»äußerst unzufrieden« – Entscheidungsstrukturen in Computerspielen als Produkte ›individualisierbaren‹ Konsums
Die doppelte Wertvorstellung der Entscheidungen
Die derzeitige Videospiellandschaft scheint zumindest aus einer rein subjektiven Perspektive einer Mode unterlegen zu sein, die im weitesten Sinne mit ‚Entscheidungen treffen‘ bezeichnet werden kann. Zahllose Spiele wie The Witcher 3 1 oder Mass Effect 2 locken Spieler mit dem Versprechen, in moralisch gesehen uneindeutigen Situationen Entscheidungen zu treffen, die weder vollends als ‚gut‘ oder ‚böse‘ charakterisiert werden können und darüber hinaus noch den Spielprozess – im besten Fall – nachhaltig beeinflussen. Dass sich der Spieler 3 im ersten Teil von Mass Effect entscheiden musste, welches von zwei Crewmitgliedern in einer halsbrecherischen Mission den Tod findet, hat Konsequenzen für den Abschluss der Trilogie 4, weil eben jene Figur nicht mehr auftaucht, keine Nebenmissionen mehr anbietet und auch nicht für Liebesbeziehungen bereit steht. Aber insbesondere Mass Effect, das als Verkaufsschlager nicht unerheblich zum Trend der moralischen Entscheidungen in Videospielen beigetragen hat, verdeutlicht auch, wie sehr die Aussicht auf eine Mitgestaltung des Spielprozesses und der Erzählung zum Bumerang werden kann. So echauffierte sich die Fangemeinde kurz nach dem Ende des dritten Teils darüber, die Berücksichtigung der bis dahin getroffenen Entscheidungen sei ungenügend:
Ein Großteil der Fangemeinde ist mit Ende der Trilogie äußerst unzufrieden. Hauptkritikpunkte sind zumeist die gewaltigen Logikfehler und die Tatsache, dass sich die Enden entgegen der im Vorfeld der Veröffentlichung von Mass Effect 3 getroffenen Aussage von BioWare nicht sonderlich voneinander unterscheiden. Außerdem wurde [sic!] die Entscheidungen der einzelnen individuellen Spieldurchläufe dabei nicht näher berücksichtigt. 5
Aus der Perspektive einer Videospielphilologie ist die Kontroverse zumindest dann verständlich, wenn nicht der gesamte letzte Teil der Trilogie als ein sehr ausführliches Ende verstanden wird. Dann nämlich muss der Spieler einen von drei bis dahin eher unvorhersehbaren Wegen einschlagen, um so Endsequenzen auszulösen, die die vorhergehenden Entscheidungen kaum mehr aufgreifen – die meisten bisherigen Entscheidungen wurden eher in vorangegangenen Nebenaufgaben zu einem Ende gebracht. Aus der Perspektive der klassischen Philologie, mithin also auch ihrer Didaktik erscheint die Beschwerde der Fangemeinde aber geradezu als ‚mediale Chuzpe‘, immerhin wäre es zwar vorstellbar, aber doch in Bezug auf die Kanonliteratur eher unüblich Goethe, Mann oder auch Süßkind vorzuwerfen, sie hätten die Imaginationen der Leser nicht adäquat aufgegriffen. Was auf der Ebene der Rezeption aber ausschließlich den Unterschied zwischen zwei verschiedenen Medientechnologien, also dem Videospiel und dem Roman markiert, hat für die Mediendidaktik durchaus fundamentale Sprengkraft, weil nun die Frage nach dem Status des Werks erneut gestellt werden muss. Im Angesicht der Entscheidungs- und Gestaltungsfreiräume zahlreicher Videospiele kann etwa Ulf Abrahams und Matthis Kepsers Plädoyer für einen Ausbau der literarästhetischen Produktionskompetenz in Bezug auf den Umgang mit Literatur im Deutschunterricht wie ein Wegbereiter für eine ausgeprägte Auseinandersetzung mit Videospielen verstanden werden – eben weil sie nicht nur imaginativ, sondern auch materialiter ein Produkt des Spielprozesses sind und somit Produktionskompetenzen einfordern. 6 Das von Abraham und Kepser formulierte Aufbegehren gegen eine „Genieästhetik“ 7 steht dabei aber nicht einfach in einem äquivalenten Verhältnis zu den Entscheidungen in Mass Effect; Partizipation in Videospielen ist zwar mit der Produktionskompetenz verwandt, aber nicht notwendigerweise auch deren exaktes Produkt. Vielmehr bieten Videospiele einen durchaus komfortablen Zwischenweg an, die es dem Spieler erlauben, sowohl als produzierende wie auch als konsumierende Instanz aktiv zu werden: Die Spieler fordern ihren eigenen Stellenwert in der Handlung geradezu ein und entsprechen damit dem immer wieder stark gemachten Leser als Produzenten. Sie geben die Verantwortung dafür aber zugleich auch wieder an die Produktionsfirma ab, weil diese ihren Wünschen nicht nachgekommen sei. Sie nehmen demnach eine Position ein, die weder vollständig konsumierend (im Sinne eines eher passiv gedachten Konzepts) noch vollständig produzierend (im Sinne freier Gestaltung) ist. Der Wunsch nach dem Konsum eines maßgeschneiderten Spiels wie auch nach Teilhabe an der Produktion ist dabei durchaus idealistisch aufgeladen, weil diese Werte sonst nicht so vehement eingefordert werden würden. Unabhängig davon, wie der zuvor zitierte Gegenwind in Richtung ‚Autorschaft‘ bzw. Produzent demnach bewertet wird, muss die reine Spielmechanik, die es erlaubt, Entscheidungen anhand von Wertvorstellungen zu treffen und damit konkrete Effekte auf das ‚Textmaterial‘ auszuüben, selbst als Produkt diskursiver Wertvorstellungen angesehen werden. Das bedeutet somit im Sinne einer These, dass zusätzlich zu einer Auseinandersetzung mit den innerhalb der Entscheidungssituationen aufgerufenen Wertvorstellungen, der Wunsch danach, überhaupt entscheiden zu dürfen, schon aus historisch spezifischen Wertvorstellungen hervorgegangen ist.
