Der ohnmächtige Held – Die Fantasy-Welt als Kontrollgesellschaft in ‚The Banner Saga‘

25. Juni 2020
Abstract: Die Fantasy-Welt von The Banner Saga ist in all ihren Aspekten darauf ausgerichtet, den Spielablauf als Reihung ebenso folgenschwerer wie unabsehbarer Entscheidungen zu gestalten; insofern dient sie als Prisma, um aktuelle Konflikte zu projizieren. Zumindest gilt das dann, wenn man sich Jean-Pierre Le Goffs These anschließt, der zufolge das Individuum im zeitgenössischen Kapitalismus zu einer Form der Selbstüberwachung angehalten ist, die sich im Paradoxon der unfrei-freien Entscheidungen realisiert. The Banner Saga nutzt dabei Genre-Stereotypen der Fantasy, um eine Idee von Heroismus zu gestalten, in der sich die Tapferkeit des Individuums daran erweist, dass es seine Ohnmacht erträgt.

Einleitung

Von Anfang an wird deutlich, dass The Banner Saga1 darauf zielt, die Spieler_innen in das melancholische Pathos einer gefallenen Welt einzuweben. “The gods are dead” – dies ist der erste Satz, den wir zu lesen bekommen. Er erscheint auf einer verwitterten, halb verdüsterten und mit stilisierten Schriftzeichen bedeckten Karte. Dort stehen Namen wie „Hraun“, „Frostvellr“ oder „Grofheim“, die nordisch oder altnordisch anmuten, wozu sicherlich auch beiträgt, dass die Schriftzeichen, in denen sie gehalten sind, an germanische Runen erinnern – was wiederum den Eindruck der Fremdheit verstärkt, da einige der Ortsbezeichnungen auf den ersten Blick kaum zu entziffern sind.

Und The Banner Saga belässt es auch nicht bei dem ebenso nüchternen wie rätselhaften Hinweis, dass die Götter gestorben seien. „In their wake, man and giant survived through a tenuous alliance, driving black destroyers called dredge deep into the northern wastes“, so der zweite Satz, den wir zu lesen bekommen. Vom unteren Bildschirmrand her schieben sich die Buchstaben in unser Sichtfeld, als müsste da etwas aus großer Tiefe herbeigeschafft werden: Die Zeitenferne einer anderen Epoche öffnet sich. Als Näch­s­tes heißt es: „Now is an era of growth and trade. Life goes on.“ Schließlich der letzte Satz: „Only one thing has stopped. The sun.“

In der Exposition von The Banner Saga wird in wenigen Worten eine Welt vorgestellt, die heillos zwischen Hoffnung und Verzweiflung zerrissen ist – eine Zerrissenheit, die in einer Folge von polaren Markierungen greifbar wird: Die Götter sind tot, aber ein Zeitalter des Wachstums und des Handels ist heraufgezogen; die Menschen und Riesen haben die Dredge zurückgeschlagen, aber ihre Allianz scheint brüchig; das Leben geht weiter, aber die Sonne steht still.

Wir haben es also mit einer buchstäblich post-apokalyptischen Welt zu tun – einer Welt, die ihr eigenes Ende überlebt hat und in der die Sonne selbst aufgegeben zu haben scheint. Auf der einen Seite metaphysische Trauer, auf der anderen Seite ein verzweifelter Daseinshunger – das ist, kurz gesagt, das Weltgefühl, welches The Banner Saga zu erzeugen sucht.2

Im Folgenden will ich mich dem Spiel von Stoic Studio in analytischer Perspektive annähern.3 Zum einen geht es darum, aufzuzeigen, inwieweit das beschriebene Weltgefühl, in eine ästhetische Erfahrung umgestaltet, das Erleben der Spieler_innen durchwirkt. Vor allem betrifft das die Art und Weise, wie The Banner Saga die Spieler_innen unablässig mit der Notwendigkeit konfrontiert, folgenschwere, schmerzliche und in ihren Konsequenzen unabsehbare Entscheidungen zu treffen. Hierin ist der melancholischen Fantasy-Welt des Spiels, so die weiterführende These, auch eine zeitdiagnostische Dimension implementiert. Dies soll unter Bezugnahme auf Überlegungen des Soziologen Jean-Pierre Le Goff gezeigt werden. Für Le Goff ist eine „barbarie douce“ – eine süße, sanfte Barbarei – am Werk, wenn sich kapitalistische Gesellschaften im Zeichen des Neoliberalismus radikalisieren.4 Man kann Le Goff so verstehen, dass die „barbarie douce“ mit der Installation einer Überwachungsgesellschaft einhergeht, in welcher diejenigen, die überwacht werden, zugleich die Überwachenden sind, da die neoliberale Ideologie alle Lebensbereiche in einem Maße durchdringt, dass die einzelnen (und vereinzelten) Individuen unter dauerndem Druck stehen, einem bestimmten Menschenbild zu entsprechen. Sie sollen freie, eigenverantwortliche, aktive Subjekte sein, ihres eigenen Glückes Schmied, und souverän die Entscheidungen treffen, die die Koordinaten ihres Daseins bestimmen – obgleich das Wirtschaftssystem, dessen Apologeten eine entsprechende Ideologie vertreten, den Einzelnen (vor allem, wenn sie arm und prekär beschäftigt sind) zugleich die Möglichkeit nimmt, ein derart freies, eigenverantwortliches, aktives, souveränes und entscheidungsmächtiges Subjekt zu sein.

Zugespitzt könnte man also sagen: The Banner Saga lässt die Spieler_in­nen spielend erfahren, was die „barbarie douce“ als Freiheit der (Selbst-) Unterdrückung bedeutet, macht sie mithin zum Bestandteil des Zahnrads einer Kontrollgesellschaft, die sie mit ihren eigenen Handlungen zu perpetuieren drohen. Zugleich eröffnet The Banner Saga den Spieler_innen auch die Möglichkeit, sich den Kontroll- und Unterdrückungsmechanismen, die das Spiel verordnet, in einer Art Heroismus der Ohnmacht zu widersetzen.

Unentscheidbare Entscheidungen

Um zu verstehen, was das bedeutet, muss man sich zunächst klarmachen, dass die Entwickler des Stoic Studios die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des oben skizzierten Weltentwurfs auf durchaus konkretistische Weise in Spielmechaniken und -abläufe übertragen haben: „Life goes on“ – diese Fest­stellung oder Forderung herrscht, gleichsam als unerbittlicher erfahrungs­ästhetischer Imperativ, über einem Spielprinzip, welches sich stets aufs Neue in der Erkenntnis aktualisiert, dass es, im Wortsinn, immer weiter gehen muss; wobei diejenigen, die immer weiter gehen, lange Züge von Kriegern und Flüchtlingen, Menschen und Riesen sind, deren Marsch zwar Ziel-, jedoch keine Endpunkte kennt. „The sun has stopped“ – der Stasis des erstarrten, gefrorenen Winterlichts der grafischen Szenerie entspricht ein Spielverlauf, der sich, dem unablässigen Vorwärtsdrang des Marsches zum Trotz, in zyklischer Repetition bis zur Bewegungslosigkeit ergeht, getaktet durch die Notwendigkeiten des Gehens (der Marsch der Karawanen, die die Spieler_innen verwalten), des Redens (die unzähligen, folgenschweren Gespräche, die sie führen müssen) und des Kämpfens (vor allem gegen die Dredge, aber auch gegen vermeintliche Verbündete).5 Schließlich gibt es die Drohung der „black destroyers“ aus den Einöden des höchsten Nordens6 – die existenzielle Unentrinnbarkeit dieser Drohung7 schlägt sich darin nieder, dass man, wie bereits erwähnt, in einem fort gezwungen ist, Entscheidungen zu treffen; mitunter sind dies sehr schwere und bittere Entscheidungen, sodass sich The Banner Saga, wenn man Pech hat, bald darstellt als Folge von Abschieden und Totenklagen.8

Es ist vor allem dieser letzte Aspekt, der sowohl Spielverlauf als auch Spielerfahrung strukturiert: The Banner Saga besteht aus nichts anderem als Entscheidungen. In gewisser Weise gilt das freilich für jedes Spiel. Welchen Gegner attackiert man zuerst? Attackiert man überhaupt, oder sucht man lieber das Weite? Geht man die Treppe hinauf oder die Treppe hinunter? Erledigt man zuerst diese oder jene Mission? In den meisten Spielen sind derartige Entscheidungen unablässig zu treffen – und natürlich nicht nur, wenn es um Fantasy geht. Sebastian Domsch erläutert:

No other medium provides its users as consistently with nodal situations that involve choice as do video games. All video games are rule-bound systems, and these rules constantly define the range of options that a player has in a specific situation (that is: whether the player has a choice or not, and which choice or choices) as well as the consequences of actualizing each of these options. Choice is what video games are all about, even though the reach of agency is not always as extensive as it might be perceived by the player.9

Man hat im Videospiel also die Wahl – ein Videospiel spielen heißt: zwischen verschiedenen Optionen auswählen. Und natürlich geht eine Wahl stets mit einer Entscheidung einher. Wenn ich wähle, einen riesigen, feuerspeienden Drachen anzugreifen, entscheide ich mich dafür, das Leben meiner Spielfigur im Kampf gegen dieses Ungetüm zu riskieren (unabhängig davon, wie bedeutsam der Verlust des Figurenlebens im jeweiligen Spiel sein mag). Laufe ich vor dem Drachen davon, treffe ich hingegen eine Entscheidung, die auch mit sich bringt, einstweilen auf die Vorteile zu verzichten, die mir ein Sieg über das Monster einbringen könnte (Erfahrungspunkte, bessere Ausrüstung, einen Sack Gold, die Bewunderung und Unterstützung der Bewohner des nahen Dorfes).

