist dies nicht nur ein Problem der Videospielforschung, sondern in der Wissenschaft an sich, aber auch als Studierende hat es sich mehr als genug bemerkbar gemacht. Im Laufe meines Studiums wurde die Auswahl an Kursen, die sich mit Videospielen beschäftigten, immer weniger. Auch die Dozierenden an meinem Institut, die einige beliebte Kurse anboten, gingen nach wenigen Jahren. Für den Übergang vom G9 zum G8 Modell in Nordrhein-Westfalen schlossen 2013 zwei Jahrgänge gleichzeitig ihre Schullaufbahn ab.  Später erfuhr ich, dass viele dieser Dozierende im Rahmen des Doppeljahrgangs  befristete Verträge erhielten, um die große Anzahl der neuen Studierenden in diesen Jahren bewältigen zu können. Dass diese und andere befristete Verträge dann ausliefen, war deutlich spürbar – für einige Jahre gab es im Fach Medienkulturwissenschaften ein reiches Angebot zu Games, das mit den Jahren immer stärker abnahm. So sehr, dass ich in meinem Masterstudium von 2018 bis 2021 keinen Kurs hatte, der sich explizit mit Videospielen beschäftigte.

Die Diskussion um #ichbinHanna hat durchaus einige Parallelen zu GamerGate: Wer darf in der Wissenschaft arbeiten? Wer bestimmt die Regeln und mit welchen Konsequenzen? Mit Blick auf #ichbinReyhan stellt sich auch durchaus die Frage, wer von der Wissenschaft ausgeschlossen wird, wer mit mehr Hürden zu kämpfen hat. Als Studierende, die bereits früh Einblicke in die Wissenschaft bekommen durfte, waren diese Gedanken nicht nur allgegenwärtig, sondern auch deutlich sichtbar. Selten waren meine Professor*innen im Masterstudium auch Frauen, schon gar nicht eine Person of Color, geschweige denn Frau of Color. Fast alle Frauen, bei denen ich im Bachelorstudium einen Kurs hatte, sind längst nicht mehr an meiner Universität. Der Blick in die Videospielforschung ist hier keine Ausnahme, sondern vielmehr die Bestätigung für die strukturellen Probleme in der Wissenschaft insgesamt.

Über die Jahre in meinem Studium durfte ich mich mit allen möglichen Themen mit Bezug zu Videospielen beschäftigen: Green Games, Spielmechaniken der Überwachung und Kontrolle, Raumtheorie, Tourismus, Franchises. Bis heute hinterfrage ich meine eigene Position als ‚Gamer‘ und das Studium gab mir die nötigen Werkzeuge, um die Distanz zu einem Medium einzunehmen, das relevanter ist als je zuvor. Vielleicht verstehe ich gerade weil ich mich mit einem Medium beschäftige, das mir auch noch nach wie vor viel bedeutet, wie wichtig diese Distanz ist. Wie vieles in der Wissenschaft ist die Videospielforschung nicht perfekt und doch schätze ich es sehr, dass sie mein Zutritt zur Wissenschaft war. Hier durfte ich wachsen, lernen und vor allem das wissenschaftliche Arbeiten kennenlernen. Für mich wäre das wohl mit keinem anderen Medium denkbar gewesen.

Mittlerweile ist es 2021. Vor einigen Wochen erhielt ich meine Urkunde zur erfolgreich bestandenen Prüfung und schon bald geht es für mich auf der anderen Seite der Welt mit der Promotion weiter. Natürlich wird es auch in meiner Dissertation um Videospiele gehen. Wie sollte es auch anders sein?  In die Zukunft blicke ich daher hoffnungsvoll: darauf, dass die Videospielforschung sich nicht nur mehr etabliert, sondern auch weiter an ihren Stärken festhält. Darauf, dass die Videospielforschung weiterhin ihre eigene Position reflektiert und sich zu einer kooperativen und inklusiven Wissenschaft macht. Für mich fängt bald ein neues Kapitel an und ich bin mir sicher, dass dieser Rückblick ebenfalls ein neues Kapitel für die Videospielforschung bedeutet.

 

Medienverzeichnis

Spiele

Rockstar North: Grand Theft Auto V. USA: Rockstar Games 2013.

Naughty Dog: The Last of Us. USA: Sony Computer Entertainment 2013.

Game Freak: Pokémon Red, Pokémon Green. USA: Nintendo 1998.

Ubisoft: Watch Dogs. USA: Ubisoft 2014.

Dontnod Entertainment: Life Is Strange. USA: Square Enix 2015.

Texte

Zagal, José P.; Bruckman, Amy: Novices, Gamers, and Scholars: Exploring the Challenges of Teaching About Games. In: Game Studies - the international journal of computer game research 2008 http://gamestudies.org/0802/articles/zagal_bruckman [31.08.2021].

 

  1. Rock Star Games: Grand Theft Auto V. 2013.[]
  2. Naughty Dog: The Last of Us. 2013.[]
  3. Game Freak: Pokémon Red, Pokémon Green. 1998.[]
  4. Ubisoft: Watch Dogs. 2014.[]
  5. Dontnod Entertainment: Life Is Strange. 2015.[]
  6. Zagal und Bruckman: Novices, Gamers, and Scholars: Exploring the Challenges of Teaching About Games, 2008. <http://gamestudies.org/0802/articles/zagal_bruckman/> [31.08.2021].[]

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Nguyen, Anh-Thu: "Ein ‚Gamer‘ an der Universität und in der Wissenschaft: Vom Studium zur Videospielforschung". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 15.10.2021, https://paidia.de/ein-gamer-an-der-universitaet-und-in-der-wissenschaft-vom-studium-zur-videospielforschung/. [19.04.2024 - 09:57]

Autor*innen:

Anh-Thu Nguyen

Anh-Thu, eigentlich aus dem Ruhrpott, schließt derzeit ihr Masterstudium an der Universität zu Köln in Medienkulturwissenschaften und English Studies ab. Seit Beginn ihres Studiums war sie an verschiedenen Game Studies Projekten beteiligt, wie in etwa als wissenschaftliche Hilfskraft am Sammelband “Game | World | Architectonics” (2021 Marc Bonner), oder nahm mit Vorträgen an der Clash of Realities Konferenz 2019 und 2020 teil. Zwischenzeitlich ging es auch für einen Austausch nach Japan an der Sophia University in Tokio und 2020 durfte sie kurz mit einem (virtuellen) Praktikum die Wissenschaftskommunikation im New Yorker Büro der Universität zu Köln kennenlernen. Der Austausch in Japan, sowie die Game Studies haben Anh-Thu nie losgelassen und so wird sie Ende 2021 nach Kyoto ziehen und 2022 als Doktorandin an der Ritsumeikan University weiter an Videospielen in einem globalen Kontext forschen.