Wenn also in dieser Schwerpunktausgabe die Rede von Wertvorstellungen ist, muss doppelte Ebene des Begriffs in Bezug auf Videospiele bedacht werden: Zum einen meint er den im Einführungsbeitrag skizzierten Umgang mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen in Abgrenzung zu Normen. Zum anderen ist aber der Wunsch nach Entscheidungen im Sinne medialer Partizipation ein Aufbegehren gegen die Produktionshoheit des ‚Autors‘, bei gleichzeitiger Formulierung einer Forderung an selbigen, wodurch diese Instanz als Dienstleister umfunktioniert und betont wird. Der Spieler genießt somit alle Vorteile der produzierenden Instanz, weil die im Spiel platzierten Gratifikationen durch Plot und Spielstruktur ihn belohnen und der gesamte Verlauf seine Leistung ist. Zugleich kann er diese Verantwortung für den eigentlichen Text aber bei Bedarf an die Entwickler abgeben und im Sinne einer Genieästhetik argumentieren. So gesehen ist die Debatte um Mass Effect 3 ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass der Transport von Wertvorstellungen in Entscheidungssituationen von Videospielen unmittelbar an die Selbstidentifikation des Spielers als Kunde bzw. Fan gebunden ist. Die damit einhergehenden explizit gemachten moralischen und ethischen Fragen entsprechen aber zuerst implizit kapitalistischen und leistungsorientierten Grundwerten. 8 Diese eigentlich problematischen Grundwerte sind in Spielen wie Mass Effect aber nicht selten mit deutlich positiver bewerteten Konzepten überschrieben. Konkret geht es in solchen Spielen oft genug um ‚Entscheidung‘ und ‚Freiheit‘ sowie ‚Biografie‘ und ‚Identität‘, die aber erst auf der Basis kapitalistischer Grundwerte thematisiert werden.
Bevor die Frage nach dem Umgang mit den wertbasierten Entscheidungen in Videospielen gestellt werden kann, muss also eine zweite Ebene eröffnet werden, die selbige Entscheidungen in einem Spektrum zwischen dem Kulturgegenstand und Konsumgegenstand ‚Videospiel‘ verortet. Handlungspraktisch bedeutet das für den Unterricht, einen kritischen Zwischenschritt zu unternehmen, der die implizit vermittelten Werte expliziert. Dies ist aber mit Blick auf die gekoppelten Konzepte – etwa der ‚Konsument‘, der ‚Freiheit‘ einfordert – gar nicht leicht, da immer die Gefahr besteht, einen vermeintlich investigativen, entlarvenden Unterricht zu gestalten, der nicht kreativ, sondern ablehnend mit einem kulturellen Gegenstand umgeht. Deshalb ist es sinnvoll, die hier verhandelten Konzepte noch einmal anders als bisher aufzustellen, um sie sichtbar zu machen. Im Folgenden wird deshalb die These verfolgt, dass die bisher aufgezeigten Widersprüche und die Zwischenpositionen gut beschrieben werden können, indem die Begriffe Individualisierung (im Sinne der Entwicklung eines gesellschaftlichen Selbstbildes durch Lebensentscheidungen), Personalisierung (als Modus, in dem sich Spieler ein Videospiel zu eigen machen) und Customization (als herstellerseitiges Verkaufsargument für ein Spiel) hinzugezogen werden. Die folgenden Überlegungen sind dabei aus einem Modell der Medienkompetenz heraus entstanden, das auf der Basis medialen Struktur- und Orientierungswissens Informationstechnologien und diverse Medienkanäle nutzbar machen will, um „die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit zu der von Oligopolen beherrschten Öffentlichkeit“ 9 zu ermöglichen. Konkret bedeutet dies, erstens zu überlegen, mit Hilfe welcher technischer Strukturen solche Entscheidungen realisiert werden, wie der Modetrend ‚Entscheidungen zu treffen‘ zweitens videospiel-historisch gewachsen ist, wie Individualisierung, Personalisierung und Customization drittens zueinander in Beziehung gesetzt werden können sowie kritisch reflektiert werden müssen. 10
Strukturwissen: Welche Entscheidung darf’s denn sein?
In einer aktuellen Ausgabe der populären Computerspiel-Zeitschrift Gamestar streiten sich zwei Redakteure in einer Pro- und Contra-Diskussion um die Frage, ob Entscheidungen ein Fluch oder ein Segen für Spieler sind. Benjamin Dannenberg sieht in den Entscheidungen eine mediale Stärke von Videospielen: „Dass ich als Spieler wählen kann, wie eine Geschichte verläuft oder ausgeht, hebt Spiele von Medien wie Büchern und Filmen ab.“ 11 Der Verfasser nimmt also die erste Position des Spielers ein und verteidigt dabei seinen Anspruch auf Teilhabe am narrativ gerahmten Spielprozess. Demgegenüber steht Thorsten Keuchlers Meinung, der im Anschluss an eine Genieästhetik argumentiert und damit die Rolle der Entwickler als Geschichtenerzähler betont. „Egal ob ‚Der Pate‘ oder ‚Casablanca‘: Kein erzählerisches Meisterwerk der Kulturgeschichte hätte davon profitiert, von seinen Lesern oder Zuschauern mitbestimmt zu werden.“ 12 In den beiden Einzelmeinungen kommt das Spannungsverhältnis aus Partizipationswille und -forderung also besonders gut zur Geltung. Unklar bleibt aber, von welchen Entscheidungen eigentlich genau die Rede ist, zitiert insbesondere die Zeitschrift Gamestar doch immer wieder den Satz des Spieleentwicklers Sid Meier, Spiele bestünden aus einer Abfolge interessanter Entscheidungen. 13 Meiers (Strategie-)Spiele allerdings haben kaum etwas mit den moralisch gefärbten Entscheidungen eines Mass Effects zu tun, sondern drehen sich eher um rein spielmechanische Überlegungen: Welche Technik soll erforscht werden? Welchen Landstrich erkunde ich als nächstes? Wie kann ich mehr Geld für meine Siedlung einnehmen? Insofern stehen zwei Entscheidungsbegriffe in Konkurrenz zueinander, die erst mit Hilfe eines geeigneten Videospielmodells geklärt werden können und mit denen Schüler im Umgang mit Videospielen konfrontiert werden. Ein solches Wissen kann im Zuge der bisherigen und der nachfolgenden Überlegungen erarbeitet werden, indem eine rein spielstrukturelle Perspektive auf die Entscheidungssituationen geboten wird.
