Virtual Cities

Rezension+ : Virtual Cities Atlas und die Erforschung von Städten im Computerspiel

16. Februar 2021
Abstract: Dieser Artikel dient einerseits als Rezension von "Virtual Cities: An Atlas & Exploration of Video Game Cities" (Konstantinos Dimopoulos; illustriert von Maria Kallikaki), untersucht aber gleichzeititg auch die spezifischen Anforderungen, die virtuelle Städte an ForscherInnen stellen und macht (auch anhand des rezensierten Buches) Vorschläge für zukünftige Herangehensweisen zur Erforschung von Städten im Computerspiel.

 Konstantinos Dimopoulos / Maria Kallikaki: Virtual Cities: An Atlas & Exploration of Video Game Cities. London: Unbound Publishing 2020. 255 Seiten. ISBN: 978-1682686096. Preis: 25,99€
“A city, you see, is not merely the sum of its walls, roads, buildings, and infrastructure. It is much more than its facades and landmarks. It is even much more than its roads and land use plans.

A city is the humans living in and using it. The animals too. A city is everything that happens within it. Everything that shapes and is shaped by it. A city is a huge, complex, dynamic stage for human life. For activity, and drama.

A city is its people, and how they dress. It is its economy, its rumours, hills, monuments, sounds, sky, traffic, buildings, power structures, the ways people get access to drinking water, religion, and a myriad other things, but above all, a city is its functions." 1

Komplexe Systeme und Knotenpunkte der Imagination: Die Bedeutung von Städten

Im Jahr 2020 leben geschätzt 56% der Weltbevölkerung in Städten,2 was impliziert, dass eine (in diesem Fall von den vereinten Nationen definierte)3 ‚urbane‘ Lebenserfahrung nun für die Mehrheit der globalen Bevölkerung die Norm darstellt. Stadt ist selbstverständlich nicht gleich Stadt: kleinere und größere Städte unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht in ihrer infrastrukturellen, ökonomischen, politischen und sozialen Strukturierung – und daher auch in den Lebenserfahrungen, die man in ihnen machen kann.4 Dennoch überwiegen die Gemeinsamkeiten gegenüber der (hier ex negativo definierten) Raumkategorie, in der die restlichen 44% der Menschheit ihr Lebensumfeld finden: dem ‚Land‘ bzw. ländlichen Regionen. Egal, wie ‚klein‘ eine Ansiedlung sein mag, als ‚Stadt‘ erfüllt sie unabhängig von ihrer Größe (so z.B. in Dänemark historisch schon ab einer Bevölkerung von 200)5 wichtige politische, ökonomische und kulturelle Funktionen für ihre weniger dicht besiedelte Umgebung. Städte dienen als Sammelbecken für politische, religiöse und kulturelle EntscheidungsträgerInnen und Institutionen, spezialisierte Arbeitskräfte und Handelsmöglichkeiten, sie ziehen Rohstoffe an und geben einen Teil von diesen in Form von verarbeiteten Waren sowie diversen Formen von Kapital ab – nicht umsonst werden sie als komplexe, offene, von Energie- und Ressourcenkreisläufen geprägte Systeme auch mitunter mit Organismen verglichen.6

Doch Städte beeinflussen das Leben von Menschen nicht nur durch ihre materiellen Eigenschaften und Strukturen – Infrastruktur, Architektur, Produktionsstätten, Institutionen –, sondern auch auf symbolisch-diskursiver Ebene: Städte bündeln Aufmerksamkeit, katalysieren soziale und kulturelle Kommunikation und werden dadurch nicht nur zu bevorzugten Produktionsorten von diskursiver Aktivität, sondern auch zu einem zentralen Zielpunkt derselben.7 Mediale Darstellungen von Städten – ob im Uruk des Gilgamesch-Epos, den heilsgeschichtlich gedeuteten Städten der Bibel, den Provinzstädten der europäischen Literatur Ende des 19. Jahrhunderts,8 den Metropolen moderner Dys- und Utopien oder den zahllosen fiktiven Städten von Fantasy und Science-Fiction, – sind auch immer (zuspitzende) Darstellungen und Verhandlungsorte von Gesellschaft.

