Später ins Spiel kommen. Oder: Eine Perspektive auf ca. drei Jahre Game Studies
Magdalena Leichter
Die Entwicklung der deutschsprachigen Game Studies in den letzten zehn Jahren zu beschreiben, scheint mir etwas anmaßend, wenn man nur ungefähr drei dieser Jahre tatsächlich verfolgt hat. Stattdessen, um dennoch einen kleinen Beitrag zu leisten, soll hier eine Perspektive darauf gegeben werden, wie die Entwicklungen der letzten zehn (oder mehr) Jahre anmuten, wenn man etwas später ins Spiel kommt. Was findet man vor und wie geht man damit um? Welche Tücken lauern in etablierten Diskursen und welche Chancen ergeben sich im Gegenzug, wenn man versucht, sich dem Forschungsfeld Game Studies zu nähern?
Mein erster Kontakt mit Computerspielforschung in einem akademischen Umfeld ergab sich zunächst punktuell über Referate in Seminaren, die Spiele zwar behandelten, in der übergeordneten Planung aber wirkten wie ein nachträglicher Einfall, der seinen Platz findet, wenn Literatur und Film bereits besprochen wurden. Dieser Status als Beigabe kann zurecht infrage gestellt werden, bietet aber dennoch einen ersten Einblick in die Beschäftigung mit digitalen Spielen und einen Vorgeschmack auf die multidisziplinären und vielschichtigen Zugänge zum Computerspiel. Sich selbst produktiv mit dem Medium auseinanderzusetzen, schien mir damals noch gewagt – die Menge an Material, das die Game Studies bieten, war dabei gleichermaßen herausfordernd wie vielversprechend. Wenn auch häufig betont wird, dass es sich um eine junge Disziplin handle, oszillierte meine frühe Auseinandersetzung mit den Game Studies zwischen Herausforderung und Neugier, zwischen dem Eindruck, Ideen beitragen zu können und der Erkenntnis, dass vieles vermeintlich Neues bereits erkundet und präziser formuliert war als in der eigenen Vorstellung. Sehr jung fühlt sich ein Gegenstand als Studierende / Nachwuchswissenschaftlerin zunächst auch nicht an, wenn auf gut zwanzig Jahre einschlägige inter- und multidisziplinäre Forschung zurückgeblickt werden kann.
Erst die intensive Auseinandersetzung mit den Game Studies in jenen noch recht seltenen Seminaren (spät im Studium), die sich explizit mit Computerspielen auseinandersetzten, sowie die Erkenntnis, dass das bisher erlernte Analysewerkzeug aus der Vergleichenden Literaturwissenschaft, ganz im Sinne der Interdisziplinarität, auch für die Beschäftigung mit Spielen Potenzial hat, schlug das Pendel schließlich eindeutiger zur Neugier und zum Erkenntnisinteresse hin aus. Wäre ich nicht auf diese Seminare gestoßen, hätten nicht ein oder zwei Kommilitoninnen in Kursen Computerspiele vorgestellt, wären mir die Game Studies im Studium nie begegnet.
Es ist mir wichtig, diesen Erstkontakt zu beschreiben, weil er sich nach der Diskussion mit Studierenden als ein überraschend exemplarischer herausstellte. So steht nicht mehr zur Debatte, dass Computerspiele in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind – scheinbar aber schon, inwiefern die Games Studies diesen Status in der universitären Landschaft repräsentieren und eine Verbindung ermöglichen von alltäglichem/persönlichem und wissenschaftlichem Interesse am digitalen Spiel.
Obwohl in der Beschäftigung mit der Computerspielforschung der Eindruck entsteht, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit digitalen Spielen eine zunehmend selbstverständliche wird, scheint dieses Selbstverständnis in der österreichischen Universitätslandschaft, vor allem im Zusammenhang mit einer medien- und kulturwissenschaftlichen Ausrichtung, also immer noch weniger institutions- als personengebunden zu sein. Angebote aus dem Zentrum für Angewandte Spielforschung der Donau-Universität-Krems sowie der Masterstudiengang Game Studies and Engineering bilden, neben Fachhochschulabschlüssen, die Ausnahme.
