Der Klang elektronischen Spielzeugs (1975-1999): Von der programmierten Melodik zum ästhetischen Rauschen
Kontext
Die vorliegende Monografie passt sich in den Bereich der Medienarchäologie insofern ein, als sie den technischen Klang elektronischen Spielzeugs von ca. 1975 bis in die 1990er Jahre zum Gegenstand der Untersuchung hat. Diese Periode wurde bewusst gewählt, da sie »trotz großer technologischer Umbrüche insgesamt durch die relative Knappheit der Ressource Speicherplatz gekennzeichnet« (S. 15 f.) war. Dies habe bei den untersuchten Geräten zu vergleichbaren Gemeinsamkeiten geführt (vgl. S. 16). Zudem wird damit argumentiert, dass diese Geräte derzeit noch im Originalzustand erhältlich sind und untersucht werden können, was in einigen Jahren unter Umständen nicht mehr der Fall sein wird (vgl. S. 28), da die Elektronik irgendwann zum Erhalt der Funktionstüchtigkeit erneuert und durch nicht mehr dem Original entsprechende Ersatzteile verändert werden wird.
Die Monografie befasst sich nun mit dem Klang von Software (Spiel) und Hardware (Abspielgerät). Dem Spielzeugklang wird dabei zu Recht eine Aufmerksamkeitsökonomie unterstellt (vgl. S. 26), denn das audiovisuelle Gesamterlebnis soll den Spieler an das Spiel binden oder ihn zumindest dem Unterhaltungsmedium zugewandt sein lassen. Interessant ist der Gedankengang des Autors, dass der Spieler nicht als aktive, handelnde Person eingeordnet wird, sondern dass es sich eher um einen »Nutzer« handele, der nicht erkenne, dass er nicht selbst spielt, sondern selbst gespielt »wird« (S. 26), konsumiere er doch bloß, was die Software ihm ermögliche. Klang habe dabei die Aufgabe, den Spieler zu motivieren. Dass Klang noch sehr viel mehr bedeutet, zeigt der Autor dann in den einzelnen Unterkapiteln. Der Titel »Random« bezieht sich auf die Zufallsgenerierung, die in vielen Spielen durch die Software hervorgerufen wird. Um Zufälle geht es in diesem Buch wiederkehrend auf verschiedenen Ebenen, um erwünschte Zufälle, um abgemilderte Zufälle, um empfundene Zufälle, um Pseudozufälle, um algorithmisch erzeugte Zufälle et cetera.
Aufbau und Inhalt
Die Veröffentlichung ist unterteilt in die Oberkapitel 1 »Softwareklang«, 2 »Sprachimitation« und 3 »Technische Ästhetik«. In einem vierten Oberkapitel werden methodische Positionen diskutiert. Abgerundet werden alle Kapitel durch eine Zusammenfassung am Schluss des Buches. In der Einleitung wird der Forschungsgegenstand vorgestellt sowie eine Einordnung in die aktuelle Forschung gegeben. Methodisch lehnt sich der Autor an Klangforschungsuntersuchungen und medienwissenschaftliche Überlegungen an, die eine innere Strukturlogik der untersuchten Geräte beleuchten (vgl. S. 15). Das heißt, dass an die Thematik der elektronischen Spielzeugklänge analytisch herangegangen wurde. Durch den Nachbau und -vollzug konkreter Klangsituationen, also als medienarchäologische Wiederaufführung, analysiert der Autor die Spielzeugklänge. Dabei wurde die mathematische Komplexität dargestellt und mit Literatur zur jeweiligen Überlegung sinnvoll ergänzt. Unter anderem wurden psychoanalytische Erklärungsmodelle herangezogen und es wurde wiederholt ein Blick auf ökonomische Interessen gerichtet.
