What's up with all those Seniors? Der Typus der Immature Mentors und seine Funktion in Coming of Age-Werken am Bei­spiel von Gone Home und Life Is Strange

29. November 2016

 Die Odyssee, Star Wars und das Tutorial

Wenn von Mentoren gesprochen wird, denkt man nur selten an die Her­kunft des Wortes selbst. Mentor, die Figur aus der griechischen Mytho­logie, war nicht nur ein guter Freund Odysseus, sondern auch väterlicher Freund und Erzieher für dessen Sohn Telemach. 1 Hierzu lassen sich bereits zwei Vermutungen formulieren: Zum einen, dass eine Mentorin oder ein Mentor eine erfahrene Beraterin oder ein erfahrener Berater sein sollte, zum anderen, dass die Person, die in konversem Verhältnis zu dieser oder diesem steht, den Reifeprozess offenbar nicht abgeschlossen hat. Vor allem ersteres deckt sich gut mit den bestehenden Definitionen, wie etwa der des digitalen Wörterbuches der deutschen Sprache: „Berater, Ratgeber; väterlicher Freund“ 2.
Über die Jahre hinweg, bis in die moderne Popkultur, lassen sich immer wieder Mentorenfiguren finden, die nach dieser Struktur entworfen wurden. So etwa sichtbar an Yoda in Das Imperium schlägt zurück, der in Luke Sky­walkers Ausbildung zum Jedi-Ritter so gut wie jede der bisher genannten Charakterisierungen eines Mentors zeigt.
Auch im Bereich der Videospiele begegnet man häufig dem Typus des Mentors, und das sowohl im Sinne von narrativen, aber auch in ludischen Konzepten. Fallout 3 kombiniert beispielsweise beides, der Vater des Spieler­charakters führt die Rezipientin beziehungsweise den Rezipienten hier, von der Geburt im unterirdischen Vault an, durch kurze Episoden der Kindheits- und Jugendphase, wobei nebenbei die grundlegenden Spielmechaniken erklärt werden.

Wir lernen Laufen. Fallout 3 (Sellbsterstellter Screenshot)

Nun ist die Definition eines Mentors nicht so statisch wie sie im ersten Moment scheinen mag, sondern auf vielen Ebenen dynamisch und wandel­bar. So ist etwa die Reife der Mentorin beziehungsweise des Mentors, wie wir sehen werden, mittlerweile kein notwendiges, eventuell sogar ein obsoletes Kriterium. Bevor wir jedoch in der Untersuchung diesen Schritt gehen können, ist ein Blick auf die Struktur dessen, was ich hier die traditionelle Mentorenfigur nennen will, unumgänglich. Hier drängt sich Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre schon fast auf, denn „wer von den Lehrjahren spricht, denkt fast automatisch den Begriff Bildungsroman hinzu.“ 3

Ein bisschen Goethe...