Konsequenzen: Die Analyse von Städten im Computerspiel

Umfassende Analysen medialer Stadt-Darstellungen sind auch deshalb ein anspruchsvolles Vorhaben, weil sie vonseiten der ForscherIn nicht nur ein ausgeprägtes Wissen über das Werk, eventuell als Vorbild der Darstellung dienende Städte und deren System-Dynamik sowie die medialen Potenziale des genutzten Mediums voraussetzen, sondern auch extensives Vorwissen zur Kulturgeschichte der Stadt allgemein, Architekturgeschichte und -semiotik sowie Genrewissen über Darstellungskonventionen relevanter Genres und Gattungen verlangen.

Im Fall des Computerspiels ist der Anforderungskatalog noch größer, denn sein mediales Vermittlungsinventar schließt auch prozedural-simulative Werkzeuge ein, die vielen anderen narrativen Medien nicht zur Verfügung stehen: Seine digitale Basis macht es ihm möglich, Systeme nicht nur abzubilden, sondern durch Algorithmen als interaktive Modelle umzusetzen, welche dynamisch auf die Eingaben von SpielerInnen reagieren. Nicht umsonst erklärte Gonzalo Frasca das einzigartige simulative Potenzial des Computerspiels 2001 anhand des Systems ‚Stadt‘ und des Stadtmanagement-Spiels Sim City:

„Simulation is the act of modeling a system A by a less complex system B, which retains some of A's original behavior […] The key concept here is behavioral rules. Sim City is a dynamic system that behaves like a city and also has many characteristics of a city, while the painting only provides the characteristics."9

Im Computerspiel ist es also nicht nur möglich, eine Stadt über textuelle, audiovisuelle u.a. Zeichensysteme zu beobachten, sondern auch sie aus verschiedensten Perspektivierungen in der direkten Konfrontation mit ihren Einzelelementen kennenzulernen. Das bedeutet, dass die schon angesprochenen Systemeigenschaften realer Städte – ihre Energie- und Rohstoffversorgung, ihr Verkehrsfluss, ihre erhaltende Infrastruktur, ihre Wachstums- und Abbruchszonen und interagierenden Subzentren, – tatsächlich für das spielende Individuum (weit konkreter als in der Realität) erfahrbar werden können und deshalb nun ebenfalls als Untersuchungsmaßstab hinzugezogen werden müssen.

Computerspielstädte sind also potenziell gleichzeitig erzählte und erfahrene Orte, Spiel- und Herausforderungsräume, mimetische Simulationen und (durch deren ‚prozedurale Rhetorik')10 dynamische künstlerische Aussagen. Im Idealfall müsste eine Computerspiel-Stadtanalyse also durch eine Person vorgenommen werden, die gleichzeitig medien- und kulturwissenschaftliches Wissen über Stadt-Narrative und mediale Vermittlungswerkzeuge (allgemein und speziell für das Computerspiel) sowie Kenntnisse über Stadtplanung und Spieldesign in sich vereinen müsste – ein anspruchsvoller und stark interdisziplinärer Anforderungskatalog.

Leider existieren aktuell noch keine Monographien, die dieses Wissen in einem einzelnen Werk für die Forschung aufbereiten – ein „Handbuch Stadt und Computerspiel“ bleibt Forschungsdesiderat. Dennoch haben engagierte ForscherInnen bereits wertvolle Ansätze geliefert, die einige der angesprochenen Bereiche und Disziplinen in Untersuchungen zu Computerspiel-Städten zusammenbringen und als Basis für weitere Analysen dienen können. So stehen allgemeine Untersuchungen zum Thema Stadt und Computerspiel,11 Einzeluntersuchungen von Städten in Massively Multiplayer Online RPGs12 oder auch in Einzelspieler-Fantasy-RPGs,13 zu historischen Stadtkonstellationen in Computerspielen14 oder zu Spiel-Städten als Orten leiblicher Wahrnehmung und Bewegung15 bereit. Doch auch Artikel, die sich im Rahmen einer einzelnen Spielanalyse nur in Teilaspekten mit der jeweiligen Stadt des untersuchten Spiels beschäftigen, können wertvolle Einsichten und Beiträge zum Thema liefern.16 Dies kommt jedoch seltener vor, als die große Anzahl von entsprechenden Einzeluntersuchungen vermuten ließe – oft bleibt die Behandlung der Spielstädte in Einzeluntersuchungen marginal oder auf einen einzelnen Aspekt beschränkt, der ein anderes, die Analyse anleitendes Thema unterstützt. Dies ist nachvollziehbar, doch eine solche kurze, oft auf eine der beiden Vermittlungsachsen ‚Spiel‘ und ‚Erzählung‘ fokussierte Abhandlung von virtuellen Städten riskiert oft auch, dass wertvolle Informationen, die die eigene These stützen oder erweitern könnten, nicht zutage gefördert werden. Für zukünftige Analysen wäre es demnach wünschenswert, wenn die untersuchten virtuellen Städte tatsächlich immer als ‚virtuelle‘ (= so funktionierend wie) Städte behandelt werden würden:

