Digitale Spiele über Behinderung

27. März 2025

Digitale Spiele werden in der Forschungsliteratur zu Behinderung bislang in erster Linie unter dem Aspekt der Spielbarkeit bzw. Barrierefreiheit diskutiert sowie unter der Fragestellung, wie Menschen mit Behinderung mit digitalen Spielen bessere Lernerfolge erzielen können. Nur vereinzelt werden die (ebenfalls noch eher seltenen) Spiele beachtet, die Behinderung selbst zum Gegenstand machen oder sogar die Spielenden in die Rolle einer Person mit Behinderung schlüpfen lassen. Diskussionen über diese Spiele finden in der Regel auf nicht-wissenschaftlichen Foren statt.

Dabei sind digitale Spiele und insbesondere die Untergattung Serious Game, also Spiele mit „an explicit and carefully thought-out educational purpose“ (Abt 1970: 9), ein höchst geeignetes Medium zur Sensibilisierung für marginalisierte soziale Gruppen. Ihr Ziel ist ein game based learning, dem der Unterhaltungsaspekt untergeordnet ist. Da sie die Spielenden in eine (imaginäre) Welt hineinziehen, ermöglichen sie eine tiefergehende empathische Einfühlung in Figuren mit Behinderung und in Herausforderungen, die Behinderung im Alltag aufwirft. Digitale Spiele erlauben es nicht nur, komplexe Sachverhalte erlebend nachzuvollziehen, sondern bringen oft auch überhaupt erst die Motivation, sich mit dem Thema „Behinderung“ zu befassen. Sie erzielen also kognitive, affektive und motivationale Lerneffekte. Hinzu kommt, dass (Serious) Games, sofern sie auf einem mobilen Endgerät gespielt werden, die Möglichkeit bieten, flexibel und unbeobachtet zu spielen, so dass etwaige Berührungsängste oder andere unangenehme Gefühle ungehemmt zugelassen werden können, die in einer Gruppensituation eher unterdrückt würden.

Wie das Potential von Games, insbesondere Serious Games für den Bereich „Behinderung“ genutzt werden kann, ist die übergreifende Fragestellung dieser Sonderausgabe. Angesichts der bislang noch geringen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema „Games über Behinderung“ geht es dabei auch um Möglichkeiten, Game Studies und Disability Studies miteinander zu verbinden. Einzelfragen beschäftigen sich mit konkreten Serious Games, die sich mit Behinderung auseinandersetzen, aber auch allgemein mit Spiel- und Figurentypen, mit der Funktion von Behinderungen im Gameplay, Möglichkeiten des Mediums zur didaktischen Umsetzung von Sensibilisierungsstrategien für Menschen mit Behinderung und schließlich im weiten Sinne auch mit medialen Konstruktionen von Normalität und Abweichung.

Die Beiträge dieser Sonderausgabe sind in drei Kategorien eingeteilt:

1. Jakob Kelsch, Susanne Hartwig, Martin Thiele-Schwez/Susanne Hartwig und Daniela Kuschel geben einen allgemeinen Überblick über das Thema Behinderung im Kontext digitaler Spiele.

Jakob Kelsch gibt in seinem Beitrag Behinderung digital spielen – eine Bestandsaufnahme“ einen Überblick über digitale Spiele, die Behinderung spielerisch erfahrbar machen. Dabei handelt es sich explizit nicht um Spiele, die auf NPC mit Behinderung zurückgreifen oder eine Figur mit Behinderung zur Opponentin oder zum Opponenten machen, sondern um Spiele mit einem PC mit Behinderung. Dabei nimmt der Beitrag eine Kategorisierung in Spiele über motorische, sensorische und „geistige“ Behinderung vor und unterteilt diese anhand der dargestellten Behinderung weiter. Anhand der Steam-Reviewzahlen werden pro Kategorie die zwei meistgespielten Spiele herausgegriffen und einer ausführlicheren Analyse unterzogen. Dabei arbeitet Kelsch heraus, dass Spiele, die Behinderung spielbar machen aktuell vorzugsweise Indie-Games mit starkem Fokus auf die Narration sind. Allgemein handelt es sich nach wie vor um ein Nischenphänomen, in der insbesondere „geistige“ Behinderung unterrepräsentiert ist.