»Softwareklang«: Pseudozufall, abgemilderter Zufall, reduzierter Zufall und echter Zufall
Das erste Kapitel beinhaltet eine Untersuchung der mithilfe von Software (insbesondere Monkey Island 2 und Ballblazer) erzeugten, mehr oder minder zufälligen Klänge. Auch iMuse, Super Mario Bros. und The Legend of Zelda finden Erwähnung. Der Autor schickt voraus, dass der Softwareklang der untersuchten Zeitperiode stets dem Zwang unterliege, schnell und kostengünstig produziert zu werden, damit das elektronische Spielzeug dem Markt (ständiger Novitäten) standhalten könne (vgl. S. 34). Er argumentiert: Der Speicherpreis auf den physikalischen Trägern (der Spiel-Discs) war relativ hoch (vgl. S. 41), die Rechenkapazitäten zur Erzeugung und Variation von Musik lag aber bereits (in der Konsole) vor. Deshalb wurde die Musik mancher Spiele – er nennt als Beispiel die Konsole NES, gemeint sind hier also Spiele, die mit dieser Konsole kompatibel waren – nicht fertig komponiert, sondern sozusagen als Bausteine mitgeliefert, die sich während des Spielens dann zusammensetzten. Das Resultat war eine Art »Pseudozufall« (S. 41). Die Musik passte sich dynamisch an das Spielgeschehen an. An dieser Stelle wird erklärt, dass Computerspiele nicht linear verlaufen, sondern sich abhängig von den Eingangsevents der Spieler entfalten – der virtuelle Raum kann mehrfach betreten werden und in ihm können unterschiedliche Spielzüge stattfinden. Dies beeinflusst nicht nur das Spiel und seinen möglichen Weitergang, sondern auch die Sounds, die das Spielgeschehen begleiten und unterstützen: »Die Kombination und Abfolge der erzeugten klanglichen Ereignisse sind somit einer gewissen Zufälligkeit unterworfen, [sic!] und müssen deshalb bereits bei der Spielherstellung darauf hin konzipiert werden« (S. 42).
Des Weiteren wird festgehalten, dass Sound (z. B. Schritte) und Musik (Hintergrundmusik) sich nicht gegenseitig stören dürfen. Wieder wird der Leser mit dem Wort Zufall konfrontiert. Da dieses Unterkapitel den Titel »Die Abmilderung des Zufälligen« trägt, wird weiter argumentiert: Zufall werde einerseits mit Non-Linearität erreicht, andererseits durch die Maschine selbst, indem vorhandene Musikbausteine durch entsprechende Algorithmen zusammengesetzt werden. Am Beispiel einer Spielszene aus dem Abenteuerspiel Monkey Island 2 verdeutlicht der Autor dies: »Die Musik für die Szene […] enthält insgesamt 34 Takte, von denen zuerst jedoch die ersten 16 als Loop wiederholt werden. Erst wenn die Spieler es schaffen, die Handlung voranzutreiben […], wird die vollständige, 34 Takte umfassende Phrase hörbar« (S. 49). Hier werde dann noch entsprechend variiert, damit die Spieler keinen musikalischen Bruch hören, sondern damit sich die Musikteile ineinanderfügen und ein harmonisches Ganzes ergeben. Die algorithmische Steuerung verbindet also einzelne musikalische Bausteine durch »jeweils passende Übergänge« (S. 49) miteinander. Da diese Übergänge im Voraus programmiert wurden (und durch die Software lediglich bereitgestellt werden), spricht der Autor von einem »reduzierten Zufall« (S. 50). Der Spieler erzeugt einen ›Zufall‹ (der natürlich nur insofern zufällig ist, wie die Programmierung des Spiels es erlaubt) und die Musik reagiert abmildernd darauf, indem sie einen sanften Übergang vom einen zum anderen Motiv schafft. Im Spiel Ballblazer gehe der Zufall dann so weit, dass die programmierte Musik mit der Unvorhersehbarkeit eines Jazz-Solos vergleichbar werde (vgl. S. 52 f.). Es sei eine »Partizipation an einer imaginierten Zukunft« vollzogen worden, »in der die Maschine auf der gleiche[n] Stufe kreativ sein kann, wie der Mensch« (S. 61). Hier befindet man sich im Bereich der generativen Musik. Ein weiterer Blick in die bereits vorhandene Forschung zu adaptiver Musik in Computerspielen wäre an dieser Stelle wünschenswert gewesen, fehlt aber nicht zwingend, da der Autor seine Argumentation selbst schlüssig fortführt. Unter der Überschrift »Ökonomie und Redundanz« werden dann verschiedene Medien und Soundchips vorgestellt (u. a. der Soundchip Pokey, der für die 8-Bit-Ära typisch war und der über vier Stimmen und dreieinhalb Oktaven wiedergeben konnte). Besonderen Erfolg unter den damaligen Spielmusikkomponisten hatte der japanische Komponist für Computerspiele Koji Kondo mit seinen Kompositionen zum ebenfalls erfolgreichen Spiel Super Marion Bros. Sein Erfolg beruhe, so der Autor, auf dem »grotesken Kontrast zwischen Hochtechnologie und Retroästhetik« (S. 76).