Die erste Figur, die hier über einen längeren Zeitraum auf den Protagonisten wirkt, ist dessen Freund Werner. Dieser mag bei der Lektüre des Wilhelm Meister nicht als typischer Mentor auffallen, kann aber ohne Probleme als solcher gesehen werden. Dass Werner über eine ausgeprägtere Reife verfügt als Wilhelm, zeigt sich spätestens als die Väter der beiden die Abreise des zweiten besprechen: „man kann einem jungen Menschen keine größere Wohltat erweisen, als wenn man ihn zeitig in die Bestimmung seines Lebens einweiht.“ 4 Die beiden Söhne sollen sich also, wobei Werner dies schon hinter sich gebracht hat, „in der Welt umsehen […] und zugleich unsere Geschäfte an fremden Orten betreiben“ 5. Die Handelsreise kann so wohl auch als „Grand Tour“ verstanden werden, eine Reise, auf die Söhne der adeligen Bevölkerung geschickt wurden, um Lebenserfahrung zu sammeln. Bis in das 19. Jahrhundert wurde dies auch noch in reichen Kaufmanns­familien durchgeführt. So soll Wilhelm durch diese den Übergang zu einer ausgereiften Persönlichkeit vollziehen, und zu gegebener Zeit auch die Geschäfte des Vaters übernehmen können.
In zahlreichen Gesprächen versucht Werner, Wilhelm von dessen Wunsch, der Schauspielerei nachzugehen, abzubringen und auf den gleichen Weg zu führen. So beispielsweise schon bei seinem ersten Auftreten, als er Wilhelm versichert: „wenn du nur einmal einen rechten Geschmack an unseren Geschäften finden könntest, so würdest du dich überzeugen, daß manche Fähigkeit des Geistes auch dabei ihr freies Spiel haben können.“ 6
Aus diesem Zitat können wir zudem auf ein weiteres Merkmal der Be­zie­hung zwischen den beiden schlussfolgern. So drängt Werner Wilhelm nicht mit aller Kraft in die für diesen vorgesehene Rolle, sondern versucht ihn tatsächlich davon zu überzeugen, dass diese die für ihn beste Wahl darstellt, und wirkt somit als Berater. In Folge dessen lässt sich ebenfalls auf den respektvollen Umgang der beiden schließen, der auch auf Seiten Wilhelms vorherrscht: „Wilhelm verdroß dieser Ausfall ein wenig, doch verbarg er seine Empfindlichkeit; denn er erinnerte sich, daß Werner auch seine Apostrophen mit Gelassenheit anzuhören pflegte.“ 7
Die bereits festgestellte Beraterfunktion Werners impliziert jedoch nicht, dass Wilhelm ihn auch als solchen akzeptiert. So widmet er sich gegen Anfang des zweiten Buches aufgrund der Umstände „mit großem Eifer den Handelsgeschäften“ 8, später wird jedoch deutlich, dass daraus nur „eine Bestärkung seiner alten Lebensideale“ 9 und somit eine erneute Zuwendung zur Schauspielerei resultiert. Trotzdem, oder auch gerade deshalb, kann gesagt werden, dass Werners Aussagen und Handeln einen großen Einfluss auf Wilhelm und den weiteren Verlauf dessen Lehrjahre ausüben. Seine Mentorenfunktion steht somit außer Frage.
Im Laufe der Handlung trifft Wilhelm nun auf Jarno, Offizier und Mitglied der Turmgesellschaft, einem Geheimbund, in den er später eingeführt werden wird. Dass auch dieser einen großen Einfluss auf Wilhelm ausübt, wird schon an mehreren Stellen des dritten Buches deutlich. So etwa, als er seine Stückschreiberei als „[Spiel] mit hohlen Nüssen um hohle Nüsse“ 10 kritisiert, was Wilhelm „mehrere Tage [...] im Sinne [lag]“ 11, und ist zudem derjenige, der ihn auf die Werke Shakespeares aufmerksam macht. An späterer Stelle wird deutlich wie diese auf Wilhelm wirken: „Diese wenigen Blicke, die ich in Shakespeares Welt getan, reizen mich mehr als irgend etwas andres, in der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwärts zu tun“ 12.
Auch sonst lassen sich einige Textstellen finden, in denen Jarno versucht, Wilhelm aktiv zu beeinflussen. So rät er ihm: „Lassen Sie den Vorsatz nicht fahren, in ein tätiges Leben überzugehen, und eilen Sie, die guten Jahre, die Ihnen gegönnt sind, wacker zu nutzen.“ 13 Dieser Moment ist zusätzlich aus anderer Sichtweise interessant, denn Jarno spricht diese Worte während er „dem bewegten Jüngling die Hand auf die Schulter“ 14 legt. Was auch als einfache freundschaftliche Geste interpretiert werden kann, erfährt durch die Verwendung des Wortes „Jüngling“ eine Verlagerung in eine andere Ebene, in der Jarno als väterlicher Freund agiert.
All diese Erkenntnisse scheinen im ersten Moment auf ein sehr positives Verhältnis hinzudeuten, was sich bei einer genaueren Betrachtung jedoch als falsch herausstellt. Wilhelm genießt zwar die Gespräche mit Jarno, allerdings nur, da „der ihm, wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab, Ideen, deren er bedurfte.“ 15 Auch erkennt er in ihm „das Zeichen eines höchst verdorbenen Herzens“ 16.
Wir haben nun deutlich gesehen, dass eine Figur nicht zwingend alle Eigenschaften eines Mentors erfüllen muss, um als solcher gesehen zu werden. So verfehlt Werner sein Ziel, Wilhelm „auf den rechten Weg zu bringen“ 17, auch wenn teilweise Fortschritte erkennbar sind, Jarno wiederum kann kaum als Freund Wilhelms bezeichnet werden, da dieser ihn sogar für boshaft hält. 18
Neben einigen anderen Gemeinsamkeiten fällt auf, dass alle hier be­han­del­ten, traditionellen Mentorenfiguren ihren Reifeprozess bereits vollständig hinter sich gelassen haben, von ihrem Standpunkt heraus also auf eine große Erfahrung zurückgreifen können. Was aber passiert, wenn diese Voraus­setzung nicht mehr erfüllt ist?
Im Folgenden werde ich für diese Figuren den Begriff der Immature Mentors verwenden. Dieser bildet sich aus der Verneinung des englischen Wortes mature: „verständig, vernünftig, reif, […] ausgewachsen“ 19 und dem Wort mentor: „Mentor(in)“ 20, und referiert auf eine im psychischen Sinne noch nicht ganz erwachsene Mentorenfigur. Der Begriff wird hier verwendet, da er sich einerseits besser zur Charakterisierung der untersuchten Figuren eignet und zum anderen den Vorteil der Genderneutralität bietet.