Videospiele basieren zumindest auf drei Realisierungsebenen, die zwar begrifflich voneinander geschieden, aber niemals vollkommen unabhängig voneinander funktionieren. Dieter Mersch hat auf eine faktisch-rationalen Ebene hingewiesen, wegen der Videospiele keine Erzählung hätten, sondern „der binären Logik der Spielabläufe selber [gehorchen].“ 14 Selbst wenn dieser Einschätzung nicht vollends zugestimmt werden kann, macht sie doch auf eine kühle mathematische Ebene von Spielen aufmerksam. Die erste Ebene ist deshalb die der Simulation bzw. die der Weltregeln. Hier liegen alle Elemente des Videospiels als mathematische Konstrukte vor, die sorgsam miteinander und mit den Eingaben des Spielers verrechnet werden. Diese Ebene gleicht einer Buchhaltungsbilanz, die mathematische Werte zueinander in Beziehung setzt. Die zweite Ebene bildet der Spielprozess, der auf Problemkonstrukten und deren vom Spiel gegebenen Lösungsmöglichkeiten basiert. 15 Auf der dritten Ebene kommt eine Erzählung hinzu, die im Wesentlichen versucht, möglichst viele simulative und spielprozessuale Elemente mit einer narrativen Rahmung zu versehen. Zumeist realisieren Videospiele eine Vorgeschichte, die vor dem Spiel stattgefunden hat. Zudem greifen Videospiele zentrale Ereignisse aus dem Spielprozess auf und ziehen aus diesen Konsequenzen für die weitere Erzählung oder den Abschluss des Spiels 16. Sprich: Mass Effect lädt den actionlastigen Spielprozess mit einer Vorgeschichte auf und wirft den Spieler dann in Missionen, die aus jener Vorgeschichte hervorgegangen zu sein scheinen. Einige der in den Missionen getroffenen Entscheidungen, zumeist solche aus dialogischen Situationen, merkt sich das Spiel, um später daraus auf der Basis mathematischer Berechnungen Konsequenzen abzuleiten. Andere rein spielprozessuale Überlegungen, etwa wann der Spieler im Gefecht Deckung sucht oder sein Magazin wechselt, werden bei dieser Form der Konsequenzbildung in der Regel ausgespart.
Die Entscheidungen, von denen also Sid Meier spricht, sind demnach zuallererst spielprozessualer Art, wohingegen die mit Wertvorstellungen aufgeladenen Entscheidungen narrativer Couleur sind. Zweifelsohne sind Mischformen dieser beiden Entscheidungsarten die kniffligsten. So gerät die bereits angesprochene Entscheidung um den voraussichtlichen Tod eines der beiden Crewmitglieder aus Mass Effect zu einem Konflikt zwischen Spielstrategie (Welche der beiden Figuren unterstützt meinen Kampfstil besser?) und Narration (Welcher der beiden Figuren stehe ich näher?). 17
Es wäre nun besonders leicht, alle nicht-narrativen Entscheidungsformen einfach auszuklammern und fortan nur noch von narrativen Entscheidungen zu sprechen. Dies missachtet aber die generelle Struktur, auf denen diese Entscheidungen basieren. Was nämlich alle Formen der Entscheidung im Videospiel gemein haben, ist, dass sie in Konsequenzen umgewandelt werden müssen. Videospiele als mathematische Vermessungsstrukturen anzuerkennen 18, bedeutet, die Bilanzierung als eines ihrer Zentralprinzipien anzuerkennen. Dieser Prozess, der auf der Simulationsebene beispielsweise dafür sorgt, dass eine bereits gestorbene Figur qua mathematischem Protokoll nicht wieder auftaucht oder eine spezifische Waffe je spezifisch numerisch codierte Schadenspunkte abzieht, gerät so auch zum Ziel narrativer Entscheidungen. In Filmen wie Boyhood 19, der das Erwachsenwerden eines Jungen über 12 Jahre begleitet, sind beispielsweise nur ein geringer Teil der Szenen kausal motiviert, eben weil im Leben nicht jedes Ereignis auf allen bisherigen aufbaut. In Videospielen, insbesondere in der Debatte um Mass Effect hingegen wird genau dieses Verfahren zum Gegenstand der Kritik. Weil Spieler es gewöhnt sind, in Videospielen permanent mit simulativen, spielprozessualen und nun auch narrativen Bilanzen umzugehen, kommt der Wunsch nach der Selbstwirksamkeit des Spielers überhaupt erst auf. Die Forderung nach narrativer Entscheidungsfreiheit ist den eigentlich wenig narrativen anderen Ebenen des Spiels geschuldet und schreibt so eine zumindest in Ansätzen zahlenlogische Grundsteuerung in die Narration ein. Dies fokussiert den Blick stärker auf den Mechanismus, der die Selbstwirksamkeit in Videospielen überhaupt erst bedingt: Die Interaktion als historisches Konzept.
Historisches Orientierungswissen: Entscheidungen sind die neuen Interaktionen
Der Begriff der Interaktion ist auf der einen Seite eng mit den narrativen Entscheidungen verbunden. Auf der anderen Seite gilt er aber auch als ‚old school‘ und wird deshalb von den narrativen Entscheidungen abgelöst. Insofern ist im Sinne der Medienkompetenz neben dem technischen Modellwissen auch ein historisches Strukturwissen bedeutsam. Grundsätzlich sind die Begriffe Interaktivität, Virtualität und Entscheidung wohl allesamt eher Labels und Modewörter als konzise definitorische Bestimmungen, weil sie alle kritisiert und in besseren Begriffen integriert werden können. So verweist Matthias Mertens darauf, dass Videospiele nur scheininteraktiv sind, weil sie eigentlich eine vorbereitete Umgebung darstellen, in denen ausschließlich bereits vorgefertigte Ereignisse realisiert werden können. 20
Der Begriff selbst bezeichnet in den Text-Adventures den Modus, sich zwischen verschiedenen Wegen, nach links, rechts, geradeaus oder zurück zu bewegen. Dementsprechend hat etwa Espen Aarseth sein Konzept des ergodischen Textes auch auf den Begriffen Weg und Arbeit aufgebaut und zielt dabei auf die Arbeit des Spielers hin, zwischen verschiedenen Varianten von Textbausteinen zu entscheiden, um so einen eigenen Weg durch das jeweilige Spiel zu finden. 21 Auch Marie-Laure Ryans Immersionsmodelle stellen Texteinträge und deren Verlinkungen in das Zentrum ihrer Videospiel-Narratologie. 22 Aarseths und Ryans Modelle sind deutlich differenzierter als der Begriff Interaktion allein zu fassen vermag.