Aber Entscheidung ist nicht gleich Entscheidung und Entscheidungen können auf sehr verschiedene Weisen in ein Spiel implementiert sein. „Choice situations differ in the amount of information that is given about the consequences of the different options“, schreibt Domsch.10 Und er führt aus:

A choice situation can contain

- no information: the agent has no reasonable knowledge about anything that might result as a consequence of the options

- incomplete information: the agent is provided with some knowledge about possible outcomes, but no certainty in relation to the probability of the outcomes, and/or the completeness of information about outcomes

- complete information: the agent is provided with certain information about all consequences of all options.11

Nach Domschs Dafürhalten sorgen am ehesten die „choice situations“ des zweiten Typus für ein erfüllendes Spielerlebnis. Denn wenn die Spieler_in­nen über „incomplete information“ verfügen, heißt das, „that there are conflicting arguments for and against each choice that might have probabilities, but no certainties attached to them“12. Und weiter: „This is experienced as a meaningful choice, where the player either has to act according to probability (uncertainty) or has to hierarchise incompatibles.“13

Wie nun verhält es sich in The Banner Saga? Versuchen wir, uns an einem Beispiel zu vergegenwärtigen, welcher Art die Entscheidungen sind, mit denen sich die Spieler_innen hier konfrontiert sehen. In einem von zwei Handlungssträngen schlüpft man in die Rolle des menschlichen Jägers Rook, der gegen seinen Willen zum Anführer eines Zuges von Flüchtlingen wird, die verzweifelt versuchen, sich vor den neuerlich vorrückenden Dredge in Sicherheit zu bringen. Ganz zu Beginn dieses Handlungsstrangs, noch in Rooks Heimatdorf Skogr, kommt es zu einem ebenso dramatischen wie unerwarteten Zwischenfall, der den Jäger vor eine Entscheidung stellt, bei der es um Leben und Tod seiner Tochter Alette geht. Immersiv-engagiert erläutert Jörg Luibl, was hier geschieht:

Was mache ich nur? Da taucht ein Koloss aus dem Schatten auf und droht meine Tochter mit einer Keule zu zermalmen. Ich könnte ihr schnell eine Warnung zurufen, damit sie hoffentlich noch ausweicht. Ich könnte das Ungetüm mit einem Pfeilschuss auf den Kopf ablenken. Oder ich stürze mich mit Gebrüll und gezückter Axt in den Kampf.14

Dieser Moment ist von wesentlicher Bedeutung für The Banner Saga. Da er sich bereits am Anfang des zweiten von sieben Kapiteln ereignet, gibt er sozusagen den Ton vor, nach dem fortan die Musik spielt. Anders gesagt: Er bestimmt das affektpoetische Gepräge, konturiert den Möglichkeitsraum, in dem sich die Spieler_innen wiederfinden. Und wer die Banner Saga-Trilogie mit der Erwartung beginnt, dass schon irgendwie alles gut gehen werde, sieht sich hier unverhofft eines Besseren (oder Schlimmeren) belehrt. Denn wenn Rook (beziehungsweise der/die Spieler_in) die falsche Entscheidung trifft, stirbt zwar nicht Alette selbst, wohl aber der junge Krieger Egil, der offenbar in die Tochter des Jägers verliebt ist. Dieser Tod – und das gilt für alle Tode in dem Spiel – ist unwiderruflich; zumindest lässt er sich nicht innerhalb des Erzählkontinuums revidieren, das The Banner Saga entwickelt.15

Man muss sich klarmachen, dass das Spiel den Spieler_innen eine Freiheit nimmt: jene nämlich, keine Entscheidung zu treffen. Wie gesagt, das gilt in gewisser Weise für jedes Spiel. Doch in The Banner Saga sind die Momente der Entscheidung immer als solche markiert und zugleich mit einem existenziellen Gewicht beschwert: Spielend weiß man, dass das eigene Tun unmittelbar spürbare, häufig schmerzliche und unwiderrufliche Konsequenzen haben wird. Zwar verzichtet The Banner Saga darauf, in den Kämpfen und Dialogen eine Zeitbegrenzung zu verhängen: Wenn sie wollen, können die Spieler_innen stundenlang – auch dies in Entsprechung zu der erstarrten Zeitlichkeit einer Welt, die unter einer gelähmten Sonne ausharren muss – vor dem Bildschirm oder dem Fernseher nachdenken. Aber früher oder später müssen sie sich entscheiden, wenn sie vorankommen möchten. Mehr noch: Wir dürfen auch nicht irgendeine Entscheidung treffen, sondern exakt nur die, welche uns The Banner Saga vorgibt. Wiederum gilt: Das trifft vorderhand auf alle Spiele zu. Doch The Banner Saga trägt stets Sorge, die Spieler_innen ihre Unfreiheit spüren zu lassen. Man muss Entscheidungen treffen, hat aber keine Entscheidungsfreiheit – das Spieldesign verschleiert diesen Umstand nicht, sondern offenbart ihn vielmehr, legt ihn stets und allerorten bloß. In den Gesprächen ist es beispielsweise so, dass uns, in der Art eines Spielbuchs, Texttafeln gezeigt werden, auf denen eine literarische Beschreibung der jeweiligen Situation zu lesen steht, verbunden mit der Frage, was wir zu tun gedenken. In dem geschilderten Fall gibt es ausschließlich die von Luibl genannten Möglichkeiten: 1.) Alette warnen; 2.) einen Pfeil auf den Dredge abschießen; 3.) den Dredge mit gezogener Axt angreifen. Wählt man die erste oder die dritte Option, so stirbt Egil.

So verfährt The Banner Saga in allen vergleichbaren Momenten. Luibl benennt eine Reihe von weiteren Entscheidungen, die die Spieler_innen erwarten:

Ziehe ich mich nach der Sichtung von Qualm und einer Übermacht an Feinden lieber zurück oder forsche ich nach? Locke ich Feinde in einen Wald und zünde ihn an oder warte ich ab? Schlichte ich den Streit in einem Dorf oder ergreife ich Partei? Statuiere ich an einem Alkoholiker ein Exempel oder spiele ich die Sache runter? Lass ich einen alten Kauz Gedichte vortragen oder soll er sich zurückhalten?16

Und er merkt an: „Manchmal gibt es nur banale, manchmal aber auch fatale Folgen.“17 Also noch einmal: Mit welchem Typus von „choice situation“ haben wir es in The Banner Saga zu tun? Vielleicht ist man geneigt, sie kurzerhand der „incomplete information“-Variante zuzuordnen. Es ist allerdings nicht so, dass das Spiel die wesentlichen Informationen samt und sonders zurückhalten würde. Wir wissen zum Beispiel, dass der Dredge Alette töten wird, wenn niemand ihn daran hindert; wir wissen auch, dass Rook ziemlich gut mit Pfeil und Bogen umgehen kann; wir wissen darüber hinaus, dass sich noch andere Figuren in Alettes Nähe aufhalten: etwa der verrückte Speerkämpfer Tryggvi oder eben Egil; vielleicht ahnen wir sogar, dass Egil versuchen wird, Alette zu beschützen, wenn wir bei dem Versuch, den Dredge zu töten, scheitern sollten.

Allerdings erlaubt uns nichts von all dem, die konkreten Konsequenzen der Entscheidung „Warnung“, „Pfeil“ oder „Axt“ abzusehen. Das liegt daran, dass die Informationen, die uns The Banner Saga zur Verfügung stellt, auf einer völlig anderen Ebene angesiedelt sind als jene, die wir benötigen würden, um – zu diesem frühen Zeitpunkt, da wir gerade erst begonnen haben, die Spielwelt kennenzulernen – die Wahrscheinlichkeit zu kalkulieren, ob unser Tun fatale Folgen herbeiführen könnte. Letztlich ist die Frage nämlich nicht primär: Kann Rook gut genug mit dem Bogen schießen? Sondern: Haben wir es mit einem Spiel zu tun, das wichtige Figuren in der Beiläufigkeit eines Klicks sterben lässt? Und vor allem: Bürdet The Banner Saga die Verantwortung für den Tod der Figuren den Spieler_innen auf oder vollziehen sich die Unglücksschläge hier mit schicksalhafter Unausweichlichkeit, sind mithin (in Zwischensequenzen etc.) unserer Einflussnahme entzogen?

Es geht also weniger um die Fülle oder Spärlichkeit der Informationen, als um eine Einschätzung der Gesetzmäßigkeiten, denen die Spielwelt unterliegt. Die Prinzipien, nach denen eine Welt gebaut ist, bestimmen gewissermaßen den Radius dessen, was in der entsprechenden Welt geschehen kann; nur wer sie erschlossen hat, verfügt über die Interpretationsmatrix, die es ihm erlaubt, diese oder jene Information richtig zu deuten. Je komplexer und dynamischer das Weltgesetz sich gestaltet, desto schwerer ist es freilich, eindeutige Handlungsanweisungen aus den als solchen erkannten ‚Bauprinzipien‘ abzuleiten. In der geschilderten Szene müssen die Spieler_innen er­leben, dass Figuren sehr schnell sterben können, wenn sie eine falsche Entscheidung treffen; es gibt aber auch Situationen, in denen aus Entscheidungen unverhofft etwas Gutes resultiert, wenn sich beispielsweise herausstellt, dass es möglich ist, ohne Blutvergießen in die Stadt Frostvellr zu gelangen, deren Tore den Flüchtlingen verschlossen sind (was dann freilich, getreu dem Grundprinzip des Spiels, auf verschiedene Weise wieder in eine katastrophische Situation umschlagen kann).

Was man im Fall von The Banner Saga begreifen muss, ist eben, dass die Welt des Spiels in einem Kampf zwischen Hoffnung und Verzweiflung oder, wie man in Anlehnung an Tolkien sagen könnte, zwischen Eukatastrophe und Katastrophe begriffen ist – wobei man beide, Eukatastrophe und Katastrophe, durchaus als geschichtsbildende Prinzipien verstehen darf und sollte.18 Nun ist aber der Ausgang des Kampfes ungewiss – mehr noch: Das Spiel ist in gewisser Weise dieser Kampf. Das heißt also, als affektive Pole kennt die Banner Saga-Trilogie – um sich Tolkien’scher Bilder zu bedienen – die finsterste, hoffnungsloseste Schwärze ebenso wie das jäh aufflackernde Licht, welches durchs Dunkel schneidet. Allzeit ist beides möglich.