  • Auf der systemischen Ebene als potenziell dynamische, offene Systeme aus zahlreichen Einzelelementen
  • Auf der strukturellen Ebene als spezifische Raumanordnungen mit hoher Dichte an Aktanten, Abtrennungen nach Innen und Außen, Zentren, Subzentren, Pufferzonen und Außenbereichen
  • Auf der spielmechanischen Ebene als potenzielle Knotenpunkte sozialer und kommerzieller Aktivität (für Spielende bzw. ihre Avatare), in denen potenziell besondere ‚Stadt’-Rechte (wie Waffenverbot etc.) gelten
  • Auf der narrativ-fiktionalen Ebene als soziale, politische und kulturelle Zentren des Umlandes oder der Nation, in denen Diskurse um Macht, soziale Unterschiede sowie soziale Identifikation und Exklusion offen zutage treten.

Doch warum nun all diese Überlegungen im Zusammenhang mit der Rezension eines Buches, das weder eine wissenschaftliche Monografie noch ein akademischer Sammelband ist? Weil ich überzeugt bin, dass Virtual Cities: An Atlas & Exploration of Video Game Cities genau das praktiziert und offenlegt, was in erweiterter Weise von zukünftigen Forschungsarbeiten benötigt wird.

Rezension: Virtuelle Städte

Ausstattung und Entstehung

Virtual Cities: An Atlas & Exploration of Video Game Cities offenbart sich auf den ersten Blick als hochwertig produzierter Liebhaberband: 1,5 kg schwer, ein buntes Hardcover, 255 durchgängig farbig bedruckte, stabile Seiten mit zahlreichen Illustrationen und Karten aus der Hand der Illustratorin Maria Kallikaki – hier wurde durchaus Mühe auf die Produktion des Buches verwandt. Doch es ist nicht selbstverständlich, dass ein Verlag bei einem Buch mit diesem Thema solchen Aufwand betreibt, denn auch wenn immer mehr Bildbände zum visuellen Design von Computerspielen und ihren Welten entstehen, sind diese meistens auf ein einzelnes höchst erfolgreiches oder anders ‚kanonisiertes‘ Spiel konzentriert, das schon allein durch seine Bekanntheit Fan-Käufe anziehen kann. Da Virtual Cities jedoch 45 Städte aus teilweise Jahrzehnte alten oder höchst obskuren Spielen enthält, lohnt sich ein Blick auf den Verlag: Im Anhang des Buches wird Unbound als „the world’s first crowdfunding publisher, established in 2011“ (247) beschrieben und erklärt, dass Virtual Cities mithilfe von ca. 2000 Crowd Funding-UnterstützerInnen realisiert wurde.17 Die im Vorhinein getätigte Unterstützung von KäuferInnen gab also genug Budgetsicherheit, um die Produktion des gut ausgestatteten Buches zu ermöglichen.

Die stilsicher gestaltete Karte von Shadowrun: Hong Kong (2015)

Die stilsicher gestaltete Karte von Shadowrun: Hong Kong (2015)