Susanne Hartwig fasst in „Serious Games in der Wissenschaftskommunikation: Eine spielerische Analyse der Rezeption von Filmen mit Darsteller:innen mit ‚geistiger‘ Behinderung“ die Überlegungen zusammen, die sich bei der Entwicklung eines Serious Games stellen. Dieses Spiel für mobile Endgeräte soll Menschen mit ‚geistiger‘ Behinderung in filmischen Hauptrollen ins Zentrum stellen. Ziel ist die Überprüfung eigener Vorurteile der Spieler:innen und eine aktive Auseinandersetzung mit Repräsentationen von ‚geistiger‘ Behinderung. Erörtert wird dabei die Frage, wie sich die Forschungs- und Projektergebnisse spielerisch umsetzen lassen. Hartwig skizziert einen Spielentwurf, der in dem Beitrag Thiele-Schwez/Hartwig in dieser Ausgabe detaillierter beleuchtet wird. Herausfordernd ist bei der Spielentwicklung insbesondere die Vereinfachung komplexer Zusammenhänge und deren ‚Übersetzung‘ in Spielmechaniken, ohne diffuse Verallgemeinerungen und Stereotype zu (re-)produzieren.

Martin Thiele-Schwez und Susanne Hartwig stellen in „Ideenskizze zu einem Serious Game: Film ab! – Vision: Inklusion“ den Konzeptentwurf eines Serious Games vor, das Ergebnisse eines Projektes zu Vorstellungsbildern von Menschen mit ‚geistiger‘ Behinderung in ein Spiel umsetzt (theoretische Grundlagen finden sich im Beitrag von Hartwig in dieser Sonderausgabe). In diesem verkörpern die Spieler:innen ein:e Regisseur:in, mit dem Auftrag, einen Film mit Darsteller:innen mit ‚geistiger‘ Behinderung zu produzieren. Dazu muss ein Genre gewählt, auf Zufallsereignisse reagiert und ein Drehbuch geschrieben werden, das die Forderungen verschiedener Interessengruppen berücksichtigt.  Ziel ist es, die mediale Repräsentation von Behinderung zu reflektieren und die generelle Ambivalenz der verschiedenen Ansätze zu erkennen.

Daniela Kuschel untersucht in „Behinderung, Empathie und soziales Bewusstsein in analogen und digitalen Spielen“ spielerische Sensibilisierungsstrategien, die sich als Social Awareness Games fassen lassen und sich dem Thema ‚Behinderung‘ auf verschiedenste Weise annehmen. Im Fokus stehen dabei Spiele, die darauf abzielen, kognitive und emotionale Empathie zu erzeugen. Einerseits sind das analoge Spiele, die sich über faktenorientierte Wissensvermittlung und die Konfrontation der Spieler*innen mit den eigenen Vorstellungen über Behinderung aktiv für Inklusion einsetzen. Andererseits zeigt die Analyse von Story, Adventure und Role Play Games, inwiefern eine emotive Ästhetik und die emotionale Verbindung zu Avataren diese Ziele erreichen kann.

2. Markus Spöhrer, Simon Ledder und Niklas Platzer diskutieren das Thema anhand konkreter Beispiele und mit Hilfe von Genrefragen. Sie fokussieren dabei einzelne Spiele oder Spielereihen.