Vor diesem Hintergrund lässt sich Folgendes sagen: Was Domsch „gameplay rationality“ nennt, ist bei The Banner Saga keineswegs gegeben, da die Spieler_innen – von den rundentaktischen Kämpfen abgesehen – kaum je in der Lage sind, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen solcherart abzuschätzen, dass sie das eigene Spiel zuverlässig auf die von ihnen gewünschten Ergebnisse abstimmen könnten.19 Was ihnen bleibt, sind mithin „semantic choices“, also Entscheidungen, die sich letztlich stützen auf das Verständnis, oder das mutmaßliche Verständnis, der, wie Domsch schreibt, „properties of the fictional world that the game creates“20. Domsch nennt diese „semantic choices“ auch „narrative choices“ und erläutert:

One example of such narrative choices are all those that are character-based. As has been already discussed, some player choices are also motivated by the player’s conception of the character. That is, the player bases the decision on the consideration how well it fits into the pattern of behaviour assumed to be the right one for the character.21

Bezogen auf The Banner Saga heißt das: In dem Maße, wie sich die Spielwelt als unkalkulierbar erweist, in dem Maße also, wie sie Gesetzmäßigkeiten enthüllt, die gerade auf Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit abzielen, müssen die Spieler_innen eine andere Grundlage für ihre Entschei­dungen suchen als jene, die mit der Hoffnung auf möglichst erfolgreiches oder effektives Spiel gegeben ist.22 Die Frage ist dann nicht mehr: Welche Handlungsoption bringt mir die größtmöglichen Vorteile ein oder führt wenigstens keine gravierenden Nachteile herbei? Sondern etwa: Was würde Rook in einer solchen Lage tun? Was würde er für richtig halten? Da Rook sein Leben aber in der Wahrnehmung der Spieler_innen findet, in ihrer Einfühlung in die fantasierte Innerlichkeit der Figur, die letztlich ja eine Einfühlung in das Eigene ist – in möglicherweise ungenutzte oder durch die Figur erst greifbar und erlebbar gewordene Seinspotenziale23 –, geht es dabei um einen Selbstbezug, der bei einem Spiel wie The Banner Saga durchaus existenzielles Gewicht bekommen kann. Mit einem Mal steht, kurz gesagt, in­frage, welche Idee von Gut und Böse man in der Spielwelt erkennt; und welche Idee von Gut und Böse man selbst unter den Bedingungen der Spielwelt zu realisieren bestrebt ist.24

Das Spielprinzip des Entweder-oder

Gut und Böse – das sind vorderhand keine Kategorien der Politik, sondern der Theologie … oder insbesondere auch der Fantasy-Poetik, die ja letztlich in den meisten Fällen auf das Pathos einer Entscheidungsschlacht abhebt, bei der alle Ambivalenzen, alles Schwanken, Zagen, Zaudern und Zweifeln zurücktreten hinter die unbedingte Notwendigkeit, der Welt ein Morgen zu erstreiten.25

Auch The Banner Saga ist, wie deutlich geworden sein sollte, durchdrungen von diesem Pathos. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die altnordische Fantasy-Welt des Spiels nicht in politische Unverbindlichkeit hüllt wie in einen wabernden Nebel. Tatsächlich offenbart The Banner Saga eine zeitdiagnostische Dimension, die sich nicht auf ein fernes Nie-und-Nimmerland bezieht – und auch nicht auf die verzweifelte Flucht von Bogenschützen, Axtkämpfern und gehörnten Riesen. Damit keine Missverständnisse entstehen: Es mag durchaus angemessen sein, The Banner Saga als Spiel über die Not von Flüchtlingen zu verstehen: von Menschen also, die dazu gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen und unter bitteren Entbehrungen einer ungewissen Zukunft entgegengehen; die sich dieses Leben nicht erwählt haben, sondern, ganz wie Rook, Alette und ihre Gefährten, aufgrund von Ereignissen, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen, zur Flucht gezwungen sind; die oft nicht wissen, was sie am nächsten Tag essen sollen – und ob sie diesen nächsten Tag überhaupt erleben werden.

Freilich hat The Banner Saga auch auf dieser Ebene einiges über unsere Gegenwart zu sagen. Es ist durchaus signifikant, dass Stoic Studio die Spieler_innen selbst in die Rolle der Flüchtenden versetzen und ihnen dabei nicht das Misstrauen und die Anfeindungen derer ersparen, die (noch) eine Heimat haben.

Mir geht es allerdings um etwas anderes. Dieses andere verbindet sich damit, wie The Banner Saga uns aufnötigt, in einem fort unentscheidbare Entscheidungen zu treffen, diese Entscheidungen – sich ihnen zu stellen, sie zu treffen und ihre Konsequenzen auszuhalten – dabei zugleich aber als Möglichkeitsbedingung des Fantasy-Epos einführt. Unentwegt werden wir daran erinnert und darauf verwiesen, dass sich jegliche Interaktion mit der Spielwelt in Form eines glasklaren Entweder-oder vollziehen muss. The Banner Saga erhebt dieses Entweder-oder in den Stand eines Gestaltungsprinzips, das die poetologische Verfasstheit jener altnordischen Fantasy-Welt ganz durchwaltet. Denn wie baut das Spiel seine Welt? Oder anders gesagt: Was ist hier überhaupt Welt?

Bei einem 3D-Open-World-Spiel wie The Elder Scrolls V: Skyrim26 ist das offensichtlich: Man kann die Welt durchwandern und durchreiten; sie bietet sich dar in weiten, sonnigen Ebenen, nebelverhangenen Wäldern und Berggipfeln, die von Schnee und Wind umtost werden; und sofern ihnen der Sinn danach steht, können die Spieler_innen hunderte von Stunden damit verbringen, noch die entlegensten Ecken von Tamriels Nord­provinz zu er­kunden; zahllose Häuser, Dungeons, Festungen, Türme und Schiffs­wracks warten darauf, dass sich verwegene Abenteurer_innen (mehr oder weniger legal) Zutritt zu ihnen verschaffen.

Nichts von all dem gibt es in The Banner Saga. Stattdessen vollzieht sich das ganze Spiel – von ein paar wenigen filmischen Sequenzen abgesehen – im Rückgriff auf eine Handvoll Bildtypen, die einander abwechseln. Es gibt wiederkehrende Bilder des Lagers, das man unterwegs aufschlagen kann, beziehungsweise ausgewählter Orte, die man im Verlauf des Marsches erreicht: zumeist mehr oder weniger elende Dörfer und Städtchen. Auf diesen Bildern lassen sich einzelne, besonders markierte Lokalitäten anklicken, und mitunter auch bestimmte Figuren, was dann weitere Handlungsoptionen eröffnet: Beispielsweise erlaubt es ein Besuch des Marktes, unter anderem Vorräte für die Reise zu kaufen. Dann gibt es die Darstellung von Gesprächssituationen, die die Figuren in halbnahen Einstellungen zeigen und mehr oder weniger nach dem Schuss-Gegenschuss-Prinzip organisiert sind, also verschiedene Perspektiven in einem homogenen Dialograum zusammenfügen. Wobei das, was etwa Rook oder Alette sagen, wohlgemerkt nicht vertont wird: Stattdessen lesen wir die einzelnen Repliken und klicken die von uns bevorzugte Entgegnung oder Reaktion an (die auch mal darin bestehen kann, zu schweigen). Des Weiteren gibt es Bilder, die die Karawanen während ihres Marsches zeigen: Von links nach rechts oder von rechts nach links scrollt das Bild und wir erblicken verschwindend kleine Züge von Menschen, Varl – wie The Banner Saga die gehörnten Riesen nennt, die sich mehr oder weniger freiwillig mit ihnen verbündet haben – und vereinzelten Viehkarren, die unter einem langen, im Wind sich streckenden Banner durch die weite, einsame Winterwelt ziehen. Schließlich gibt es die eingangs erwähnte Karte, die sich jederzeit aufrufen lässt; hier erkennt man – anhand eines Icons, welches das Gesicht des jeweiligen Anführers zeigt (oder, ab dem zweiten Teil, möglicherweise der Anführerin) –, wo man sich gerade befindet, und kann wiederum bestimmte Örtlichkeiten anklicken (Städte, Gebirgszüge, Wälder, Sümpfe, Buchten, Inseln …), woraufhin eine Texttafel erscheint, die Hintergrundwissen zu der entsprechenden Lokalität bereithält.27 Und dann gibt es natürlich die rundentaktischen Kämpfe: Von schräg oben erblickt man isometrisch gestaltete Schlachtfelder, auf denen sich Menschen, Varl und Dredge gegenüberstehen (und späterhin obendrein die zentaurenhaften Horseborn sowie andere, weniger humanoide Kreaturen)28; Zug um Zug wird hier gekämpft, wobei jede Figur über bestimmte Eigenschaften, Stärken und Schwächen verfügt, sodass sich die Spieler_innen sehr gut überlegen müssen, wer in welcher Reihenfolge was tun soll.

Von den isometrischen Schlachtfeldern und namentlich den Kämpfer_in­nen beider Seiten abgesehen sind all diese Bildtypen spärlich oder gar nicht animiert – in den Gesprächssituationen verfügen die Figuren etwa nur über minimale Gestik oder Mimik; jemand blinzelt, Finger trappeln auf dem Rand eines Schildes, Augenbrauen werden hochgezogen – und bieten den Spieler_innen wenige und vor allem eindeutig festgelegte Handlungs­optionen. Während wir den Zug der Karawanen beobachten, steht es uns beispielsweise nicht frei, das Marschtempo oder die Route festzulegen. Wir können zwar jederzeit ein Lager aufschlagen lassen, das bringt aber nur etwas, wenn die Karawane einen Tag pausiert und wir über genügend Nahrungsmittel verfügen, damit sich die erschöpften Wanderer während der Rast stärken können. Ansonsten bleibt uns wenig übrig, als der Reise durch die kalte Einsamkeit zuzuschauen, zu beobachten, wie die Vorräte schwinden, die Stimmung immer schlechter wird – und zu warten, bis der nächste Zielpunkt erreicht ist oder The Banner Saga ein Textfenster öffnet, um ein Zufallsereignis anzukündigen, das häufig genug (wenn etwa ein jäher Schneesturm aufzieht oder eine Gruppe halbverhungerter Fremder um Nahrung bittet) erneut zum Verlust von Vorräten oder Zuversicht (oder beidem) führen wird.

Auf der Grundlage dieser Ausführungen mag deutlich werden, was es mit dem Entweder-oder als Spielprinzip auf sich hat. Nicht nur in Situationen wie der oben beschriebenen – worin Alette durch den jäh auftauchenden Dredge in tödliche Gefahr gerät und die potenzielle Folgenschwere unseres Handelns klar in dem Entscheidungsmoment markiert ist –, sondern ganz grundsätzlich sind wir in The Banner Saga vor die Wahl zwischen strengen, unvereinbaren und in ihren Konsequenzen offensichtlich divergierenden Alternativen gestellt. Entweder gebe ich diese oder jene Antwort; entweder ziehe ich meine Bogenschützin auf dieses oder auf jenes Feld; entweder nutze ich meinen „Renown“ (die einzige Währung des Spiels), um Vorräte zu kaufen oder um die Fähigkeiten eines meiner Helden weiterzuentwickeln; entweder raste ich, damit mein verwundeter Varl-Krieger wieder zu Kräften kommt, und riskiere, dass mir vor der nächsten Stadt die Nahrungsmittel ausgehen, oder ich setze den Marsch fort und finde mich vielleicht in einem Kampf wieder, wo mein Varl gerade dann fehlt, wenn er am Nötigsten gebraucht wird.