Autor und Zielsetzung

Die Biografie von Konstantinos Dimopoulos zeigt, dass es tatsächlich Personen geben kann, die den anspruchsvollen Anforderungskatalog aus dem Vorderteil des Artikels erfüllen: Als promovierter Stadtplaner und Geograph mit 10 Jahren Forschungs- und Lehrerfahrung sattelte er im Zuge der Finanzkrise 2008 (und ihrer Konsequenzen für die griechische Wirtschaft 2009-2011) um und bringt seitdem seine Expertise in der Entwicklung und Gestaltung von Siedlungen und Städten in Tabletop- und Videospielen ein. Mit den Spielen Ex Novo und Ex Umbra hat er auch selbst zwei Spiele gestaltet, in denen SpielerInnen kollaborativ eine Stadt bzw. ein monsterverseuchtes Untergrundgewölbe mit einer eigenen Geschichte, strukturellen Eigenheiten und Bevölkerungsgruppen schaffen. Hier kommen also wissenschaftlicher und unterhaltender Anspruch, Wissen über Spiele und Spieldesign, multimodale Vermittlungspotenziale moderner Medien und Stadtplanung zusammen – und eine Leidenschaft, virtuelle Städte und ihre Potenziale LeserInnen näherzubringen. Dimopoulos beschreibt das Ziel des Buches deshalb folgendermaßen:

„I want to awaken curiosity and longing for unknown or vaguely remembered digital cities; to create a yearning for savouring the delights that virtual urbanism has to offer; and to lure explorers into artfully constructed, elegantly abstracted and wistfully reconstructed civic realities of a young and growing artistic medium, one that truly shines when it comes to building immersive settings.” (6)

Struktur und Stadt-/Spielauswahl

Die Vielfalt virtueller Städte soll in einer Auswahl von 45 Spielen aus verschiedenen Epochen (von 1963 bis 2018), Genres und Darstellungstypen (Text, 2D, 2,5D, 3D) zumindest angerissen werden. Dabei machen es sich Dimopoulos und Kallikaki tatsächlich nicht einfach, denn die leicht erkund- und kartografierbaren Städte zeitgenössischer Open World-Spiele (wie z.B. Skyrim, Saints Row: The Third oder The Witcher III: Wild Hunt) stehen quantitativ und qualitativ gleichberechtigt neben Städten, die nur indirekt (durch Text) oder ausschnitthaft (wie in Bildschirmabschnitt-basierten Adventures oder linearen Jump & Runs, First- und Third Person Shootern, Rennspielen u.v.m.) erkundet werden können.

Die drei Leitkategorien, nach denen die Städte im Buch angeordnet werden, sind ebenfalls nachvollziehbar. Die erste sammelt unter dem Namen „Fantasy Cities“ Städte, die in semi- oder vollständig autonomen Welten angesiedelt sind. Darunter zählt z.B. neben Rubacava aus Grim Fandango (1998), Orgrimmar aus World of Warcraft (2004+), Anor Londo (Dark Souls, 2011) und Dunwall (Dishonored, 2011) auch eine Ausgabe Londons, die jedoch in Fallen London (2009+) durch ihre Verschiebung in das düster-magische Erdinnere so stark verändert wurde, dass sie dennoch in die Kategorie passt.

Die zweite Kategorie nimmt unter dem Namen „Familiar Cities“ Städte unter die Lupe, die vielleicht nicht immer auf der realen Landkarte zu finden sind, sich jedoch als tatsächlich in der Primärrealität existierende Städte präsentieren. Dazu zählen u.a. das New Orleans von Gabriel Knight: Sins of the Fathers (1993), Silent Hill (1999), Wan Chai (aus Shenmue II, 2001), Steelport (Saints Row: The Third, 2011) oder das Städtchen Seaside Valley aus Bus Simulator 2018. Wer nach historischen Städten sucht, wird jedoch kaum fündig: Abgesehen vom viktorianischen London aus Assassin’s Creed Syndicate (2015) und der in einer alternativen Version der späten 1800er lokalisierten Stadt New Bretagne (Lamplight City, 2018) sind alle besprochenen Städte und Metropolen Städte der Gegenwart. Dies ist etwas bedauerlich, da Dimopoulos‘ Perspektive sicherlich interessante Einblicke in den Transformationsprozess geben könnte, der die Gestaltung historischer bzw. historisierender Städte in Computerspielen anleitet.

In der dritten Kategorie „Future Cities“ finden sich Städte und Metropolen futuristischer Settings: Neben frühen Vertretern wie Rockvil (A Mind Forever Voyaging, 1985) und Terrapolis (B.A.T., 1989) stehen sich hier kanonisierte Metropolen wie Midgard (Final Fantasy VII, 1997), City 17 (Half Life 2, 2004), Citadel Station (Mass Effect-Trilogie, 2007-2012) oder New Vegas (Fallout: New Vegas, 2010), aber darüber hinaus auch sonst kaum erwähnte Städte wie das komplex simulierte Mega Primus (X-Com: Apocalypse, 1997) oder die als Levelhintergrund sowie in Videosequenzen genutzte Metropole Tarsonis City (Star Craft-Serie, 1998-2017).