Aus der Perspektive des wissenschaftlichen und studentischen Nachwuchses bleibt so vielerorts das 2005 von Jesper Juul für die Game Studies prognostizierte „productive chaos“1 erhalten. Welche Kolleg:innen sich an derselben Universität mit Computerspielen beschäftigen, erfährt man erst zufällig auf Tagungen oder in Gesprächen zwischen Tür und Angel. Ähnlich bei Projekten und Lehrveranstaltungen, die sich mit (digitalen) Spielen auseinandersetzen. Vielleicht ist es gerade hier die Jugend der Disziplin, die sich spürbar macht, indem zwar mit Selbstverständnis zu Spielen gearbeitet wird, dieses Selbstverständnis jedoch noch nicht so verbreitet ist, wie es scheint. Wie eine wenig verbreitete Disziplin fühlen sich die Game Studies auch nicht an, wenn sie in der Mitte der eigenen Forschung angekommen sind, und sich wie konzentrische Kreise die vielfältigen Kommunikationsformen (Mailinglisten, Discord-Server, Konferenzen, Kolleg:innen, … ) um die eigene Perspektive ausbreiten.
In diesem Sinne kann man auch dem ‚produktiven Chaos‘ etwas Positives abgewinnen – selbst dann, wenn man große Teile des Chaos vorfindet und erst seit kurzer Zeit versucht, auch einen kleinen Beitrag zu leisten.
So hängt die oben angerissene Atmosphäre des Neuen und Aufregenden damit zusammen, dass sich die Game Studies (wenn dies auch teils bemängelt wird) nach wie vor nicht als eine klar umrissene Disziplin konstituieren lassen. Die Multidisziplinarität der Game Studies ist dabei zugleich Grundvoraussetzung und besonderer Reiz des Forschungsgegenstandes. Zunächst ist es gut möglich, sich mit dem eigenen Forschungsinteresse darin wiederzufinden und das eigene Werkzeug mitzubringen – zudem sind aber auch die Hürden, über diese eigene Perspektive hinauszublicken, das eigene Werkzeug neu zu verwenden oder zu erweitern, durchlässig und nicht unüberwindbar. Wenn Britta Neitzel und Rolf Nohr 2010 anmerken, dass Forscher:innen ‚aneinander vorbeischreiben‘2 und, dass in den Game Studies „das Rad zu oft neu erfunden [wird]“3, so tut sich auf der Kehrseite dieser Kritik die Möglichkeit auf, eben jene Perspektiven zu berücksichtigen, auf die man selbst am besten aufbauen kann – und andere wiederum zu vernachlässigen. So sind aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ein anhaltender Fokus auf die Intention hinter Erzählungen im Spiel, und der teilweise daraus entstehende Biografismus etwas befremdlich; vor allem dann, wenn zugleich betont wird, dass die Spielenden in ihrer individuellen Sinnproduktion im Zentrum der kulturellen Ausdrucksform Spiel stehen. Im Gegenzug bereichern die zunehmenden Fragestellungen nach kollektiven Produktions- und Rezeptionsbedingungen des Computerspiels auch die Literatur- und Medienwissenschaft.
Ein großer Vorteil des späteren Mitspielens ist also der, dass man auf einen reichen und vielfältigen Grundstock aufbauen kann, ohne das Gefühl zu haben, von diesem erschlagen zu werden. Selbst wenn man in Gefahr läuft, das ein oder andere überflüssige Rad zu entwerfen, scheint mir dies ein geringer Preis zu sein für eine kollektive und multidisziplinäre Forschung, die sich lustvoll und produktiv mit einem stetig an gesellschaftlicher Relevanz gewinnenden Medium auseinandersetzt.
Diese durchaus optimistische Grundhaltung ist nicht zuletzt dem Geburtstagskind der Stunde zu verdanken. In diesem Sinne gratuliere ich PAIDIA zum zehnjährigen Jubiläum. Die Zeitschrift hat sich in meiner bisherigen Laufbahn sowohl für die Lehre als auch für die Forschung als eine wertvolle und unverzichtbare Quelle erwiesen. Ich bin dankbar dafür, hier meine ersten Gehversuche beigetragen zu haben und hier ein wenig am produktiven Chaos mitarbeiten zu dürfen.
Medienverzeichnis
Literatur
Juul, Jesper: Where the Action is. Game Studies 2005. <http://www.gamestudies.org/0501/editorial/> [27.09.2021].
Neitzel, Britta; Rolf F. Nohr: Game Studies. In: MEDIENwissenschaft: Rezensionen| Reviews. Jg. 27, H. 4 (2010), S. 416–435. <https://mediarep.org/bitstream/handle/doc/6950/MEDREZ_2010_4_416_Neitzel_ea.pdf?sequence=1> [27.09.2021].
Titelbild
Boilly, Louis-Léopold: Game_of_Billiards. 1807.