Der Umstand, dass der Zug der Karawanen, im Spielerleben und der grafischen Konfiguration, immer nur in eine Richtung führt, trägt zur Herausbildung einer linearen Zeitlichkeit bei, die das Entweder-oder als unerbittliche Serialität unwiderruflicher Entscheidungen gestaltet. Ob diese Entscheidungen tatsächlich, was den Handlungsverlauf und das Schicksal einzelner Figuren betrifft, in jedem Fall so weitreichende Folgen haben, wie The Banner Saga suggeriert, ist dabei zweitrangig: Sie haben ihre Wirklichkeit in der Erfahrung der Spieler_innen.29

Tatsächlich haben wir es mit einem Spiel zu tun, das nur aus Entweder-oder-Entscheidungen besteht, die unwiderruflich und in ihren Konsequenzen unabsehbar sind, nichtsdestoweniger aber getroffen werden müssen – wieder und wieder. Denn zum einen gäbe es natürlich keinen Spielfortschritt, wenn wir uns den Entscheidungen verweigern würden. Vor allem aber kann sich das Heldentum unserer Spielfigur – und im ersten Teil der Trilogie gilt das zuvörderst für Rook, den melancholisch dreinblickenden Anführer wider Willen – aufgrund des Spieldesigns allein darin realisieren, dass all die unentscheidbaren Entscheidungen gefällt, ertragen und ausgestanden werden. Hierin findet gewissermaßen eine Engführung statt zwischen der (imaginierten) Lebenswirklichkeit der Spielfigur und der (sehr realen) Spielerfahrung der Spieler_innen.

Die sanfte Barbarei der autoservitude

Was aber hat es mit der gegenwartsdiagnostischen Dimension von The Banner Saga auf sich? Wie verbindet sie sich mit der Notwendigkeit, unablässig Entscheidungen zu treffen und die Konsequenzen dieser Entscheidungen auszuhalten, die man nicht abschätzen konnte und in sehr vielen Fällen auch nie gewollt hat?

In seinem Buch La barbarie douce beschreibt Jean-Pierre Le Goff, wie die Herrschaft des Neoliberalismus ein Zeitregime habe entstehen lassen, das, unter dem Schlagwort der „Modernisierung“, die ganze Gesellschaft ergriffen und in eine Art riesige Baustelle verwandelt habe, wo alles immer unter dem Druck stehe, sich zu verändern und zugleich dringendst fertig werden solle.30 Die Regeln dieses Zeitregimes sind – so lässt sich aus Le Goffs Überlegungen folgern – also paradox, insofern es eben einerseits den unausgesetzten Zwang zum Wandel gibt, da die Notwendigkeit, sich dem Druck der „Märkte“ und der „Globalisierung“ anzupassen, die Gesellschaft vor eine wesensmäßig unabschließbare Aufgabe stellt; andererseits kann jener Wandel gar nicht schnell genug gehen, müsste sich eigentlich immer schon vollzogen haben, da sich auch die Wirtschaft rasend schnell verändert und das, was heute einen Fortschritt markiert, morgen schon Stillstand oder gar Rückschritt bedeuten kann. Dem paradoxen Zeitregime entspricht, so
Le Goff, eine paradoxe Sprache; einerseits würden unentwegt irgendwelche „Prinzipien“ oder „Werte“ beschworen (etwa der Demokratie oder der freiheitlichen Gesellschaftsordnung), andererseits setze die Sprache der Politik, der Wirtschaft und der Medien in jenen unablässigen Beschwörungen das Gegenteil von dem ins Werk, was sie vorgeblich bezwecken will: « il déstructure les significations et le sens commun »31. Ein Beispiel dafür, was diese Sprache der « modernisation aveugle »32), der „blinden Modernisierung“, anrichtet, ist aus meiner Sicht mit dem Wort „Reform“ gegeben, das schon längst nicht mehr, wie zu den Hochzeiten der Sozialdemokratie, eine Verbesserung der Lebensbedingungen meint, sondern umgekehrt den Abbau von sozialen Sicherheiten und Arbeitnehmer_innen-Rechten im Dienst der Profitmaximierung – sodass mittlerweile sehr viele Menschen geneigt sind, unterschied­lichen Formen des Stillstands, des Sich-Einschließens und sogar des Reak­tionären den Vorzug zu geben vor immer neuen „Reformen“ dieser Art.

Im Zeichen derartiger Paradoxien und Verdrehungen hat sich in den westlichen Gesellschaften, folgt man Le Goff, eine sanfte, eine süße Barbarei herausgebildet, die sich radikal unterscheide von überkommenen Formen der Barbarei, welche sich, so in diktatorischen und totalitären Regimes aller Art, mit aggressiver Unterdrückung der Individuen durch die Macht des Staates und des Militärs verbinden.

Wie lässt sie sich fassen, jene sanfte Barbarei? Le Goff schreibt:

La barbarie douce en appelle à une sorte de révolution culturelle permanente, impliquant un bouleversement incessant de nos façons de vivre, d’agir et de penser. Elle ne laisse rien ni personne en repos. Dans leur vie personnelle et professionnelle les individus se trouvent constamment incités à faire preuve d’‹ autonomie › et de ‹ responsabilité ›, il se doivent d’être ‹ motivés ›,‹ réactifs › et ‹ participatifs ›.33

Le Goffs Buch erschien erstmals 1999; seine Diagnose ist also 20 Jahre alt. Mir fehlt der Platz, um die in La barbarie douce entwickelten Thesen ausführlich darzustellen. Sicherlich sind sie ebenso erklärungs- wie ergänzungs- und mitunter auch korrekturbedürftig. Mindestens eine Pointe von Le Goffs Buch erscheint mir aber aktueller und relevanter denn je. Aus der zitierten Passage mag bereits deutlich geworden sein, dass das Perfide an der sanften Barbarei darin besteht, dass sie sich zu einem guten Teil als innerer Mechanismus und Unterwerfungsreflex perpetuiert, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber einer Art neoliberalem Über-Ich. Denn wer wollte nicht eigenverantwortlich, motiviert, aktiv und irgendwie frei sein? Wenn Le Goff beschreibt, dass sich die Unternehmen unserer Tage gerne einer Sprache bedienen, welche die Grenze zwischen Chef und Angestellten verwische und Letzteren eine Teilhabe, Verantwortlichkeit und Entscheidungsmacht zuschreibe, die faktisch nicht oder kaum gegeben sei,34 dann funktioniert das deshalb so gut, weil der Kapitalismus gelernt hat (bzw. die Akteure in Politik und Wirtschaft, die ein Interesse am immer radikaleren neoliberalen Umbau der Gesellschaft haben), die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung gegen jene zu kehren, die sie in ihrem Leben erfüllt sehen möchten.

Im Ergebnis mag jene „autoservitude“ („Selbstversklavung“) stehen,35 die Le Goff mit dem schon fast tragikomischen Beispiel von Arbeitnehmer_in­nen illustriert, die in aller Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und Autonomie – und in schönstem Einvernehmen mit ihren Chefs – die eigene Entlassung verfügen.36 Auf der Grundlage von Le Goffs Analyse erläutert Victor Burgin, welches Menschenbild sich hinter der Programmatik des „modernising management“37 verbirgt und auf was für eine Idee von Subjektivität jene Programmatik abzielt. Es geht hier um:

a mechanically functionalist individual unmarked by gender, sexuality, age, race or unconscious; a rational-instrumental entity called upon to exercise continual interactive ‘free’ choice within the constraints of a predetermined environment over which he or she has no control.38

Anders gesagt: Denjenigen, die der sanften, süßen Barbarei unterworfen sind, wird die Freiheit, die Entscheidungs- und Wirkmacht einer Subjektposition vorgegaukelt, die sie faktisch gar nicht einnehmen. Die Entscheidungen, die sie zu treffen haben, sind immer schon getroffen. Sie sind immer schon getroffen, insofern und inwieweit die Subjekte die innere Unterwerfung unter die neoliberale Ideologie bereits vollzogen haben, ohne es zu wissen. Der Ver­innerlichung der Ideologie entspricht die faktische Ohnmacht, da die wirklichen Entscheidungen in den Chefetagen und auf Aktionärsversammlungen getroffen werden. Die Arbeitnehmer_innen in Le Goffs Beispiel treffen also eine vermeintlich freie Entscheidung, die jedoch in Wahrheit auf den Nachvollzug einer bereits getroffenen Entscheidung hinausläuft; sie treffen diese Entscheidung zudem unter Bedingungen, die sich gänzlich ihrer Kontrolle entziehen. Was freilich nichts daran ändert, dass sie die Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu tragen haben, als ob sie auf der Grundlage eines freien und verantwortlichen Wissens und entsprechender Handlungsoptionen getroffen worden wären. Die Pointe von Le Goffs Argumentation besteht freilich darin, dass die Kontroll- und Überwachungsinstanz, die dafür sorgt, dass alles seinen neoliberalen Gang geht, in den Individuen selbst installiert ist.39

Auf der Grundlage von Le Goffs Überlegungen lässt sich also eine düstere Diagnose stellen: Die sanfte Barbarei bringt eine Selbstversklavung mit sich, die dazu führt, dass wir in uns einen Überwachungsstaat errichten, der uns zu Selbstkontrolle und Selbstunterwerfung verpflichtet, im Bemühen, Maßstäben zu genügen, die wir vielleicht nicht einmal verstehen, denen wir jedenfalls nicht entsprechen können – allein deshalb schon nicht, weil wir kaum Einfluss auf die Bedingungen haben, unter denen sich dieses Mühen und Streben vollzieht.