Es gelingt der Auswahl auf diese Weise, bekannte ‚Klassiker‘ digitaler Stadtgestaltung wie auch in Vergessenheit geratene, aber für ihre Zeit höchst innovative Städte mit prototypischen Vertretern von Genre-Städten zu mischen und so einen überzeugenden Einblick in das zu bieten, was digitale Städte anbieten können.

Rubacava aus Grim Fandango (1998)

Rubacava aus Grim Fandango (1998)

Das individuelle Stadtportrait

Auf der Ebene des individuellen Stadtportraits bestätigt sich der Eindruck gewissenhafter und gleichzeitig unterhaltsamer Aufarbeitung, die das multimodale Vermittlungspotenzial des Computerspiels in keinem Moment aus dem Auge lässt.

Die durchschnittlich 4-6 Seiten jedes Eintrags sind eine (wortwörtlich) bunte Mischung aus Medien- und Gattungsformen. Im Zentrum jedes Eintrags, jedoch immer von Illustrationen und einer Kurzinfobox flankiert, steht eine Textnarration aus intradiegetischer Perspektive: Eine Erzählinstanz, die eine BewohnerIn der jeweiligen Stadt sein kann – aber auch eine außerhalb der Stadt lebende BeobachterIn, falls die Stadt wie im Fall von Raccoon City, Pripyat (S.T.A.L.K.E.R.: Call of Pripyat, 2009) oder Silent Hill keine lebende Bevölkerung mehr besitzt – , berichtet in unterschiedlichen Stilen über die Stadt: mal im Stil eines Reiseprospekts, mal in dem einer Stadtchronik, einer Propagandabroschüre oder eines journalistischen Investigativ-Artikels. Doch in allen Stilvarianten steht die Stadt als historisch gewachsenes, von diversen sozialen Schichten bewohntes und von internen Machtinteressen wie auch externen Faktoren immer wieder transformiertes System – also als lebende Stadt – im Vordergrund. Hier werden simulativ und narrativ vermittelte Fakten, die SpielerInnen im Spielverlauf durch Quests, Videosequenzen, Dialoge und das telepräsente Durchqueren der Stadt mittels Avatar sammeln, mit städteplanerischen Einsichten über weitere Eigenschaften vergleichbarer realer Städte verknüpft und das Bild einer lebenden, atmenden Stadt herausgearbeitet, die tatsächlich innerhalb ihrer Welt existieren könnte.

Farbillustrationen von Maria Kallikaki begleiten jeden Artikel und bieten aus verschiedenen Perspektiven Einblicke in die jeweilige Stadt und ihre Atmosphäre. Dabei sind die Illustrationen einheitlich in einem bewusst ‚analogen‘, an handwerkliche Buntstift- und Aquarellmalereien orientierten Stil gehalten, der die Stadtdarstellung aus dem Kontext der ursprünglichen Spielgrafik löst und sie damit unabhängig von Grafikqualität und Genre-Erwartungen als Stadt- und nicht als Spieldarstellung markiert. Der Blick wird so frei auf die Gassen, Alleen, Häuserschluchten und Panoramen der Städte – und auch auf das Zusammenspiel von Licht und Architektur, das diesen Städten innerhalb der Spiel-Erfahrung wirkungsvolle affektive Wirkungspotenziale verleiht.

City 17 aus Half Life 2 (2005)

City 17 aus Half Life 2 (2005)

Whiterun aus Skyrim (2011)

Whiterun aus Skyrim (2011)