Aus dieser Perspektive erscheint die Interaktion als ein Werbewort, das videospiel-historisch betrachtet vermutlich die Partizipation als Herausstellungsmerkmal von Videospielen bewahren sollte, ohne auf die Anfang der 1990er Jahre so immens populär besprochene, jedoch niemals realisierte Virtual Reality (VR) zu verweisen. Dem Versprechen einer vollends immersiven Welt, in der der Spieler tun und lassen kann, was er will, sind Videospiele bis heute auch aufgrund technischer Grenzen niemals nachgekommen. Selbst neuere Ansätze wie die Sichtbrille Oculus Rift tun sich aufgrund von Motion Sickness, also dem Unwohlsein, das aus der Differenz zwischen stillstehendem Körper und sich vor dem Auge abspielender Bewegung resultiert, schwer, VR zu realisieren. Der Begriff der Interaktivität schien ab der Mitte der 1990er Jahre viel treffender zu sein, eben weil er die Verheißungen digitalen Spielens stark eingrenzt und neu fokussiert. So versuchten etwa die so genannten ‚Interaktiven Filme‘ der Produziertheit und der noch immer vorhandenen Abgeschlossenheit von Videospielen Rechnung zu tragen, ohne die partizipatorischen Besonderheiten von digitalen Spielen zu vergessen. Ein erster Startpunkt dieser Entwicklung ist das Adventure Indiana Jones and the Fate of Atlantis 23 in dem der Spieler an einer Stelle entscheiden kann, ob er lieber einen rätsellastigen oder einen kämpferischen Spielstil pflegen will. Diese Entscheidung resultiert in zwei vollkommen unterschiedlichen mittleren Spielabschnitten, weil beide Entscheidungen zu je unterschiedlichen Orten führen. Sofern diese Situation als interaktiv bezeichnet werden kann, verweist der Begriff gleichermaßen auf die Vorproduktion wie auch auf die spielerische Freiheit. Die Entwickler haben einerseits zwei Bereiche geschaffen, zwischen denen der Spieler entscheiden soll. Andererseits lautet das Versprechen der Entwickler, dass der Spielstil des Spielers berücksichtigt wird, dass beide Teile narrativ funktionieren und die Erzählung selbst nicht zerstört wird, wenn jemand nur einen der beiden Wege kennt.
Was in einem technisch relativ einfachen Spiel wie Indiana Jones and the Fate of Atlantis allerdings noch als äußerst interaktiv gegolten haben mag, ist in späteren komplexen Spielen deutlich ausdifferenzierter. In Welten, in denen Objekte physikalisch korrekt berechnet werden, der Spieler also mit Gegenständen, Figuren, narrativen und spielprozessualen Ereignissen auf verschiedenen Wegen umgehen kann, ist der Begriff der Interaktivität unpräzise. Er kann narrative Entscheidungen meinen, er kann aber auch einfach bedeuten, einen Ball im Spiel zu werfen, der dann den nachgebildeten Regeln der Naturgesetze folgend reagiert. Da letztlich alle Videospiele auf solchen Feedback-Mechanismen basieren, erzeugt der Begriff auch im Zuge der wissenschaftlichen Kritik nicht einmal mehr einen Mehrwert in Sachen Werbung. Zumal ja das vermeintliche Alleinstellungsmerkmal des interaktiven Videospiels spätestens in der zum Glück abgeklungenen Killerspiel-Debatte abermals zum Bumerang wird. Hier gilt nämlich die Interaktivität des Mediums als größtes Problem mit der medialen Gewalt in Videospielen, weil nun die Spieler direkt für die Gewaltanwendung verantwortlich sein sollen.
Es gibt also um die Jahrtausendwende herum den Bedarf nach einem positiveren Label für die Interaktivität. Spätestens jetzt ist der Begriff der Entscheidung von besonderer Bedeutung. Entscheidungen zu treffen heißt, in einem Meer von Möglichkeiten zu schwimmen und je nach vorhergehenden Überlegungen selbst dafür Rechnung zu tragen, einen Weg einzuschlagen, einen anderen Weg auszuschlagen. Deshalb ist es möglich, etwa das Actionspiel Deus Ex 24 schleichend ohne tödliche Gewalt zu lösen. Gewalt ist spielstrategisch, wie auch narrativ denkbar, sie ist nur nicht mehr länger die einzige Möglichkeit zur Problemlösung. Solche Prozesse als Entscheidungen zu bezeichnen, spricht den Entwicklern also eine neue Verantwortung zu, nämlich Möglichkeiten zu eröffnen, deren Konkretisierung dann den Spielern obliegt – womit die Verantwortung für das nur als Möglichkeit gedachte Handeln des Spielers nicht mehr nur bei den Entwicklern zu suchen ist. Elena Esposito bringt in diesem Zusammenhang den Begriff der Virtualität ins Spiel, der „mögliche Möglichkeiten“ 25 meint, also die in Aussicht gestellten, noch nicht konkretisierten Entscheidungswege bezeichnet. Die moralische Verantwortung verschiebt sich hierbei (vermeintlich) auf die Rezipientenseite. Vermeintlich deshalb, weil die offerierten Angebote weiterhin vorprogrammiert werden. Der Trick solchen Spieldesigns liegt somit weniger darin, dem Spieler die Möglichkeit zur Bildung eines spielerischen Selbst zu geben und ihn tatsächlich moralisch entscheiden zu lassen. Vielmehr steht im Zentrum die Suggestion, das Spiel biete so differenzierte Entscheidungsmöglichkeiten an, dass der Spieler als komplexes gesellschaftliches Wesen etwas über sich selbst erfährt. Dass dabei viele Entscheidungen hochgradig verknappt sind, und zwar sowohl was die Vorgeschichte, als auch was die tatsächlichen Entscheidungsmöglichkeiten angeht, fällt dabei zumeist erst bei einem zweiten Spieldurchgang auf, wenn nämlich die wenigen Differenzen zwischen den verschiedenen Spielabläufen offenbar werden. So zumindest lautete einer der Kritikpunkte am Ende von Mass Effect 3. Hier gerät die Verschiebung der Verantwortung auf die Rezeptionsseite auch zum Problem: Eine solche Kritik weist nämlich auf das Bewusstsein des Spielers in Bezug auf die drei benannten Realisierungsebenen hin, weil es im zweiten Durchgang die Aufgabe ist, die Knotenpunkte und Schaltstellen der simulativen und der spielprozessualen Ebene ausfindig zu machen und sie in dieser Funktion zu überprüfen. Dies kann auch aus dem narrativen Interesse heraus geschehen, die anderen Erzählvarianten zu erspielen. Sofern diese dann als nicht befriedigend, weil nicht ausreichend abweichend von den vorhergehenden Entscheidungen verstanden werden, ist es möglich, das Spielsystem zu kritisieren. In der Kritik schwingt dann aber das Grundverständnis des Spielers als Konsument mit, der das Produkt – und zwar nicht sein mitgestalteter ‚Spieltext‘, sondern das Spiel als Ware – auf seine mechanischen Fehler hin abklopft. In den Entscheidungssituationen sind demnach die eigentlich positive ‚investigative‘ Kritik am Spiel, damit einhergehend die Kritik an der Spielstruktur immer auch mit dem Konsumgedanken durchwirkt. Auch dies kann ein Vorteil für die Spielentwickler sein. Sofern nämlich der Konsumwunsch befriedigt wird, der Spieler als Konsument also zu seinem vollen Entscheidungsrecht kommt, werden die Spielstruktur und die Erzählvarianten deutlich seltener explizit diskursiviert.