Offensichtlich ist dies eine durchaus präzise Beschreibung der Lage, in welche wir uns versetzt sehen, wenn wir versuchen, in der schneeverwehten Fantasy-Welt der Banner Saga-Trilogie zu überleben. Nun lässt sich sicherlich nicht behaupten, dass es Stoic Studio darum gegangen wäre, die Spieler_innen umstandslos in “a mechanically functionalist individual unmarked by gender, sexuality, age, race or unconscious”40 zu verwandeln. Wenn die Überlegungen zutreffend sind, die ich im Zusammenhang mit Domschs „semantic choices“ (oder „narrative choices“) angestellt habe, geht es ja gerade darum, dass die einzige valide Basis, auf der wir in The Banner Saga unsere Entscheidungen treffen können, über die versuchte Einfühlung in die Innerlichkeit beispielsweise Rooks entsteht – wobei die Innerlichkeit der Spiel­figur freilich ebenso sehr ein Ergebnis wie die Voraussetzung dieses Einfühlungsprozesses darstellt. Das heißt, die Antwort, wie wir gerne sein würden, steckten wir in Rooks Stiefeln, bestimmt letztlich unsere Entscheidungen, wobei die Projektion dieses Selbstentwurfs mehr oder weniger spielerisch und experimentell vonstatten gehen mag.41

Nun gibt es gute Gründe für die Annahme, dass The Banner Saga die Spieler_innen auf eine Art und Weise in das fiktive Leben der Figuren zu involvieren vermag, die allzu leichtfertige, gedanken- oder gewissenslose Entscheidungen tendenziell ausschließt. Malindy Hetfield etwa spricht bezogen auf die Trilogie von „the joy of meaningful death“42. Sie erläutert:

From a mechanical point of view, it’s almost scary how many of your friends you can lose in quick succession. Yet it is important to commit to those deaths, because they are what gives The Banner Saga it’s emotional depth. You’re going through war and famine and large-scale destruction, so as frustrating as it may be, there is often no sense to what does or doesn’t cause someone’s death. It’s so impactful because it doesn’t always happen in a battle, as a heroic sacrifice. It just does.

[…] It’s a great equaliser, in a gaming genre that is so often about having the bigger crew and the better preparation, that you mostly don’t know what you’re getting into in The Banner Saga. It’s a trilogy that told me to not get attached, but of course I did.43

Wenn Hetfield Recht hat, ist es umso bemerkenswerter, dass im Spieldesign der Banner Saga-Trilogie – beziehungsweise der Spieler_innen-Position, die die Entwickler von Stoic Studio gestalten – doch auch eine gegenläufige Tendenz auszumachen ist. Sie zielt in der Tat darauf, ein Spieler_innen-Subjekt zu erzeugen, das sich als „a mechanically functionalist individual unmarked by gender, sexuality, age, race or unconscious“44 geriert. Deutlich wird das beispielsweise, wenn Alette zu verstehen gibt, dass sie um keinen Preis menschliche Feinde töten will, und der/die Spieler_in in den entsprechenden Kämpfen fortan die Wahl hat, ob er/sie auf Alettes Bogen verzichtet und ihr, in der Rolle von Rook, mithin erlaubt, sich einen Rest Unschuld zu bewahren – oder ob er/sie, eben als „a mechanically functionalist individual“45, kalkuliert, dass selbige Kämpfe sehr viel schwerer zu gewinnen sind, wenn Alettes Wunsch respektiert wird, und sie also dazu zwingt, Menschen zu töten.

Das ‚Dennoch‘ des Aufbegehrens

Jedenfalls meine ich, dass es uns eine Analyse dieser widerstreitenden Tendenzen innerhalb der Poetik von The Banner Saga erlaubt, zu verstehen, auf welche Idee von Heldentum das Spiel abhebt, worin wiederum, zumindest implizit, eine Positionierung gegenüber Le Goffs süßer, sanfter Barbarei greifbar wird.

Um zu erläutern, was das bedeuten soll, möchte ich mich auf einen Vorschlag von Thomas Hensel beziehen, der John L. Austins Sprechakt-Theo­rie46 auf das Medium Videospiel zu übertragen sucht. Das „Computerbild“ gilt Hensel als „sichtbare Manifestation eines digitalen, operativen Codes, der die Trennung von Ausführung (Aktion) und Darstellung (Repräsentation) unterläuft“47. Das heißt: „Man vollzieht etwas im Gebrauch dieser Bilder, die sich damit als Bildakte erweisen.“ Und weiter: „Wie das Computerbild ist auch das Computerspielbild ein Bildakt (= Performativität erster Ordnung), sozusagen ein momenthaft erspieltes Bild, das nur im Augenblick seines Vollzugs existiert.“48 Hensel geht noch einen Schritt weiter und schreibt dem Videospiel (oder Computerspiel) die Möglichkeit zu, sich als „doppelter Bildakt“ zu realisieren; dies geschehe stets dann, wenn Bildakte „auf der Oberfläche des Computerspiels“ auftreten, wenn dieses „also selbstreflexiv oder opak wird, sprich seine Bildlichkeit als eine seiner Bedingungen bildlich thematisiert“49. Er erläutert:

Das Computerspiel zeichnet sich auf diese Weise nicht nur durch seine Narrativität oder Ludizität aus, sondern auch und gerade durch seine Ikonizität, die jene anderen Eigenschaften von Fall zu Fall in sich zu integrieren vermag. Es gilt somit, das Bild nicht nur als eine Funktion des Narrativen oder Ludischen zu verstehen, sondern umgekehrt das Narrative oder Ludische auch als eine Funktion des Bildes. Eine Pointe dieses Ansatzes ist es, dass das Medium Bild die Spielherausforderungen entgegen dem gängigen Klischee nicht nur konturiert und kontextualisiert, sprich rahmt, sondern vielmehr das Bild selbst die Spielherausforderung ist. Und mehr noch: Nicht nur wird das Bild gespielt – das Bild spielt auch.50

Es scheint mir vielversprechend, The Banner Saga in dieser Perspektive zu betrachten. Das Spiel von Stoic Studio setzt fortwährend „doppelte Bildakte“ ins Werk – zumindest dann, wenn man Hensels Überlegungen nicht nur im Hinblick auf das einzelne Bild, sondern auch auf den Erfahrungsmodus, den die audiovisuelle Bildlichkeit eines Spiels in ihrer Gesamtheit gestaltet, Gültigkeit zuspricht: Einerseits nämlich lässt The Banner Saga vor unseren Augen eine Fantasy-Welt entstehen, die nach edlen Taten und Heldenmut verlangt, nach Menschen oder Varl also, die eine Stärke in sich finden, den Dredge zu trotzen und Bosheit und Verzweiflung zu überwinden; andererseits reduziert es die Möglichkeiten, mit dieser Welt zu interagieren, bis nur noch jenes harsche, bittere Entweder-oder übrig bleibt, das gerade die Möglichkeit einer heroischen Intervention oft genug ausschließt.

The Banner Saga ‚spielt‘ also gleichsam mit den Wünschen der Spieler_innen, mit ihrem Verlangen danach, jene zugleich bezaubernd schöne und trostlos-verkarstete Fantasy-Welt zu retten, ihr und ihren Bewohner_in­nen etwas Gutes zu erweisen, liebgewonnene Spielfiguren aus ihrer Not, ihrem Elend, ihrer Angst und ihrem Schmerz zu befreien. Doch das, was wir faktisch tun können, läuft eben meistens auf jene Entweder-oder-Entschei­dungen hinaus, die als Form der Bezugnahme an sich schon die Distanzierung der Spieler_innen verlangen, in ihrer konkreten Ausgestaltung zusätz­lich immer wieder harsche und obendrein vergebliche Kalkulationen er­for­dern, die geradezu eine herzlose Haltung von den Spieler_innen zu erzwin­gen suchen; danach streben, mit anderen Worten, sie in „a me­chanically functionalist individual“51 zu verwandeln. Denn was The Banner Saga von uns wissen will, läuft strukturell immer wieder auf die Frage hinaus, ob wir einen friedlichen Bauern einschüchtern und bedrohen wollen, um seines Viehs habhaft zu werden, oder Gerechtigkeit walten lassen – und damit riskieren, dass unsere eigenen Leute verhungern.

Man kann also durchaus sagen, dass The Banner Saga den Spieler_innen situativ die Möglichkeit heroischen Handelns zubilligt – nur muss man sie dem Spiel abtrotzen, jene Spiel-Räume der Freiheit und des Edelmuts. Aber das erfolgt in einem Prozess fortlaufenden Scheiterns, der darauf abzielt, eine Möglichkeit des Guten zu schaffen, die in der Welt eigentlich nicht – oder nicht mehr – vorgesehen ist, oder aber in die Kapitulation der Spieler_innen mündet. All die kleinen und großen Entscheidungen, die wir treffen müssen, summieren sich zu einer Grundentscheidung, die zwar, da es sich bei The Banner Saga schließlich immer noch um ein Spiel handelt, verhältnismäßig leicht revidierbar ist, die Spielerfahrung aber nichtsdestoweniger mit großem Ernst erfüllt: Willst du jemand sein, so fragt uns das Spiel, der Fremden, die in Not geraten sind, zu helfen sucht – und dabei riskiert, enttäuscht und betrogen zu werden? Oder ziehst du dich zurück in die Verhärtung einer kalten und selbstsüchtigen Rationalität – die übrigens ihrerseits droht, an der Unwägbarkeit des eigenen Kalküls zu scheitern?52 Kurzum: Ob sie wollen oder nicht, die Spieler_innen sind stets Agent_innen sowohl der Katastrophe als auch der Eukatastrophe53 – mal so, mal so, wiewohl in den seltensten Fällen klar ist, welche Konsequenzen ein bestimmtes Vorgehen nach sich zieht.

Zweifellos setzt The Banner Saga auf Spieler_innen, die entschlossen sind, das ‚Dennoch‘ eines hartnäckigen, wenngleich arg gebeu­telten Heroismus aufrechtzuerhalten. Dann nämlich gestaltet sich die Spiel­erfahrung als konflikthafte Auseinandersetzung mit dem Gesetz der Spiel­welt. Es ist ein fortwährendes Aufbegehren gegen die Erbarmungslosigkeit dieser Welt, das im Wechsel mit der zähneknirschenden Anerkennung all der Überlebenszwänge, die das Spiel verhängt, einen ganz eigenen Rhythmus taktet.

So werden sich die Spieler_innen hinreichend an der Spielwelt aufge­rieben haben, wenn das Finale von The Banner Saga beginnt, sodass die exemplarische Eukatastrophe, die dieses Finale gestaltet, sie mit aller Wucht zu berühren vermag. Exemplarisch ist die Eukastastrophe, mit welcher der erste Teil der Trilogie endet, nämlich sowohl in dem jähen Aufstrahlen einer unmöglichen Hoffnung als auch in dem bitteren Schmerz, der den Schattenwurf jenes gleißenden Lichts bildet. Zwar gelingt es den Menschen und den Varl, gegen eine schier unüberwindliche Dredge-Armee zu bestehen und den Anführer der Steinwesen, den unsterblichen Bellower in die Knie zu zwingen, doch müssen entweder Rook oder Alette diesen Sieg mit ihrem Leben bezahlen.54 Vielleicht wissen das die Spieler_innen sogar – nachdem sie im Verlauf von The Banner Saga reichlich Lehrgeld haben zahlen müssen –, wenn sie die Entscheidung treffen, ob Vater oder Tochter gegen Bellower anzutreten hat.