Eine 1-2 Seiten umfassende Stadtkarte rundet die visuelle Erkundung jeder Stadt ab, wobei auch hier auf den Einsatz von ingame-Screenshots verzichtet wird: Die Karten sind von spielmechanischen Markierungen, Verdeckungen (wie dem ‚fog of war‘, der sonst unerforschte Bereiche verhüllt) oder ähnlichem bereinigt und zeigen ihre Stadt schematisch mit ihren inneren Abgrenzungen (wie Straßen, Flüssen, Parks und Vierteln), zentralen Punkten und Monumenten sowie ihren äußeren Abgrenzungen gegenüber ihrer Umgebung. Viele der Karten sind auf ihre eigene Art faszinierend, weil sie demonstrieren, wie sehr oder wie wenig eine bestimmte virtuelle Stadt als Stadt funktionieren könnte: Manche Städte erscheinen infrastrukturell funktional und auch in ihrer Aufteilung von Vierteln, öffentlichen Flächen etc. logisch aufgebaut, während bei anderen klar wird, dass die Stadt nach dem Prinzip traum-artiger Verdichtung zum Erreichen bestimmter Spiel- und Wahrnehmungserfahrungen konstruiert wurde – was manchmal (wie im Fall von Silent Hill oder Yharnam) intradiegetisch tatsächlich der Fall sein mag.

Die Karte der Ruinenstadt Antescher aus Ant Attack (1983)

Die Karte der Ruinenstadt Antescher aus Ant Attack (1983)

Für ForscherInnen wie auch SpieldesignerInnen besonders interessant ist der in jedem Artikel platzierte „Design Insights“-Block, in welchem Dimopoulos selbst als Forscher und Spieldesigner zu Wort kommt und bestimmte Wirkungspotenziale der untersuchten Stadt erklärt. Hier verstecken sich nicht nur faszinierende Einsichten zu virtueller wie realer Stadtplanung und Architektursemiotik, sondern auch zu den unterschiedlichen Funktionen, die Städte in Spielen übernehmen können und den Designentscheidungen, die für besondere Effekte und Spielerfahrungen innerhalb dieser Städte sorgen und die ‚prozedurale Rhetorik‘ der Stadt bestimmen. Im Informationsblock kommen auch immer wieder EntwicklerInnen zu Wort, die von Dimopoulos kontaktiert wurden und die Ratio hinter bestimmten Stadtstrukturen erklären. So zeigt z.B. ein Interview mit Alexander Grenus, Designer beim Entwicklungsstudio von Bus Simulator 2018 an, wie bestimmte spiel-externe Überlegungen im Stadtdesign (zur Erreichung einer niedrigen Altersfreigabe) dennoch merkliche Effekte auf die Erfahrungen ausüben, die innerhalb der Spielstadt Seaside Valley gemacht werden können:

„Several other constraints were taken into account: the city had to look distinctly Central European and sport a river, and as we aimed for a USK 0 rating we couldn’t have any violence, drugs, rude graffiti or liquor stores. We even had to remove schools, hospitals and also police and fire stations, as implementing all the relevant vehicles and special human models would have been prohibitively time-consuming. These decisions led to a utopia-like city free of crime and injury, where even graffiti is always artful.” (173)

Fazit

Virtual Cities: An Atlas & Exploration of Video Game Cities ist ein mit Mühe und Achtsamkeit hergestellter Liebhaberband, der auf seinen 255 Seiten nicht nur verstehen lässt, wie Computerspielstädte SpielerInnen auf mannigfaltige Weise während des Spielens fesseln, sondern auch, warum sie auch lange nach dem Ende des Spiels als Orte ‚echter virtueller‘ Lebenserfahrung erinnert werden. Gleichzeitig hilft das Buch jedoch auch ForscherInnen, die an einer Erweiterung des bislang nur unzureichenden Forschungsstandes zum Thema interessiert sind, weil es in jedem Moment die komplexe multimodale Vermittlungskonfiguration zwischen sensorischer Interaktionserfahrung, digitaler Simulation, ludischer Spielstruktur, audiovisueller Semiotik und im engeren Sinn narrativer Vermittlung offenlegt, die diese Städte innerhalb des Spiels – und noch wichtiger: innerhalb der Vorstellung der individuellen SpielerIn – formt.

Der Rezensent hofft, dass das Buch und die im vorderen Teil vorgestellten Grundüberlegungen und Forschungsarbeiten dabei helfen können, weitere Forschungsarbeiten zum Thema zu inspirieren und so die virtuellen Städte des Computerspiels in ihrer Bedeutung für SpielerInnen, die selbst in einer immer stärker urbanisierten Welt leben, ans Tageslicht treten können.

 

Medienverzeichnis

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Bilder: Genutzte Bilder aus Dimopoulos, Konstantinos; Kallikaki, Maria: Virtual Cities: An Atlas & Exploration of Video Game Cities. London: Unbound Publishing 2020.