In einem weiteren Unterkapitel zu operationalisierter Mathematik geht der Autor dann auf den PASCAL-Rechner ein, bei dem es echte Zufälle gebe (vgl. S. 83). Hier stehe das »erkennende […] Abhören des PASCAL-Computers […] in einem direkten Zusammenhang mit der Wahrnehmung […] von techniknahen Klängen der elektronischen […] Spielzeuge« (S. 89). Der Autor erklärt, dass er Algorithmen nachprogrammiert habe und so die entsprechenden Klangbeispiele nachbilden konnte (vgl. S. 91). Dieser Nachbau trage nicht nur zum Verständnis bei und belege die Richtigkeit der erkannten Algorithmen, sondern diene als Beispiel zur konkreten Anwendung operativer Medienarchäologie, »die nicht nur einen besseren Einblick in die zeitlichen Strukturen der algorithmisch rechnenden Maschinen der 1960er Jahre erlaubt, sondern auch die Möglichkeit bietet – etwa durch Modifikation des Algorithmus – mit einem Modell des historischen und im Original nicht mehr einsatzfähigen Mediums heute noch operativ zu experimentieren« (S. 92).
Speak & Spell: »Sprachimitation« – Unheimlichkeit und aktiv erzeugter Zufall
In diesem Kapitel wird die Imitation von gesprochener Sprache am Beispiel von Speak & Spell (Texas Instruments ab 1978) behandelt, ein elektronisches Sprachsynthese-Lernspielzeug für Kinder, bei dem es darum geht, Wörter richtig zu buchstabieren und damit die Rechtschreibleistung zu trainieren.
Leider unerwähnt bleibt Speak & Music, ein ebenfalls von Texas Instruments entwickeltes Musizier-Spielzeug in Form einer kleinen chromatischen Tastatur mit verschiedenen keyboard- oder minicomputerähnlichen Zusatztasten. Es bietet unterschiedliche Modi, unter anderem müssen Melodien (allein nach Gehör) richtig wiedergegeben werden. Dies ist eine Aufgabe, die auch in verschiedenen Computerspielen dieser Zeit vorkam (beispielsweise in Legend of Zelda oder Loom), weshalb Speak & Music sich gut in die vorliegende Arbeit eingefügt hätte.
Jedoch – in diesem Kapitel geht es nicht mehr um musikalische Klänge – es geht um Sprache, deren Erzeugung und deren Modifikation. Der Autor schickt Theorien von Walter Ong und David Olson sowie das Shannon’sche Sender-Empfänger-Kommunikationsmodell voraus (S. 115). Diese theoretischen Gedanken sollen nun auf die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine übertragen werden. Fast ein Jahrhundert nachdem Fritz Langs Film Metropolis, in dem ein künstlicher Mensch geschaffen wurde, die Zuschauer faszinierte und erzürnte und der Arzt Fritz Kahn den menschlichen Körper als »Industriepalast« darstellte, scheint es nun erneut in der populären Kultur und vor allem im Kinderzimmer eine Auseinandersetzung mit der Abgrenzung von Mensch und Maschine zu geben. Der »unbeseelte […] Gegenstand« (S. 109), der Speak & Spell Apparat, besitzt eine menschliche Eigenschaft: er spricht.