Auf diese Weise gestaltet The Banner Saga ein Konzept von Heroismus, das sich durchaus auf Le Goffs sanfte Barbarei beziehen lässt – und zwar als Absage an Selbstversklavung, Selbstüberwachung, Selbstkontrolle und Selbst­optimierung im Namen irgendwelcher Sachzwänge, die den Gesetzen des „Marktes“ und der „Globalisierung“ gehorchen, welche ihrerseits längst schon in den Stand von Göttern erhoben wurden, obgleich sie doch nur Götzen sind. Der Heroismus, den The Banner Saga an die Stelle des “mechanically functionalist individual”55 setzt, ist freilich ein Heroismus der Ohnmacht. Es geht hier darum, die Ohnmacht, das Scheitern und das Versagen auszuhalten; immer wieder mit anzusehen, wie der Versuch, das Gute zu tun, etwas Schlechtes herbeiführt – und dennoch nicht aufzugeben; sie nicht mitzumachen, die Verwandlung in eine Rechenmaschine, die nur noch ein Kalkül von Gewinn und Verlust kennt. Der Pessimismus, der dieser Idee von Heldentum eingeschrieben ist, rührt also daher, dass eine Veränderung der Umstände, welche das heroische Handeln notwendig machen, ausgeschlossen scheint. Die Regeln des Spiels, d. h. die Gesetzmäßigkeiten der Spielwelt, lassen sich nicht ändern – oder aber die Entstehung der Möglichkeit, sie zu ändern, ist an das Heraufdämmern einer Zukunft nach dem Ende der Trilogie gebunden. Was bleibt, ist der Eigen-Sinn, an Werten und Haltungen festzuhalten, auch wenn sie die eigenen Gewinnchancen nicht erhöhen, sondern vielleicht sogar mindern: ein Heroismus, den die Spieler_innen etwa Rook und Alette angedeihen lassen können, wenn sie ihre eigene Haltung zu dem Spiel gefunden haben.

Zwar werden die Figuren von The Banner Saga nur deshalb zu Helden, weil sie keine andere Wahl haben. Die meiste Zeit sind sie auf der Flucht und sehen voll ratlosem Schrecken dabei zu, wie ihr Leben und ihre Welt in Stücke brechen. Und die allerwenigsten von ihnen kämpfen, weil sie sich stark und mächtig fühlen. Doch kämpfen tun sie. Irgendwann kommt – und das ist in der Banner Saga-Trilogie eben wörtlich zu nehmen – eine allesverschlingende Dunkelheit, die die Herdfeuer zum Erlöschen und die Lieder zum Verstummen bringt. Die Held_innen des Spiels stellen sich dieser Dunkelheit entgegen. Es ist nicht so, dass sie an den Sieg glauben. Aber sie fügen sich auch nicht in die Niederlage. Denn in ihnen stößt, wie es über einen alten, todkranken Mann heißt, der Rook und Alette in seinem unwahrscheinlichen Heroismus verschwistert ist, „ein unbändiger Trotz hoch, in dieser Welt zu bestehen und für eine andere, bessere, zu kämpfen“56.

 

Medienverzeichnis

Spiele

Bethesda Game Studios: The Elder Scrolls V: Skyrim (PlayStation 4). USA: Bethesda Softworks 2011.

CD Project Red: The Witcher 2: Assassins of Kings (Xbox 360). PL: CD Project RED 2011.

Stoic Studio: The Banner Saga (PlayStation 4). USA: Versus Evil 2014.

Stoic Studio: The Banner Saga 2 (PlayStation 4). USA: Versus Evil 2016.

Stoic Studio: The Banner Saga 3 (PlayStation 4). USA: Versus Evil 2018.

Literatur

Ascher, Franziska; Schlegel, Mireya; Unterhuber, Tobias: Vorwort. Der Prinz oder der Frosch? In: Redaktion PAIDIA (Hg.): „I’ll remember this“. Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2016, S. 9–14.

Austin, John L.: How to Do Things with Words? Cambridge: Harvard University Press 1962.

Burgin, Victor: Interactive Cinema and the Uncinematic. In: Koch, Gertrud; Pantenburg, Volker; Rothöhler, Simon (Hg.): Screen Dynamics. Mapping the Borders of Cinema. Wien: Österreichisches Filmmuseum/SYNEMA 2012, S. 93–107.

Deleuze, Gilles: Kontrolle und Werden [1990]. In: Ders. (Hg.): Unterhandlungen. 1972–1990. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 243–253.

Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften [1990]. In: Ders. (Hg.): Unterhandlungen. 1972–1990. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 254–262.

Domsch, Sebastian: Storyplaying. Agency and Narrative in Video Games. Berlin, Boston: De Gruyter 2013.

Dürrenmatt, Friedrich: Der Richter und sein Henker / Der Verdacht. Zürich: Diogenes 1998.

Ekman, Stefan: Here be Dragons. Exploring Fantasy Maps and Settings. Middletown: Wesleyan University Press 2013.

Feige, Daniel Martin: Kunst. In: Feige, Daniel Martin; Ostritsch, Sebastian; Rautzenberg, Markus (Hg.): Philosophie des Computerspiels. Theorie – Ästhetik – Praxis. Stuttgart: J. B. Metzler 2018, S. 177–192.

Harman, Stace: The Banner Saga review. Trooping the colors. In: www.euro­gamer.net, 14.01.2014. <https://www.eurogamer.net/articles/2014-01-14-the-ban­ner-sa­ga-review> [01.07.2019].

Hennig, Martin: „This game series adapts to the choices you make.“ Eine raumsemantische Typologie von Entscheidungssituationen und die Funktionen seriellen Erzählens in aktuellen Episodenspielen. In: Redaktion PAIDIA (Hg.): „I’ll remember this“. Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2016, S. 145–165.

Hensel, Thomas: Bild. In: Beil, Benjamin; Hensel, Thomas; Rauscher, Andreas (Hg.): Game Studies. Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 47–62.

Hetfield, Malindy: The Joy of meaningful death in The Banner Saga. 16.10.2018. <https://www.rockpaper­shot­gun.com/ 2018/10/16/the-joy-of-meaningful-death-in-the-banner-saga> [01.07.2019].

Illger, Daniel: Grüne Sonnen. Poetik und Politik der Fantasy am Medium Videospiel. Berlin, Boston: De Gruyter 2020 (im Druck).

Kappelhoff, Hermann: Kognition und Reflexion. Zur Theorie filmischen Denkens. Berlin, Boston: De Gruyter 2018.

Köberer, Nina; Maisenhölder, Patrick; Rath, Matthias: Der homo narrans und ethisch-moralische Entscheidungssituationen in digitalen Spielen. In: Redaktion PAIDIA (Hg.): „I’ll remember this“. Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2016, S. 193–213.

Kutscherow, Maria: Moral in der Apokalypse? Entscheidungen und Entscheidungssysteme in katastrophischen und (post-)apokalyptischen Computerspielen. In: Redaktion PAIDIA (Hg.): „I’ll remember this“. Funktion, Inszenierung und Wan­del von Entscheidung im Computerspiel. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2016, S. 215–233.

Le Goff, Jean-Pierre: La barbarie douce. La modernization aveugle des enterprises et de l’école. Paris: La Découverte 2003 [1999].

Luibl, Jörg: Test: The Banner Saga. 14.01.2014. <https://www.4players.de/4play­ers.php/dispbericht/PC-CDROM/Test/30117/80232/0/The_Banner_Saga.html> [01.07.2019].

Neitzel, Britta: Involvement. In: Beil, Benjamin; Hensel, Thomas; Rauscher, Andreas (Hg.): Game Studies. Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 219–234.

Reidy, Julian: „There are so many choices!“ Zur Entscheidungssituation im Computerspiel. In: Redaktion PAIDIA (Hg.): „I’ll remember this“. Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2016, S. 275–290.

Schellong, Marcel: „Sorry, but you’re in my story now“. Zankende Entscheidende und rivalisierende Entscheidungsdispositive in The Stanley Parable. In: Redaktion PAIDIA (Hg.): „I’ll remember this“. Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2016, S. 311–334.

Tolkien, J. R. R.: Über Märchen. In: Ders.: Gute Drachen sind rar. Drei Aufsätze. Stuttgart: Klett-Cotta 1983, S. 51–140.

Unterhuber, Tobias; Schellong, Marcel: Wovon wir sprechen, wenn wir vom Deci­sion Turn sprechen. In: Redaktion PAIDIA (Hg.): „I’ll remember this“. Funk­tion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2016, S. 15–31.

 