Markus Spöhrer verfolgt in „Autismus-Repräsentation in digitalen Spielen: Zur Verarbeitung von Stereotypen und Kontextualisierung im Neurodiversitätsdiskurs“ das Ziel, anhand dreier Videospielanalysen aufzuzeigen, wie digitale Spiele autistische Charaktere auf der ästhetisch-narrativen Ebene repräsentieren und mit diffamierenden Stereotypisierungen oder dem Neurodiversitätsdiskurs verknüpfen. Zunächst wird die Konstruktion von Autismus im medizinischen Modell der Behinderung problematisiert und mit dem sozialen Modell sowie dem Neurodiversitätsdiskurs kontrastiert. Als Fallbeispiel wird das Spiel Auti-Sim analysiert, das zwar das Bewusstsein für Autismus stärken soll, jedoch problematische Stereotypisierungen des medizinischen Modells reproduziert. Darüber hinaus werden Spiele untersucht, deren Bandbreite von stereotypierenden und „extrem reduzierenden, trivialisierenden (Auti-Sim) oder gar diffamierenden (BioShock) Darstellungen“ bis hin zu Darstellungen reicht, „die versuchen, eine differenzierte und neurodiverse Sichtweise anzubieten (To the Moon).“

Simon Ledder nimmt sich in „Warum Blindheit mehr ist als ‚-4 auf Wahrnehmung‘. Über ‚Normalität‘, ‚Beeinträchtigung‘ und ‚Verbesserung‘ in den Fallout-Spielen“ den Rollenspielen der Fallout-Reihe an. In diesen wird häufig zwischen ‚behinderten‘ und ‚nicht-behinderten‘ Charakteren unterschieden, ohne die Möglichkeit, den eigenen Avatar als ‚behindert‘ zu gestalten. Die Charaktererstellung folgt einem normalistischen Modell, das sich auf graduelle Abstufungen von Eigenschaften und Fähigkeiten beschränkt, jedoch kategoriale Differenzen wie dauerhafte ‚Behinderungen‘ fast vollständig ausschließt. So fungiert ‚Blindheit‘ lediglich als kurzzeitige, simulative Modifikation von Fähigkeitswerten, ohne als eigenständige Form der Weltwahrnehmung oder als Ausdruck von Identität und Kultur thematisiert zu werden. Zugleich wird in den Spielen die technowissenschaftliche Optimierung des eigenen Körpers als Normalität konstruiert.

Niklas Platzer stellt in seinem Beitrag „Disabled oder ‚frankly unfair‘? – Darstellung und Verständnis von Disability in Metal Gear Solid V: The Phantom Pain“ fest, dass Behinderung ein fester Bestandteil zahlreicher Figuren der Spielwelt von MSGV ist. Spieler:innen müssen sie in ihre Spielweise einbeziehen, und erleben dabei, wie Behinderung als selbstverständlicher Teil der Welt von MGSV verstanden wird, der weder gerechtfertigt noch entschuldigt werden muss. Der Umgang mit Disability folgt in dem untersuchten Spiel keinem festen Muster, die Charaktere setzen sich individuell mit ihr auseinander und unterliegen dabei keinem äußeren Druck. Gerade durch den Einsatz von Technik wird Disability weder negiert noch überhöht, sondern als Variante des (militärischen) Alltags uminterpretiert. Platzer kommt zum Schluss, dass MGSV somit verbreitete Stereotype über Disability und disabled persons aufbricht.

3. Jasmin Alfeld/Nadine Fischer/Klara Groß-Elixman sowie Giulia Pedrucci/Maurizio Amoroso/Peter Nothbaum stellen zum Abschluss konkrete Spiel-Projekte vor.

Jasmin Alfeld, Nadine Fischer und Klara Groß-Elixman diskutieren in „Beyond the Chalkboard oder Wie ein Serious Game zum Abbau von Barrieren beiträgt“ die Konzeption des Serious Games Beyond the Chalkboard. Dieses soll mithilfe von Sam, der psychisch erkrankten Hauptfigur, Barrieren für psychisch erkrankte Studierende abbauen, Lehrende sensibilisieren und „voraussichtlich 2025 als digitale Open Source-Anwendung zur Verfügung stehen“. Der bestehende Prototyp des Spiels wird dabei in Bezug zu weiteren Serious Games gesetzt, die das Ziel der Sensibilisierung für Personen mit psychischer Erkrankung verfolgen. Im Rahmen dieser Vergleiche wird die Herangehensweise von Beyond the Chalkboard dargelegt. Neben der Relevanz des Themas für viele Studierende wird aufgezeigt, wie mit dem Game Stigmatisierungen entgegengewirkt und Sensibilisierung gefördert werden kann.