In der Fantasie eines Kindes kann ein Gegenstand durchaus (vorübergehend bzw. als vorübergehende Realität akzeptiert) beseelt erscheinen. 1974 erschien Ellis Kauts Roman Schlupp vom grünen Stern, in dem ein Roboter durch einen Fehler in der Produktion eine Seele besitzt und menschlich fühlt. Ein weiteres berühmtes Beispiel dieser Zeit, das auch vom Autor herangezogen wird, ist E.T. Und E.T. ist nicht nur ein nicht-menschliches Wesen, das sprechend Gefühle offenbart, E.T. nutzt auch ein modifiziertes Speak & Spell, um die menschliche Sprache zu erlernen (S. 126). Während Kinder künstliche Menschen, in Form von z. B. Puppen, durch ihre eigene Stimme zu Wort kommen lassen, spricht Speak & Spell selbst. Die Stimme von Speak & Spell klingt nicht menschlich, sondern hat einen Maschinenklang. Wird ein Wort korrekt buchstabiert, erklingt ein Lob. Die Maschine sagt: »That is correct.« Nikita Braguinski visualisiert dieses Lob der Maschine mittels der Visualisierungssoftware Praat (Abbildung 24, S. 114). Die nun als Zeichen abgebildeten Worte erinnern trotz kaum vorhandener Sprachmelodie entfernt an Neumen. Inwiefern hier das positive Empfinden eines richtig buchstabierten Wortes und das darauffolgende Lob der Maschine ein Kind freut oder nicht, müsste empirisch untersucht werden. Der Autor stellt die These auf, dass die Lernenden, obwohl eine aufsteigende Sprachmelodie erkennbar wird, dies nicht als aufmunternd wahrnehmen würden, denn sie wüssten schließlich, dass die Maschine sich nicht wirklich über ein positives Ergebnis freuen kann. Dem könnte man an dieser Stelle versucht sein, entgegenzusetzen, dass ein Spiel (mit welchem Gegenstand auch immer) die Akzeptanz des Unmöglichen beinhalten kann. Im Moment des Spiels entscheidet sich der Spieler dazu, dies im Moment des Erlebens als vorübergehende Realität zu akzeptieren. Sie gehen sozusagen einen Fiktionsvertrag ein.
Nikita Braguinski verfolgt aber einen anderen Gedanken und erklärt nun, dass sprechende Maschinen durchaus in die psychoanalytische Kategorie des Unheimlichen fallen. Dies war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall, beispielsweise mit der Verbreitung des Grammophons. Plötzlich waren »Stimmen aus dem Äther« hörbar, wenn frühere Aufnahmen bereits verstorbener Sänger abgespielt wurden. In der vom Autor untersuchten Zeitperiode war dies längst verbreitet. Auch sprechende Maschinen, also Roboterstimmen, fanden sich in der populären Kultur wieder (z. B. Kraftwerk 1978 Die Mensch-Maschine). Dennoch scheint eine sprechende Maschine doch lange Zeit von einer Ungeheuerlichkeit begleitet. Der Autor zieht dazu Ernst Jensch und Masahiro Mori heran (vgl. S. 128) und erklärt, dass das Empathieempfinden in Bezug auf menschenähnliche Objekte abhängig vom Grad ihrer Ähnlichkeit zum Menschen sei. Die Unheimlichkeit komme allgemein zunächst daher, dass das Erklingen einer Stimme an eine (imaginäre) Persönlichkeit und Körperlichkeit geknüpft werde (S. 114). Eine Maschine komme aber stets ohne Seele/Emotion daher. Braguinski hält fest: »die sprechende Prothese Speak & Spell destabilisiert […] die Grenze zwischen Mensch und Maschine enorm, denn sie besitzt Eigenschaften, die auf beides verweisen« (S. 129). Ebenfalls die Aura des Künstlichen und Unheimlichen verbreiteten so genannte »laughing machines« (S. 130). Der Autor erklärt, dass Unheimlichkeit unter anderem daraus resultiere, dass künstlich erstellte Maschinenstimmen präzise reproduzierbar seien – im Gegensatz zu menschlichen Äußerungen, die stets leicht variieren. Gerade aus heutiger Sicht wird das Unheimliche besonders bedeutend, denn wir wissen nicht, inwieweit Maschinen, die mit künstlicher Intelligenz ausgerüstet sind, kontrollierbar bleiben.