  1. Stoic Studio: The Banner Saga. 2014[]
  2.  Meine Anmerkungen beziehen sich vorwiegend auf den ersten Teil der Trilogie; im Wesentlichen gelten sie aber gleichfalls für The Banner Saga 2 (Stoic Studio, 2016) und The Banner Saga 3 (Stoic Studio, 2018): Die Spiele erzählen eine fortlaufende Geschichte, sind im selben Grafikstil gehalten, und auch das Fundament der Spielmechaniken bleibt sich gleich.[]
  3.  In meiner Habilitationsschrift habe ich versucht, eine filmwissenschaftliche Methodik zur Analyse audiovisueller Bilder auf das Videospiel zu übertragen. Diese Methode zielt auf die Rekonstruktion einer Zuschauer_innen- bzw. Spieler_innen-Position. Selbige ist in objektivierbaren Merkmalen des Films oder Spiels angelegt (also etwa einer spezifischen Bildrhythmik oder Figurengestaltung), kann sich aber letztlich nur in dem konkreten Zuschauer_innen- bzw. Spielerleben verwirklichen. In der Analyse geht es also um den sprachlichen Nachvollzug einer ästhetischen Erfahrung, und zwar nicht zuletzt auch als eines spezifischen Modus der affektiven bzw. emotionalen Affizierung. Das heißt, wenn das Medium Videospiel in Rede steht, zielt die analytische Arbeit wesentlich darauf, das eigene Spielerleben zu reflektieren, um aus dieser Reflexion heraus auf mögliche (u. a. politische) Bedeutungen des jeweiligen Spiels zu schließen. Eine solche erfahrungsästhetische Rekonstruktion schließt den Versuch ein, die Affizierungsstrategien eines Spiels im sprachlichen Nachvollzug greifbar zu machen – was etwa die Frage betrifft, wie sich das Pathos des Weltentwurfs von The Banner Saga als Spielerleben realisiert. Vgl. zu den theoretischen Grundlagen der filmwissenschaft­lichen Methodik: Kappelhoff: Kognition und Reflexion. 2018. Vgl. zu meinem Versuch, diese Methodik auf das Medium Videospiel zu übertragen: Illger: Grüne Sonnen. 2020 (im Druck), S. 78–113.[]
  4. Vgl. Le Goff: La barbarie douce. 2003.[]
  5. Im zweiten und dritten Teil der Banner Saga ist der Spielverlauf insofern weniger einförmig, als die Kämpfe selbst abwechslungsreicher gestaltet sind und das Geschehen öfter als zuvor von kleinen filmischen Einlagen oder dramaturgisch fixierten und ausgestalteten Sequenzen aufgelockert wird. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die Intensität des Spielgefühls, in einer verfallenden Welt ums nackte Überleben zu kämpfen, nicht auch ein Stück weit der Gleichförmigkeit des Trilogie-Auftakts geschuldet (beziehungsweise zu verdanken) sein könnte.[]
  6. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, kommen im Verlauf der Trilogie noch zwei weitere Drohungen hinzu: Sie haben die Gestalt einer weltenverschlingenden Riesenschlange und einer metaphysischen Finsternis, die unaufhaltsam näherrückt.[]
  7. Die Spieler_innen können (und müssen) die Dredge zwar in zahlreichen Einzelkämpfen besiegen; es ist allerdings unmöglich, den Krieg gegen sie militärisch zu gewinnen.[]
  8. In der Art, wie The Banner Saga einerseits die Notwendigkeit, Entscheidungen zu tref­fen, in den Mittelpunkt der Spielerfahrung stellt, es den Spieler_innen andererseits nahezu unmöglich macht, zufriedenstellende Entscheidungen zu treffen, kann das Spiel von Stoic Studio durchaus als beispielhaft für das gelten, was die PAIDIA-Redaktion als „Decision Turn“ bezeichnet. Franziska Ascher, Mireya Schlegel und Tobias Unterhuber führen aus: „In guter kulturwissenschaftlicher Tradition entschieden wir uns für die Bezeichnung dieser zu beobachtenden Entwicklung als Decision Turn – ein Begriff, der in aller gebotenen Kürze fassen soll, dass sich eine Art von Computerspielen herauskristallisiert hat, die erstens Entscheidungen in den Vordergrund stellt und zweitens bisher übliche Lösungsstrategien, die Problemstellungen mit einer optimalen Lösung favorisierten, unterminiert. […] Und selbst dann noch [in Kenntnis aller Konsequenzen, D.I.] kann die beste Entscheidung einen bitteren Beigeschmack haben oder die Erkenntnis beinhalten, dass die verfügbaren Optionen nicht mehr der Dichotomie gut oder böse entsprechen“ (Ascher/Schlegel/Unterhuber: Vorwort. 2016, S. 10). Vgl. zu der Frage, inwieweit Videospiele mit „katastrophischem“ oder „(post-)apo­ka­lyptischem Setting“ besonders dafür geeignet sind, die Spieler_innen mit harten und hoffnungslosen Entscheidungen zu konfrontieren: Kutscherow: Moral in der Apoka­lypse? 2016, v. a. S. 221 u. 229.[]
  9. Domsch: Storyplaying. 2013, S. 112. Ich beziehe mich im Weiteren vorwiegend auf Domschs Klassifikation von Entscheidungen im Videospiel, da sie mir – auch aufgrund einer gewissen Einfachheit und Eingängigkeit – erlaubt, recht umstandslos zu zeigen, worauf es mir bei The Banner Saga ankommt. Das soll allerdings nicht heißen, dass mit Domschs Thesen sozusagen das letztgültige Wort der Game Studies bezüglich dieses Gegenstands gesprochen wäre. Beispielsweise legen Martin Hennig und Marcel Schellong differenzierte semiologische Theorien zur Funktionsweise von Entscheidungen im Videospiel vor (vgl. Hennig: This game series adapts to the choices you make.“ 2016; vgl. auch: Schellong: Sorry, but you’re in my story now“. 2016).[]
  10. Domsch: Storyplaying. 2013, S. 114[]
  11. ebd.[]
  12. ebd., S. 115[]
  13. ebd.[]
  14. Luibl: The Banner Saga. 2014[]
  15.  Freilich ist es in The Banner Saga, wie in den meisten zeitgenössischen Videospielen, möglich, zu einem früheren Spielstand zurückzukehren. Dies jedoch nicht ohne Weiteres, denn: „a well-judged auto-save-only system means that, while reloading a previous save to undo a poor decision is possible, it will usually result in losing several hours of play“ (Harman: The Banner Saga review. 2014).[]
  16. Luibl: The Banner Saga. 2014[]
  17. ebd.[]
  18. Vgl. Tolkien: Über Märchen. 1983, v. a. S. 125–127. In Tolkiens Perspektive ist mit der Eukatastrophe jene glückliche, unverhoffte und eigentlich nahezu unvorstellbare Wendung zum Guten bezeichnet, die es in jeder Fairy Story geben müsse, die den Namen verdient. Darüber hinaus erlaube es die Eukatastrophe, so der Christ Tolkien, das entscheidende Prinzip zu erfassen, welches über der Weltgeschichte walte, da Gott in Geburt und Auferstehung seines Sohnes Jesus eben eine solche glückliche Wendung für die Menschheit herbeigeführt habe: wider alle Wahrscheinlichkeit, Erwartung und Hoffnung.[]
  19. Vgl. Domsch: Storyplaying. 2013, S. 124. Auch hierin kann The Banner Saga als beispielhaft für den „Decision Turn“ gelten. Wenn Tobias Unterhuber und Marcel Schellong recht haben, hat sich etwa seit The Witcher 2: Assassins of Kings (CD Project RED, 2011) eine deutliche Verschiebung in der Logik ergeben, wie Videospiele ihre Entscheidungssysteme implementieren. Folgt man den Autoren, war es lange Zeit so, dass die Entscheidungen, die die Spieler_innen zu treffen hatten, „zwar in ein moralisches Framing eingebettet [waren], dennoch handelte es sich dabei weder um moralische Entscheidungen noch Dilemmata, da andere Überlegungen diese überlagerten: Belohnungen für die ,richtige‘ Entscheidung oder gar die einzige Möglichkeit des Weiterkommens machten aus den oberflächlich moralischen Entscheidungen eigentlich ökonomische. Damit folgten sie der konventionellen Strategie des Computerspiels, die eben einer ökonomischen Norm der Gewinnmaximierung und Effizienz
    oder sogar einer neoliberalen Ideologie verpflichtet war.“ Im Zuge des „Decision Turn“ ergab sich u. a. die folgende Veränderung: „Der moralische und handlungsbestimmende Rahmen dieser Entscheidungen veränderte sich merklich. Eine primär ökonomistische Handlungsstrategie allein scheint nicht mehr zielführend zu sein. Dominante Strategien werden insgesamt in ihrer Validität infrage gestellt.“ Vgl.: Unterhuber/Schellong: Wovon wir sprechen, wenn wir vom Decision Turn sprechen. 2016, S. 18 u. 19.[]
  20. Domsch: Storyplaying. 2013, S. 125[]
  21. Ebd., S. 125 f. Domsch gibt dazu folgendes Beispiel: „Character-based choices can overlap with and sometimes overrule gameplay rationality. Thus, the tactical choice for a specific weapon can be overruled by the player’s idea that ‚my character would never use an axe, she is more the bow-and-arrow type‘, even though choosing the axe might have given a real gameplay advantage“ (ebd., S. 126).[]
  22.  Britta Neitzel stellt folgende These auf: „Im Gegensatz zur sozialen Interaktion, die unsicher ist, bietet die Interaktivität Sicherheit an. Als Souverän kann sich das spielende Subjekt nicht nur insofern fühlen, als es eine einfache Handlung übersieht und ausführt, sondern auch weil es das System durchschauen kann. Gerade die Möglichkeit, sich im Laufe des Spielens Regel-, Verhaltens- und Interaktionssysteme zu erschließen, unterscheidet Computerspiele von vielen anderen Spielen, in denen ein Regelsystem von vornherein gegeben ist und das Set von möglichen Handlungen vorgibt“ (Neitzel: Involvement. 2018, S. 231). In Hinblick auf Spiele wie The Banner Saga, in denen man sich durchaus nicht als ‚Souverän‘ fühlen kann oder soll, erscheint mir diese These zumindest in ihrer Allgemeinheit eher zweifelhaft.[]
  23. Daniel Martin Feige etwa erkennt den „Kunstcharakter“ von Videospielen darin, „dass wir uns im Spielen dieser Spiele selbst durchspielen; dass wir uns im Lichte des Aushandlungsgeschehens, das das Spiel ist, selbst neu aushandeln. Und dass ein Computerspiel als Kunstwerk gelingt, muss heißen, dass es etwas verhandelt, was nur in und durch die Form dieser Verhandlung zu haben ist. Die Form dieser Aushandlung heißt im Bereich des Computerspiels natürlich vor allem auch: Dass wir das Spiel spielen müssen, um es zu verstehen“ (Feige: Kunst. 2018, S. 186 f.).[]
  24.  Auch dies mag bis zu einem gewissen Grad als allgemeines Merkmal von Spielen gelten, die die Entscheidungen der Spieler_innen in den Mittelpunkt der Spielerfahrung stellen; allerdings scheint mir, dass der Frage nach Gut und Böse in der Fantasy-Interpretation, die The Banner Saga vornimmt, eine durchaus unübliche Dringlichkeit bekommt.[]
  25. Vgl. Illger: Grüne Sonnen. 2020 (im Druck), S. 62–70.[]
  26. Bethesda Game Studios: The Elder Scrolls V: Skyrim. 2011[]