Giulia Pedrucci, Maurizio Amoroso und Peter Nothbaum stellen in „MyCraft: An Educational Video Game on Disability in Greek and Roman Antiquity” ein pädagogisches Videospiel (Serious Game) vor, das die Darstellung von Behinderung in antiken Zivilisationen, insbesondere in Griechenland, Rom und Etrurien, durch eine Kombination von Geschichte, Mythologie und interaktivem Gameplay untersucht. Das Spiel interpretiert die historische Perspektive auf Behinderung neu und stellt mythologische Figuren mit Behinderungen als Quellen der Stärke und Weisheit dar. Durch die Integration pädagogischer Inhalte in Form von Rätseln, Artefakten und Dialogen ist es das Ziel des Spiels, Empathie zu fördern und moderne Stereotypen in Frage zu stellen, indem es die Spieler—insbesondere das junge Publikum—dazu anregt, Behinderung als ein soziales Konstrukt zu betrachten, das sich im Laufe der Zeit verändert. MyCraft soll eine Plattform zur Erforschung der kulturellen Bedeutung von Behinderung in der Antike bieten und Inklusion und historisches Bewusstsein fördern.

Die Beiträge dieser Sonderausgabe eröffnen einen breiten Überblick über „Behinderung in digitalen Spielen“. Dabei nähern Sie sich der Thematik auf theoretischer und analytischer Ebene und geben Denkanstöße, wie das bislang stiefmütterlich behandelte Thema in digitale Spiele integriert werden kann.

 

Bildquelle: Gentle Troll: Unstoppables 2 (Android). Deutschland: Gentle Troll 2024.

 

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Hartwig, SusanneKelsch, Jakob: "Digitale Spiele über Behinderung". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 27.03.2025, https://paidia.de/digitale-spiele-ueber-behinderung/. [30.03.2025 - 09:36]

Autor*innen:

Susanne Hartwig

Prof. Dr. Susanne Hartwig studierte Romanistik (Französisch und Italienisch) und Lateinische Philologie an der Universität Münster. Sie promovierte über das französische Theater nach 1945 an der Universität Münster und habilitierte über das zeitgenössische spanische Theater an der Universität Gießen. Sie forschte und lehrte in Münster, Paris, Madrid, Gießen, Potsdam, Erfurt, San José de Costa Rica und Curitiba. Seit 2006 ist sie Professorin für Romanische Literaturen und Kulturen an der Universität Passau. Ihre Forschungsschwerpunkte: Images of Disability, Ethik und Literatur, Gegenwartstheater, lateinamerikanischer Roman der Gegenwart. Aktuelle Projekte: „Erzählung, Erwartung, Erfahrung von Möglichkeiten“; Leitung Netzwerk „Komik und Behinderung“; „Angehörige von Menschen mit Behinderung. Interdisziplinäre Perspektiven.“

Jakob Kelsch

Dr. Jakob Kelsch promovierte 2021 am DFG-Graduiertenkolleg 1681/2 „Privatheit und Digitalisierung“ zur „Konzeption von Familie in der Video-on-Demand-Serie“ (Wiesbaden: Springer) an der Universität Passau. Im Anschluss war er an der Universität Passau im Bereich der Information and Media Literacy beim Lehrerbildungs-Projekt Skill.de und als LfBA an der Professur für Neuere Deutsche Literatur und Mediensemiotik beschäftigt. Im Rahmen des DFG-Projekts „EEEM: Spielerische Reflexion der Wahrnehmung von Behinderung in Film und Theater“ war er zuletzt an der Entwicklung eines digitalen Serious Games beteiligt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Game Studies (insbesondere Serious Games, gesellschaftliche/politische Inhalte in Games), Serien und serielle Narration (insbesondere Zeichentrick- und Familienserien), populärkulturelle Phänomene und die Mediensemiotik.