Spielprozesse als entscheidungsreich zu titulieren, hat aber einen weiteren wesentlichen Vorteil: Während Interaktion und Virtualität vor allem technisch geprägte Konzepte sind, die immer auch einen Bezug zur mathematischen und digitalen Grundlage von Videospielen aufweisen, schlagen die Entscheidungen einen anderen Weg ein, weil sie viel stärker im Alltagsverständnis von Menschen verankert sind. Sofern nämlich Leben und Biografien als Summe von Entscheidungen verstanden werden, rückt dieser Begriff auch die narrativen Entscheidungen von Videospielen in den Vordergrund. Kein Wunder also, dass Spiele wie Mass Effect oder The Witcher eigentlich Biografiespiele sind, in denen der Spieler qua Entscheidung den Lebensweg des Avatars erspielt. Diese mehr oder weniger alltäglichen Entscheidungsprozesse, die heute unter dem Stichwort ‚Individualisierung‘ firmieren, verbinden die so gespielten Lebensläufe aber insbesondere in Bezug auf die Debatte um Mass Effect mit zwei zentralen Vermarktungskonzepten: der Personalisierung und der Customization.
Kritische Reflexivität: Zwischen Individualisierung, Personalisierung und Customization
Das Konzept der Individualisierung ist in den Sozial- und Geisteswissenschaften vermehrt im Angesicht dezentralisierter Alltagsabläufe und verlorener fester Rahmen für die Identitätsbildung entstanden. „Ein individualisiertes Leben zu leben bedeutet, existenziell verunsichert zu sein. Existenziell verunsichert zu sein, bedeutet nicht notwendigerweise, unter dieser Existenzweise zu leiden.“ 26 Individualisierung meint, ein zu „‚Freiheit verurteiltes‘ Leben“ 27 zu leben, also wie auch in vielen Videospielen aus verschiedenen Pfaden und Möglichkeiten auszuwählen. 28 Was sich aber hier zunächst noch recht positiv anhört, ist eigentlich der Fragmentarisierung der erfahrbaren Alltagswelt, gesellschaftlicher Prozesse wie auch der eigenen Identität geschuldet. Individualisierung bewegt sich also in einem Feld aus Entscheidungssituationen, in denen es keine richtigen oder falschen Wege mehr gibt und dem „Anspruch und […] Zwang zugleich zu einem (mehr oder weniger) ‚eigenen‘ Leben.“ 29 Im Zuge solcher Entscheidungsprozesse stehen noch Sinnangebote als Wegweiser zur Verfügung, allerdings sind sie „mit begrenzter Reichweite und Haftung“ 30 ausgestattet, sodass keine dauerhafte Verpflichtung aus ihnen erwächst. Vereinfacht gesagt: Wer gestern noch als Videospiel-Nerd sein Leben vor der Konsole verbracht hat, kann schon morgen in der Einöde ohne Strom leben und umgekehrt. Daher verwundert es nicht, dass Ronald Hitzler und Anne Honer den Menschen als „Bastler“ 31 ansehen, der sich sinnhafte Grundstrukturen wie auch die Pfade seiner Entscheidungen im Grunde selbst zusammenbaut.
Die narrativen Entscheidungen in Videospielen entsprechen dieser Anmutung der Lebenswirklichkeit durch ihre partizipatorische Dimension auf eine besondere Weise. Zunächst greifen sie das zentrale Problem heranwachsender, aber auch fortgeschrittener Lebensbastler auf, indem sie ihnen vermeintlich wie im echten Leben Entscheidungsmöglichkeiten ohne klare Bestimmung oder Rahmung vorgeben, die darüber hinaus noch aus zumeist politisch komplexen Vorgaben und Vorentscheidungen resultieren. Wenigstens die Vorgeschichte suggeriert, dass die Spielwelt bereits eine bewegte Vergangenheit besitzt. Anders als das ‚zur Freiheit verurteilte alltägliche Leben‘ geben Videospiele aber auch das Versprechen einer kausalen Motivierung. Der Spieler vertraut darauf, dass die Entscheidungsprozesse an irgendeiner Stelle im Spielprozess wieder aufgegriffen und bilanziert werden, sodass seine Selbstwirksamkeit im Spiel deutlich größer ist als beispielsweise im Alltagsleben – hier können selbst schwierige Entscheidungen nämlich durchaus gar keine Konsequenzen haben. Zumal die Hilfestellung in Videospielen oft genug größer ist, sodass Mass Effect beispielsweise zwischen heldenhaftem und abtrünnigem Verhalten unterscheidet und diese Möglichkeiten im Dialoginterface farblich und räumlich markiert. Der Spieler hat also die Sicherheit, zu wissen, in welche Richtung er sich entscheidet und wird im Laufe der Trilogie in nahezu allen bilanzierenden Situationen merken, dass seine heldenhaften Entscheidungen sich zumeist positiv auf die Spielwelt und die Nebenfiguren auswirken.