An diese Gedanken schließt das Kapitel »Circuit Bending« an. Als Erstes wird der Begriff erklärt als: »medienkünstlerische Praxis […], einfache und veraltete elektronische Soundhardware so zu modifizieren, dass die produzierten Klänge auf groteske Weise verzerrt werden« (S. 137). In dieser Definition ist scheinbar eine Wertung enthalten. Im ›Circuit Bending‹ werden durch eine Veränderung der Spannung neue Klänge erzeugt. Die ursprüngliche Funktion/ der ursprüngliche Klang des Gerätes wird verändert. Was die Technik ›Circuit Bending‹ von Musikstücken anderer Hardwarekünstler unterscheidet, ist das auf Zufall basierende Prinzip. Hier findet sich der rote Faden des Autors wieder, der sich gekonnt und elegant durch das ganze Buch zieht. Beim ›Circuit Bending‹ werden kein fertiges Instrument und kein fertiges Musikstück produziert, sondern der Sound entsteht quasi während der Beschäftigung mit dem Gerät und der Zweckentfremdung seiner Elektronik. Es ist ein aktiv erzeugter Zufall.
Braguinski überlegt, warum Circuit Bending stattfindet und inwiefern hier wieder Unheimlichkeiten berührt werden. Er zieht die Bachtin’sche Theorie der Karnevalisierung zu Rate (vgl. S. 142), bei der Groteskes durchaus positiv belegt ist. Das von ihm als grotesk bewertete klangliche Ergebnis des ›Circuit Bending‹ wird somit (trotz der Zerstörung der Harmonie) als positiv angesehen. Die Modifizierung des ursprünglichen Klanges käme einer Gesellschaftskritik gleich (S. 144) und weise Parallelen zur Avantgardemusik des frühen 20. Jahrhunderts auf (S. 143). Er hält fest, dass »man dem Bending […] eine gewisse subversive Kraft zusprechen [sollte], da es aus den passiven und durch den Konsum von technischen Medien vollends gesättigten Zuschauern aktive Erzeuger« mache (S. 144).
»Technische Ästhetik«, ästhetisches Rauschen und Pseudozufall
Unter der Überschrift »Technische Ästhetik« widmet der Autor sich (wieder in Bezugnahme auf das Shannon’sche Kommunikationsmodell) den auditiven Phänomenen Signal und Rauschen und stellt fest, dass gerade in der 8-Bit-Ära Sounds von Computerspielen nicht so echt dargestellt werden konnten, wie sie in Wirklichkeit klingen würden (z. B. eine Detonation). »Dementsprechend wurden die spezifischen technischen Klänge der Spielmedien zum größten Teil als ästhetisches Rauschen wahrgenommen« (S. 181). Ästhetisches Rauschen definiert er als dasjenige Gehörte, das von der Vorstellung, wie etwas zu klingen hat, abweicht (vgl. S. 174). Der Klang wird dennoch als das wahrgenommen, was er darstellen soll. Das Unechte, Störende, Unpassende wird überhört. So können Sounds in Konsolen mit (aus heutiger Sicht) noch recht primitiven Soundchips dennoch als das wahrgenommen werden, was sie auditiv unterstützen sollen.