 

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  2. Buchholz: How has the world's urban population changed from 1950 to today? 2020. < https://www.weforum.org/agenda/2020/11/global-continent-urban-population-urbanisation-percent/ > [15.12.2020].[]
  3. Die Kategorisierung von Orten in Dörfer, Kleinstädte und Großstädte wurde zu unterschiedlichen Zeiten und in interschiedlichen Nationen jeweils anders vorgenommen. Die neusten Vorschlägen der Vereinten Nationen versuchen, eine einheitliche Definitionsbasis zu schaffen, indem sie Raumeinheiten ab 5.000 EinwohnerInnen und einer Bevölkerungsdichte von 300/km2 (‚town‘) bzw. 50.000 EinwohnerInnen auf 1500/km2 (‚city‘) als städtische Räume definieren. Vgl. UN Statistical Commission: The Degree of Urbanisation. 2020. < https://unstats.un.org/unsd/statcom/51st-session/documents/BG-Item3j-Recommendation-E.pdf > [04.01.2021]: 6.[]
  4. Vgl. Henri Lefebvres Arbeiten zur phänomenologischen Raum- und Lebenserfahrung urbaner Räume in Lefebvre: The Production of Space. 1991.[]
  5. Vgl. Dijkstra et al: How do we define cities. 2020. < https://blogs.worldbank.org/sustainablecities/how-do-we-define-cities-towns-and-rural-areas > [04.01.2021].[]
  6. Für eine gut lesbare Einführung in die historisch gewachsene Komplexität urbaner Infrastruktur vgl. Mars; Kohlstedt: The 99% Invisible City. 2020.[]
  7. Vgl. Donald: Imagining The Modern City. 1999.[]
  8. Vgl. u.a. Nell; Weiland: Die erzählte Kleinstadt. 2020.[]
  9. Frasca: Simulation 101. 2001. < http://www.ludology.org/articles/sim1/simulation101.html > [16.01.2019]: 3.[]
  10. Vgl. Bogost: The Rhetoric of Video Games. 2008, S. 117-140.[]
  11. Nitsche: Video Game Spaces. 2008. Sowie: Schweizer: Understanding Videogame Cities. 2013. < http://www.digra.org/wp-content/uploads/digital-library/paper_2871.pdf > [17.12.2020].[]
  12. Hayot; Wesp: Towards a Critical Aesthetic of Virtual-World Geographies. 2009. < http://gamestudies.org/0901/articles/hayot_wesp_space > [07.01.2021]. Sowie: Huber: Fictive Affinities in Final Fantasy XI. 2005. < http://www.digra.org/wp-content/uploads/digital-library/06278.41524.pdf > [08.01.2021]. Sowie: Oliver: The Similar Eye. 2002, S. 171-184.[]
  13. Bonello Rutter Giappone; Vella: The City in Singleplayer Fantasy Role Playing Games. 2018. < http://www.digra.org/wp-content/uploads/digital-library/DIGRA_2018_paper_149.pdf > [05.01.2021].[]
  14. Sánchez García: Urban archetypes. 2020 < https://digibug.ugr.es/bitstream/handle/10481/63412/181-1782-1-PB%20%281%29.pdf > [07.01.2021].[]
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  16. Vgl. u.a. Schallegger: Dishonored? 2014.[]
  17. Vgl. Unbound: Projects: Virtual Cities. 2020. < https://unbound.com/books/virtual-cities/ > [12.01.2021].[]

Schlagworte:

So zitieren Sie diesen Artikel:

Baumgartner, Robert: "Rezension+ : Virtual Cities Atlas und die Erforschung von Städten im Computerspiel". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 16.02.2021, https://paidia.de/rezension-virtual-cities-atlas-und-die-erforschung-von-staedten-im-computerspiel/. [10.10.2024 - 00:50]

Autor*innen:

Robert Baumgartner

Promotion zum Thema "Sinn(es)-Welten. Die Wirkungsästhetik von Computerspielwelten." (Veröffentlichung im Sommer 2021). Seine besonderen Forschungsinteressen umschließen Fantastik (in Theorie und Texten) und Computerspielforschung. Er ist Redakteur von Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung und Mitherausgeber des Sammelbandes I’ll remember this – Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. (Hülsbusch 2016).