Mass Effect ist nach den bisher benannten Ergebnissen kein wirklich individualisierendes Spiel, sondern eines, das sich durch verschiedene Spielstrukturen recht geschickt der Individualisierung anschließt. Eine solche Annäherung soll im Folgenden als Personalisierung verstanden werden. Personalisierung bezeichnet den Modus, in dem sich Spieler ein Videospiel aneignen können. In GTA 32 wählt der Spieler etwa eigene Radiosender beim Autofahren aus. In The Sims 3 33 ist es möglich, die eigenen Spielfiguren und deren Behausungen individuell zu gestalten, Texturen und Farben der Kleidung, der Tapeten, des Autos und dergleichen mehr auszusuchen und sogar eigene Mode mit 3D-Editoren zu entwerfen. In Mass Effect gibt es ab dem zweiten Teil der Trilogie 34 zumindest die Möglichkeit, den eigenen Raumanzug umzugestalten und ein eigenes Set an Waffen und Fertigkeiten auszuwählen. Zudem sind die zahlreichen Entscheidungssituationen eher einer Personalisierung denn einer Individualisierung geschuldet: Das Statement der Fangemeinde, also die an die Entwickler gerichtete Forderung nach stärkerer Berücksichtigung der eigenen Entscheidungen am Ende des dritten Teils spricht eher für die Personalisierung. Die Individualisierung kennt nämlich keine zentrale Instanz, die Entscheidungen vorgibt. Vielmehr sind es gewachsene Strukturen und Beziehungen, aber auch eigene Erfahrungen und Orientierungen, die die jeweiligen Entscheidungen in spezifische Richtungen lenken. In der Debatte um Mass Effect gilt aber letztlich nicht, dass die aufgeführten Konsequenzen, die als mangelhaft bewertet werden, den im Spiel dargestellten Umständen entsprechen. Vielmehr verstehen sich die Spieler durch die Beschwerde als Kunden, die eine eindeutige Serviceleistung der Entwickler bemängeln. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn die Werbetexte zum dritten Serienableger betrachtet werden:
Du bist Commander Shepard, ein Charakter den du nach deinen eigenen Vorstellungen anpassen und formen kannst. Du bestimmst wie sich die Ereignisse entwickeln werden, welche Planeten du erforschst, mit wem du Bündnisse schließt, während du eine Streitmacht mobil machst, um die Reaper ein für alle Mal zu eliminieren. […] Mass Effect 3 reagiert auf jede deiner Entscheidungen und wird so zu einem einzigartigen Spielerlebnis. 35
Der Werbetext verspricht einen hohen Personalisierungsgrad, um dann allmählich zu den Entscheidungen im Sinne der Individualisierung der Lebensbiografie der Spielfigur überzugehen. Das Problem mit dem Ende der Trilogie lautet also, dass die als Individualisierung thematisierte Personalisierung nicht funktioniert und einen Kundenaufruf notwendig macht.
Das bedeutet, dass die verhandelte Individualisierung – so positiv sie grundsätzlich sein mag – samt der damit einhergehenden Wertvorstellungen mit dem deutlich nüchterneren und wirtschaftlicheren Konzept der Personalisierung einhergeht. In diesem Zusammenhang kommt auch die Customization ins Spiel, die im Angelsächsischen eigentlich ebenfalls das bezeichnet, was in diesem Beitrag unter dem Begriff der Personalisierung zusammengefasst wird. 36 Hinsichtlich einer differenzierteren insbesondere schulischen Bewertung von Videospielen ist es aber sinnvoll, die beiden Begriffe auszudifferenzieren, zumal die im Englischen enthaltene Denotation von Customization eben eine ‚kundenfreundliche Personalisierung‘ meint. Während hier also Personalisierung den eigentlich neutralen Modus umschreibt, in dem Spieler Strukturen des Videospiels verwenden, um den Spielprozess auf sich selbst abzustimmen – und damit kann schon die Anpassung des Spiels an die Hardware gemeint sein – , verweist Customization auf das wirtschaftliche Interesse, Personalisierung als zu bewerbendes Feature anzubieten. Der oben abgedruckte Werbetext zu Mass Effect stellt demnach die wirtschaftliche Grundeinstellung des Unternehmens BioWare bzw. dessen Publishers ElectronicArts aus, Personalisierung als Feature anzubieten. Der Spieler kann sein Spiel dann personalisieren und diese Spielstruktur thematisch zur Individualisierung in Bezug setzen.
Ausblick: Werte kritisch reflektieren
Individualisierung, Personalisierung und Customization bilden zusammenfassend das Grundgerüst eines doppelten Wertebegriffs in Bezug auf Entscheidungen in Videospielen. Wichtig ist vor allem in didaktischer Hinsicht, dass die wirtschaftlichen Grundwerte kritisch hinterfragt werden, die sich im Zuge der Customization über die Personalisierung ergeben. Kritisch – und dieser Begriff ist im Zuge des Artikels mehrfach selbst kritisiert worden – meint nicht eine möglichst skeptische Grundhaltung gegenüber einem medialen Gegenstand. Bernd Schorb spricht beispielsweise eher von „Kritische[r] Reflexivität“ 37 und meint damit, den in diesem Aufsatz ebenfalls hinterfragten Wechsel des Konsumenten in die Rolle des Produzenten zu vollziehen, der Medien einsetzt, um eine Gegenöffentlichkeit gegen vorherrschende Meinungen bilden zu können. Diesen Wechsel als Voraussetzung für den Begriff der Medienkompetenz zu verwenden, ist aber nicht ohne weiteres möglich: Er impliziert nämlich, den Rezipienten immer auch primär als Konsumenten zu verstehen. Damit kann sowohl Konsum als Sinneswahrnehmung wie auch als kapitalistische Grundhaltung gemeint sein. So verweist Schorb auch auf die analytische, ethische und vor allem reflexive Dimension der Medienkompetenz, wobei letztere es ermöglicht, die je analytisch gewonnenen und ethisch bewerteten Erkenntnisse reflexiv auf die eigene Lebenspraxis zu beziehen. 38 Kritisch reflexiv zu handeln, bedeutet in Bezug auf die Diskussionen um Mass Effect somit, das medienstrukturelle Wissen um die Produziertheit von Videospielen zu erarbeiten und die eigenen Wertungskriterien hinsichtlich des hier eröffneten Spannungsverhältnisses von Produktion und Konsum auch und gerade in Bezug auf die Entstehung dieser Wertungskriterien aus kapiatlistischen Grundwerten heraus zu hinterfragen, um die eigene Position zu überdenken. Ein solcher Ansatz erlaubt es, das Spiel in einem Spektrum wirtschaftlicher Interessen (Customization) auf der einen Seite und künstlerischer Überlegungen (Individualisierung als thematischer Gegenstand) anzusiedeln. Die Personalisierung ist dementsprechend der Mittlerbegriff, in dem sowohl Aspekte der Individualisierung als auch der Customization wirksam werden. Zudem erlauben es die drei Konzepte, den emphatischen Begriff der Produktion bzw. ihrer Kompetenz und den gleichsam negativ behafteten Begriff des Konsums aufzulösen, um eine Grundlage für eine produktive Anschlusskommunikation zu erarbeiten. Dabei ist es längerfristig das Ziel, den durchaus genuss- und lustvollen Umgang mit kulturellen Produkten und ihren Ästhetiken jenseits einer Rezension der Spiel- und Erzählstrukturen zu fördern. Eine solche Bewertung von Videospielen anhand von Medienwissen, einem geschulten Auge für Darstellungskonventionen und -traditionen wie auch anhand des eigenen Geschmacks ist dabei weniger problembehaftet als die bisher skizzierten Konzepte.