  27.  Das Beispiel von The Banner Saga legt nahe, dass sich die Ergebnisse, die Stefan Ekmans Lektüre von Karten aus Fantasy- beziehungsweise Fantastik-Romanen hervorgebracht hat, auf andere Medien als das Buch übertragen lassen: „More surprisingly, the topofocal readings revealed much about fundamental aspects of the works, such as their underlying attitudes and central concerns. These readings turned out to be useful in clarifying the roles and nature of certain characters, and they helped demonstrate how plot, character, and setting are interwoven“ (Ekman: Here be Dragons. 2013, S. 219).[]
  28. Im dritten Teil der Banner Saga, wenn man schließlich in die Dunkelheit selbst vorrückt, kommen noch dämonisch verwandelte Variationen der Bewohner_innen der Spielwelt hinzu.[]
  29.  Ich stimme Tobias Unterhuber und Marcel Schellong zu, wenn sie schreiben, die Kritik, in Videospielen seien Entscheidungsmöglichkeiten „nur Illusion“, würde zwei „wichtige Dinge“ übersehen: „Erstens macht es sehr wohl einen Unterschied, wie die Spielerin sich entscheidet, egal wie klein die Entscheidung ist, da ihre Entscheidung durch die Handlungen ihrer Spielfigur Teil der Narration wird. Ob sie nun Hey oder Hallo wählt, macht mindestens den Unterschied, dass sie Hey oder Hallo sagt. Prozessual geht jede dieser Entscheidungen in die Erzählung ein und verändert sie und das Spielerleben und – wie Jody Macgregor anmerkt – auch den Ton der Erzählung. Zweitens ist es nicht so wichtig, ob die Entscheidungen Auswirkungen haben, sondern dass die Spielerin annimmt, sie hätten welche. Die Inszenierung der Entscheidung macht die Momente der Entscheidung aus. Wir nehmen sie anders wahr. Wenn wir den Entscheidungsmomenten im heiligen Ernst des Spiels entgegentreten, werden sie erlebbar als Simulationen von realer Erfahrung“ (Unterhuber/Schellong: Wovon wir sprechen, wenn wir vom Decision Turn sprechen. 2016, S. 26).[]
  30. Vgl. Le Goff: La barbarie douce. 2003, S. 5.[]
  31.  ebd., S. 7; Übersetzung aus dem Französischen: „sie zerstört die Bedeutungen und den Gemeinsinn“[]
  32.  so der Untertitel des Buches: La modernisation aveugle des entreprises et de l’école (vgl. ebd., S. 3[]
  33. Ebd., S. 8 f.; Übersetzung aus dem Französischen: „Die sanfte Barbarei will eine Art permanente kulturelle Revolution hervorrufen, die eine andauernde Umwälzung unserer Art zu leben, zu handeln und zu denken mit sich bringt. Nichts und niemand wird in Ruhe gelassen. Sowohl in ihrem persönlichen als auch in ihrem beruflichen Leben sind die Individuen ständig dazu angehalten, ihre ‚Autonomie‘ und ‚Verantwortlichkeit‘ unter Beweis zu stellen, sie müssen ‚motiviert‘, ‚reaktionsschnell‘ und ‚partizipativ‘ sein.“
    Gilles Deleuze beschreibt in seinem Postskriptum über die Kontrollgesellschaften ein ähnliches Phänomen: „In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen […], während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird:
    Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht“ (Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. 1993, S. 257).
    An anderer Stelle heißt es dazu am Beispiel des Verhältnisses von Arbeit und Schule, das auch Le Goff interessiert: „Und es ist absehbar, daß die Ausbildung nicht länger ein geschlossenes Milieu bleiben wird, das sich von der Arbeitswelt als anderem geschlossenen Milieu unterscheidet, sondern daß beides verschwinden wird zugunsten einer schrecklichen permanenten Fortbildung, einer kontinuierlichen Kontrolle, welcher der Arbeiter-Gymnasiast oder der leitende Angestellte-Student unterworfen sein wird. […] In einem Kontroll-Regime hat man nie mit irgend etwas abgeschlossen.“ Wenig später fügt er an: „Angesichts der kommenden Formen permanenter Kontrolle im offenen Milieu könnte es sein, daß uns die härtesten Internierungen zu einer freundlichen und rosigen Vergangenheit zu gehören scheinen. Die Suche nach Universalien der Kommunikation sollte uns das Fürchten lehren“ (Deleuze: Kontrolle und Werden. 1993, S. 251).
    Doch Widerstand gegen diese universelle Durchformung des Individuums ist möglich: „Der Glaube an die Welt ist das, was uns am meisten fehlt; wir haben die Welt völlig verloren, wir sind ihrer beraubt worden. An die Welt glauben, das heißt zum Beispiel, Ereignisse hervorzurufen, die der Kontrolle entgehen, auch wenn sie klein sind, oder neue Zeit-Räume in die Welt zu bringen, selbst mit kleiner Oberfläche oder reduziertem Volumen“ (ebd., S. 253). []
  34. Vgl. Le Goff: La barbarie douce. 2003, S. 19–21.[]
  35. Vgl. ebd., S. 19 u. 21.[]
  36. „Des salariés ‚autonomes‘ de toute référence et de toute protection du droit du travail, s’identifiant à la direction, décidant eux-mêmes, en toute ‚transparence‘, de leur propre licenciement: n’est-ce pas là la figure accomplie de l’autoservitude qui va jusqu’au sacrifice? Le modèle libéral rejoint celui de l’autonomie comme figure de la déréglementation“ (ebd., S. 21). Übersetzung aus dem Französischen: „Arbeitnehmer, die sich, ‚autonom‘ von jeglicher Bezugnahme und jeglichem Schutz des Arbeitsrechts, mit dem Management identifizieren und selbst, in aller ‚Transparenz‘, ihre eigene Entlassung verfügen – ist das nicht die vollendete Gestalt der Selbstversklavung, die bis hin zum Opfer geht? Das liberale Modell trifft sich mit jenem der Autonomie in der Gestalt der Deregulierung.“[]
  37. Burgin: Interactive Cinema and the Uncinematic. 2012, S. 99[]
  38. ebd.[]
  39. Ebendies ist es, was Gilles Deleuze meint, wenn er davon spricht, die Individuen in den Kontrollgesellschaften seien „dividuell“ geworden (vgl. Deleuze: Kontrolle und Werden. 1993, S. 258, Hervorh. i. Orig.).[]
  40. Burgin: Interactive Cinema and the Uncinematic. 2012, S. 99[]
  41.  In diesem Zusammenhang könnte es hilfreich sein, sich mit Julian Reidy darum zu bemühen, Kirkegaards Unterscheidung zwischen „ästhetischen“ und „ethischen“ Entscheidungen auf das Medium Videospiel zu übertragen (vgl. Reidy: There are so many choices!“. 2016, S. 286).[]
  42. Hetfield: The Joy of meaningful death in The Banner Saga. 2018[]
  43.  ebd.[]
  44. Burgin: Interactive Cinema and the Uncinematic. 2012, S. 99[]
  45. ebd.[]
  46. Vgl. Austin: How to Do Things with Words? 1962.[]
  47. Hensel: Bild. 2018, S. 47–62, hier: S. 56[]
  48. ebd., S. 56, Hervorh. i. Orig.[]
  49. ebd., S. 58[]
  50. ebd.[]
  51. Burgin: Interactive Cinema and the Uncinematic. 2012, S. 99[]
  52. Unter Bezugnahme auf die Überlegungen von Tobias Unterhuber und Marcel Schellong könnte man sagen, dass The Banner Saga zu jenen Entscheidungsspielen zählt, die einen Bruch zumindest mit einem neoliberalen Ökonomismus vollziehen. Die beiden schreiben: „Damit kann Ökonomismus eben nicht mehr die Funktion einer handlungsleitenden Strategie übernehmen, da die präsentierten Möglichkeiten keinen höheren Pay-off versprechen. Erst hier scheint die Entscheidung zur Entscheidung von Gewicht, zur schwerwiegenden Entscheidung zu werden. Die Vorstellung der Alternativlosigkeit von ökonomischen Lösungswegen wird als Alternative oder gar als richtige Wahl nun weitgehend ausgeschlossen. Damit mögen Spiele des Decision Turns sich von neoliberalen Denkarten ablösen, aber ob sie sich auch vom ökonomischen Denken ablösen können, bleibt einstweilen ungewiss. Denn gibt es nicht vielleicht auch so etwas wie einen ,emotional pay-off‘? Und wird das ,richtige Handeln‘ nicht einfach nur von der Ebene des Spiels auf die Ebene der Spielerin verlegt, die für sich immer noch eine Idee des richtigen Handelns kennt?“ (Unterhuber/Schellong: Wovon wir sprechen, wenn wir vom Decision Turn sprechen. 2016, S. 22).
    Allerdings würde ich behaupten, dass The Banner Saga einiges daransetzt, vermeint­liche Gewissheiten aufseiten der Spieler_innen, welche eine Vorstellung vom „richtigen Handeln“ betreffen, zumindest zu erschüttern. Vgl. zu der Frage, inwieweit die Entscheidungen im Videospiel bezogen auf die Spieler_innen eine gewissermaßen pädagogische Funktion haben können: Köberer/Maisenhölder/Rath: Der homo narrans und ethisch-moralische Entscheidungssituationen in digitalen Spielen. 2016, v. a. S. 201 u. 209 f.[]
  53. Für den letzten Teil der Trilogie gilt diese Einschätzung freilich nur mit Abstrichen. Je nachdem, welche Entscheidungen die Spieler_innen im dritten Akt treffen und wie gut sie sich in den rundentaktischen Kämpfen des Finales schlagen, kann die Banner Saga durchaus in einer Eukatastrophe enden, die im strengen Sinn dem entspricht, was sich Tolkien unter dem Begriff vorgestellt hat: D. h., der Welt von Rook und Alette erwachsen Hoffnung und Zukunft, auch wenn einzelne Figuren einen hohen Preis dafür zahlen, dass dieses Ende möglich wird.[]
  54.  Bellower ist übrigens tatsächlich unsterblich; in einer merkwürdigen Volte zielt das Finale von The Banner Saga darauf, dem Dredge-Krieger mithilfe eines magischen Pfeils vorzugaukeln, dass er gestorben sei.[]
  55. Burgin: Interactive Cinema and the Uncinematic. 2012, S. 99[]
  56.  Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker / Der Verdacht. 1998, S. 164, Hervorh. i. Orig.[]

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Illger, Daniel: "Der ohnmächtige Held – Die Fantasy-Welt als Kontrollgesellschaft in ‚The Banner Saga‘". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 25.06.2020, https://paidia.de/der-ohnmaechtige-held/. [21.11.2024 - 14:35]

Autor*innen:

Daniel Illger

Daniel Illger studierte Filmwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Philosophie in Berlin und Münster. Von 2007 bis 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ der Freien Universität Berlin, danach wechselte er zu dem Exzellenzcluster „Languages of Emotion“, wo er bis 2014 als Projektkoordinator tätig war. Nach drei Jahren als freier Schriftsteller kehrte er 2017 an die FU Berlin zurück. Zurzeit vertritt er dort eine Professur für Filmwissenschaft. Er hat zu den Stadtinszenierungen des italienischen Nachkriegskinos promoviert und habilitiert mit einer Studie zum Fantasy-Modus im Videospiel; bei Klett-Cotta erschien die Skargat-Trilogie (Stuttgart 2015–2017). Weitere Informationen unter www.danielillger.de.