Mit diesem Wissen kann der Leser dem nächsten Unterkapitel, das das Atari VCS Tonsystem näher betrachtet, folgen. Auch hier müssen die Hörer sich die Musikstücke ›zurechthören‹. Musikstücke einzelner Spiele untersucht der Autor beispielsweise, indem er Codes der programmierten Sounds und Musik in Notenschrift transkribiert. Er nähert sich in seiner Untersuchung dem Klang auf musikanalytische und mathematische Weise gleichermaßen. So gelingt es ihm, Bitfolgen und Frequenzen nachzubauen und nachzuvollziehen und die Klangästhetik der alten Geräte dabei zu erhalten. Bei seinen klug konstruierten Klangexperimenten macht Braguinski die »verblüffende Erkenntnis […], dass die Änderung der Abfolge von Nullen und Einsen trotz der Beibehaltung der Gesamtlänge der Sequenz […] und somit auch ihrer Schwingungsperiode […] auf subtile Weise die Wahrnehmung der Tonhöhe verändern kann« (S. 202). Der Ton mit der zufälligen Bitfolge wurde regelmäßig als etwas höher wahrgenommen. Der Autor stellte außerdem fest, dass nicht nur mathematisch in sich geordnete Töne, sondern auch Töne, die aus einer völlig zufälligen Abfolge von Nullen und Einsen bestehen, die spezifische Atari-VCS-Klangästhetik nachbilden konnten. Hierzu erklärt er die Technologie des LFSR (linear feedback shift register) – die im Bereich der digitalen Signalverarbeitung Anwendung findet und mit Pseudozufällen arbeitet. Er schließt aus seinen Betrachtungen und selbst durchgeführten Experimenten, dass für die Atari-VCS-Klangästhetik weniger die mathematische Logik ausschlaggebend sei, sondern vielmehr die Wiederholung von zufälligen Sequenzen in einer entsprechenden Länge. Zusammenfassend hält er fest, dass LFSR eine sehr erfolgreiche Technologie sei, da diese den Pseudozufall in den Bitfolgen »mit Leichtigkeit und mit großer technischer Eleganz« (S. 212) erzeuge. Dieser Maschinenklang der Konsole mit seinem ästhetischen Rauschen und seiner spezifischen Klangästhetik sei von den Rezipienten nicht nur als akzeptabler Klang wahrgenommen worden, sondern vermutlich ebenfalls von einer Faszination für eben diese Klänge begleitet gewesen. (vgl. S. 213)
Im Kapitel »Methodische Positionen« erläutert Braguinski seine wissenschaftliche Basis, auf der er seine Untersuchungen und Überlegungen aufgebaut hat. Als zentralen Zugang nennt er Wolfgang Ernsts Erkenntnis, dass die Geräte, Konsolen und Spielzeuge als »Anarchiv« der Klänge gelten. (vgl. S. 225) In diesem Begriff stecke einerseits das Geordnete eines Archivs sowie andererseits gleichzeitig dessen Verneinung, da es kein geregeltes Archiv für die Geräte und ihren Klang gibt. Deshalb ist die Arbeit des Autors, »das analytische Experimentieren mit den algorithmisch prozessierenden Medien«, seine »erforschende Interaktion mit den Geräten«, seine »Wiederaufführung« der »im symbolischen Code der Software und in der Materialität der Hardware gespeicherten Klänge« eine »Art Archäoakustik der elektronischen Spielmedien« (S. 227). Ordnung und Unordnung, Algorithmus und Zufall stehen bei seinen Untersuchungen scheinbar nebeneinander und ergänzen sich gegenseitig zu einem Ganzen. Des Weiteren fasst er alle Kapitel der vorliegenden Arbeit und ihre grundlegenden Ergebnisse nochmals kurz zusammen.
Fazit
Allen Kapiteln gemeinsam ist, dass die Überlegungen und Untersuchungen des Autors zu den von ihm genutzten und entwickelten Begriffen (u. a. ästhetisches Rauschen, techniknahe Klangästhetik, reduzierter Zufall) ein Instrumentarium darstellen sollen, »das nun auch in anderen Bereichen eingesetzt werden kann« (S. 293). Mit dieser Erkenntnis stellt die Veröffentlichung einen wichtigen und interessanten Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung insbesondere der Medienarchäologie dar. Oder wie Wolfgang Ernst es in seinem Geleitwort formuliert:
Mit ebenso musikologischer wie technischer Kompetenz wird das zum Thema, was aus medienarchäologischer Sicht von zentralem Interesse ist, und zwar: In welchem Verhältnis steht mechanisches, elektrotechnisches und am Ende computerbasiertes Klangspielzeug zur klassischen Harmonielehre? […] Die Stärke der vorliegenden Studie liegt in den präzisen Methoden, die flexibel für die jeweiligen technischen Detailstudien zur Anwendung kommen, und den daraus resultierenden objektorientierten (eher denn soziologischen) Erkenntnisfunken. (S. 9 f.).
Im Anschluss an alle Studien und Quellenverweise erwartet den Leser ein ›Goodie‹, ein Programmcode für die Erzeugung pseudozufälliger Melodien.