Die Aufgabe ist es also, die impliziten wirtschaftlichen Wertvorstellungen zu explizieren und zu den Wertvorstellungen der narrativen Entscheidungen auf der Ebene einer thematisierten Individualisierung in Bezug zu setzen. Konkret bedeutet dies, das didaktische Handlungsfeld der Videospiele, wie es Matthis Kepser in einem Beitrag bestimmt hat 39, auf den Schnittpunkt zwischen der Videospielanalyse, der Videospielnutzung und der Position des Videospiels in der Mediengesellschaft zuzuschneiden. Ein solches Vorgehen ist insbesondere dem Literaturunterricht nicht fremd. Kaspar Spinners elf Aspekte literarischen Lernens beispielsweise 40 bieten schon einige – wenn auch unter anderen medialen Vorzeichen entstandene – verwandte Konzepte, die für ein solches Unterrichtsvorhaben geeignet sind: Die Aspekte Vorstellungen zu Entwickeln 41, die subjektive Involviertheit und die genaue Wahrnehmung in Verbindung zu bringen 42, aber auch die Perspektiven (literarischer) Figuren einzunehmen 43 und das Verständnis der narrativen und dramaturgischen Handlungslogik 44 bilden ohnehin Grundlagen für einen Genuss wie auch eine Reflexion von Mass Effect und ähnlichen Spielen.
Verzeichnis verwendeter Medien
Spiele
- CD Project Red: The Witcher 3 – Wild Hunt. 2015.
- BioWare: Mass Effect. 2007.
- BioWare: Mass Effect 2. 2010.
- BioWare: Mass Effect 3. 2012.
- LucasArts: Indiana Jones and the Fate of Atlantis. 1992.
- Ion Storm: Deus Ex. 2000.
- Rockstar: Grand Theft Auto V. 2014.
- Maxis: The Sims 3. 2009.
Filme
- Linklater: Boyhood. Houston: ders. 2014.
Texte
- Aarseth, Espen J.: Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore u.a.: The Johns Hopkins University Press 1997.
- Abraham, Ulf/Kepser, Matthis: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 3. Neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Erich Schmidt 2009.
- Backe, Hans-Joachim: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.
- Baerg, Andrew: Risky Business: Neo-liberal Rationality and the Computer RPG. In: Voorhees, Gerald /Call, Joshua/Whitlock, Katie (Hg.): Dungeons, and Digital Denizens: The Digital Role-Playing Game. New York: Continuum, 2012, S. 153–173.
- BioWare: Mass Effect 3. Produktbeschreibung auf <http://www.amazon.de/Electronic-Arts-Mass-Effect-3/dp/B004FPYHBE/ref=sr_1_1_twi_gam_4?ie=UTF8&qid=1444041750&sr=8-1&keywords=Mass+Effect+3> [05.10.2015].
- Dannenberg, Benjamin: Freiheit ist ein Geschenk. Pro: Entscheidungen in Spielen. In: Gamestar. Die ganze Welt der PC-Spiele. Jg. 2015, H. 10, S. 14.
- Engelns, Markus: Spielen und Erzählen. Computerspiele und die Ebenen ihrer Realisierung. Heidelberg: Synchron 2015.
- Esposito, Elena: Fiktion und Virtualität. In: Krämer, Sybille (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 269–296
- Graf, Michael: Anspruchslosigkeit von Game of Thrones – Lame of Thrones – Ist das noch ein Spiel? <http://www.gamestar.de/spiele/game-of-thrones-a-telltale-games-series/artikel/anspruchslosigkeit_von_game_of_thrones,50363,3080962,2.html> [04.10.2015].
- Hitzler, Ronald; Honer, Anne: Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung. In: Beck, Ulrich; Beck-Gernsheim (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. 8. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012, S. 307–315.
- Kepser, Matthis: Computerspielbildung. Auf dem Weg zu einer kompetenzorientierten Didaktik des Computerspiels. In: Boelmann, Jan M.; Seidler, Andreas: Computerspiele als Gegenstand des Deutschunterrichts. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2012, S. 31–48.
- Keuchler, Thorsten: Der faulste aller Kompromisse. In: Gamestar. Die ganze Welt der PC-Spiele. Jg. 2015, H. 10, S. 15.
- Mersch, Dieter: Logik und Medialität des Computerspiels. Eine medientheoretische Analyse. In: Distelmeyer, Jan; Hanke, Christine; Mersch, Dieter (Hg.): Game Over!? Perspektiven des Computerspiels. Bielefeld: Transcript 2007, S. 19–42.
- Mertens, Mathias: Computerspiele sind nicht interaktiv. In: Bieber, Christoph; Leggewie, Claus (Hg.): Interaktivität. Ein transdisziplinärer Schlüsselbegriff. Frankfurt a. M.: Campus 2004, S. 272–288.
- O. A.: Kontroversen zu Mass Effect 3. 2012. In: Mass Effect Wikia. <http://de.masseffect.wikia.com/wiki/Kontroversen_zu_Mass_Effect_3> [04.10.2015].
- Pias, Claus: Computer. Spiel. Welten. Weimar: Bauhaus-Universität 2000.
- Pieper, Irene: Lese- und literarische Sozialisation. In: Kämper-van den Boogaart; Spinner, Kaspar H. (Hg.): Lese- und Literaturunterricht. Teil 1: Geschichte und Entwicklung – Konzeptionelle und empirische Grundlagen. Baltmannsweiler: Schneider 2010, S. 87–147.
- Ryan, Marie-Laure: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore u.a.: The Johns Hopkins University Press 2001.
- Schorb, Bernd: Reflexiv-praktische Medienpädagogik. In: Hausmanninger, Thomas; Bohrmann, Thomas (Hg.): Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven. München: Fink 2002, S. 192–204.
- Spinner, Kaspar H.: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch. Jg. 2006, H. 11, S. 6–16.
- Voorhees, Gerald: Neo-liberal multiculturalism in Mass Effect: The Government of Difference in Digital RPGs. In: ders./Call, Joshua/Whitlock, Katie (Hg.): Dungeons, and Digital Denizens: The Digital Role-Playing Game. New York: Continuum, 2012, S. 259–277.
- Wharton/Collins: Subjective Measures of the Influence of Music Customization on the Video Game Play Experience. 2011. <http://gamestudies.org/1102/articles/wharton_collins> [05.10.2015].
- CD Project Red: The Witcher 3 – Wild Hunt. 2015. [↩]
- BioWare: Mass Effect. 2007. [↩]
- Der Begriff Spieler bezieht im Folgenden ausdrücklich SpielerInnen mit ein und ist hier als eine vereinfachte Variante an den angelsächsische und mithin geschlechtsneutralen Wendungen User und Gamer angelehnt. [↩]
- BioWare: Mass Effect 3. 2012. [↩]
- Kontroversen zu Mass Effect 3. 2012. Mass Effect Wikia: <http://de.masseffect.wikia.com/wiki/Kontroversen_zu_Mass_Effect_3> [04.10.2015]. [↩]
- Vgl. Abraham/Kepser: Literaturdidaktik Deutsch. 2009, S. 63–68. [↩]
- Ebd., S. 65. [↩]
- Gerald Voorhees hat in einem sehr anregenden Beitrag bereits darauf hingewiesen, wie sehr auch der Umgang mit kultureller Differenz in Mass Effect mit neo-liberalen Wertvorstellungen durchzogen ist, weil Differenz so lange richtig und sinnvoll ist, bis ein gemeinsames, übergeordnetes Ziel erreicht wurde. Voorhees zeigt dies u. a. an den Identitätskonzepten, die in der Reihe deutlich werden. Dies ist insbesondere in einer der möglichen Endsequenzen des dritten Teils, der nach Vorhees‘ Ausführungen veröffentlicht wurde, besonders deutlich, immerhin kann der Spieler nun entscheiden, alle Völker im Spiel gleich zu machen, um sie so zu verbinden. Vgl. Voorhees: Neo-liberal multiculturalism. 2012, S. 271–275. [↩]
- Schorb: Reflexiv-praktische Medienpädagogik. 2002, S. 200f. [↩]
- Dies ist auch mit Blick auf die Mediensozialisation der Schüler unabdingbar, um eine kritische Begleitung des Erwachsenwerdens mit Medien zu ermöglichen. Vgl. Pieper: Lese- und literarische Sozialisation. 2010, S. 94–96. [↩]
- Dannenberg: Freiheit ist ein Geschenk. 2015, S. 14. [↩]
- Keuchler: Der faulste aller Kompromisse. 2015, S. 15. [↩]
- Vgl. u. a. Graf, Michael: Anspruchslosigkeit von Game of Thrones – Lame of Thrones – Ist das noch ein Spiel? <http://www.gamestar.de/spiele/game-of-thrones-a-telltale-games-series/artikel/anspruchslosigkeit_von_game_of_thrones,50363,3080962,2.html> [04.10.2015]. [↩]
- Mersch: Logik und Medialität des Computerspiels. 2007, S. 25. [↩]
- Vgl. Backe: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. 2008, S. 359–364. [↩]
- Vgl. für das hier vorgestellte Modell: Engelns: Spielen und Erzählen. 2015, S. 154–157 und 277–281. [↩]
- Andrew Baerg hat in einem Aufsatz darauf aufmerksam gemacht, dass solche Entscheidungsstrukturen durch ihre Mathematisier- und Quantifizierbarkeit neo-liberal gefärbt sind. Soziale Beziehungen, Kampfsequenzen, Quests und dergleichen mehr sind demnach qua Abwägung für den optimalen Spieldurchlauf hochgradig gefärbt, obwohl sie eine freie Entscheidung suggerieren. Vgl. Baerg: Risky Business. 2012, S. 159–170. [↩]
- Vgl. Pias 2000. [↩]
- Linklater: Boyhood. Houston: ders. 2014. [↩]
- Vgl. Mertens Computerspiele sind nicht interaktiv. 2004. [↩]
- Vgl. Aarseth: Cybertext. 1997. [↩]
- Vgl. Ryan: Narrative as Virtual Reality. 2001, S. 251f. [↩]
- Vgl. LucasArts: Indiana Jones and the Fate of Atlantis. 1992. [↩]
- Ion Storm: Deus Ex. 2000. [↩]
- Esposito: Fiktion und Virtualität. 1998, S. 270. [↩]
- Hitzler/Honer: Bastelexistenz. 2012, S. 307. [↩]
- Ebd. [↩]
- Vgl. ebd., S. 308. [↩]
- Ebd. [↩]
- Ebd., S. 309. [↩]
- Ebd., S. 310. [↩]
- Rockstar: Grand Theft Auto V. 2014. [↩]
- Maxis: The Sims 3. 2009. [↩]
- BioWare: Mass Effect 2. 2010. [↩]
- BioWare: Mass Effect 3. Produktbeschreibung auf <http://www.amazon.de/Electronic-Arts-Mass-Effect-3/dp/B004FPYHBE/ref=sr_1_1_twi_gam_4?ie=UTF8&qid=1444041750&sr=8-1&keywords=Mass+Effect+3> [05.10.2015]. [↩]
- Vgl. hierzu u. a. Wharton/Collins: Subjective Measures of the Influence of Music Customization on the Video Game Play Experience. 2011. <http://gamestudies.org/1102/articles/wharton_collins> [05.10.2015]. [↩]
- Schorb: Reflexiv-praktische Medienpädagogik. 2002, S. 201. [↩]
- Vgl. ebd., S. 202. [↩]
- Vgl. Kepser: Computerspielbildung. 2012, S. 31–35. [↩]
- Vgl. Spinner: Literarisches Lernen. 2006. [↩]
- Vgl. ebd., S. 8. [↩]
- Vgl. ebd. [↩]
- Vgl. ebd., S. 9. [↩]
- Vgl. ebd., S. 10. [↩]