Gone Home

Im 2013 erschienenen Spiel Gone Home des Entwicklers Fullbright Com­pany schlüpfen wir in die Rolle von Kaitlin Greenbriar, die nach einem Auslands­jahr in Europa nach Hause zurückkehrt und hierbei ihr Elternhaus verlassen vorfindet. Auf der Suche nach dem Verbleib der restlichen Familie kommen nun immer mehr Informationen über das Leben und die Probleme der jüngeren Schwester des Spielercharakters, Samantha Greenbriar, und deren Beziehung zu einem Mädchen namens Lonnie DeSoto zum Vorschein.
Durch diese Erzählstruktur bleiben die einzigen Informationen, die die Spielerin beziehungsweise der Spieler über Lonnie in Erfahrung bringt, die, die sich im Haus der Greenbriars befinden. Trotz der Lücken, die hierbei zwangsläufig entstehen, bleiben noch klare Anhaltspunkte, um ihre Immaturity festzustellen. So schreibt Sam in einem ihrer Tage­buch­einträge über sie:

I don't get Lonnie sometimes. Like, her band and our zine and her hair and everything are all anti-authority, but I watch her in JROTC and she's doing drills in perfect formation, following orders, no question. […] Like, she's going to join the army and then, lie? About who she is? 21

Sie ist also „weder hier noch da“ 22, was sie nach Victor Turner eindeutig als Schwellenwesen und somit als eben noch nicht erwachsen definiert. Trotz­dem besitzt sie gegenüber Sam bereits eine höhere Kompetenzstufe, denn offenbar ist sie sich bereits ihrer Sexualität bewusst und hat auch einen festen Plan, welchen Weg sie nach ihrem Schulabschluss einschlagen will.
Für Sam fungiert Lonnie auf mehrere Weisen als Mentorin. So ist sie immer wieder der Grund für ihre Rebellion gegen ihre Eltern, wobei wir natürlich nicht sagen können, in wie weit diese schon vor der Handlung des Spiels stattgefunden hat. Eine sehr signifikante Stelle hierfür ist ihr Tage­buch­­eintrag, in dem sie die „Lie-to-mom-and-dad-situation“ 23 erklärt:

Sometimes you just have to lie to mom and dad. Like when Lonnie asked me to see a band with her, and stay over at her friend's place in the city after. That's a lie-to-mom-and-dad situation. But it was sooooo worth it. 24

Aus diesem Zitat lässt sich ein weiteres Merkmal der Mentorenfunktion erkennen, denn es ist wieder Lonnie, die Sam hier in eine neue Welt einführt. Sie eröffnet ihr hier den Weg zu neuen Erfahrungen: „The girls on the stage were just so loud and real and awesome, and everybody was moving together like one huge tide of sound.“ 25, gibt ihr aber auch, vor allem an den von ihr für Sam erstellten Mixtapes erkennbar, einen Einblick in die feministische Riot Grrrl-Bewegung.
Auch aus der Partnerschaft der beiden, die sich über die Handlung ent­wickelt, lassen sich Schlüsse auf eine Mentorenrolle Lonnies ziehen. Sie ist hier maßgeblich daran beteiligt, dass sich Sam ihrer Sexualität bewusst wird, denn es ist aufgrund zahlreicher Unsicherheiten anzunehmen, dass dies ihre erste ernstzunehmende Beziehung ist. Sichtbar wird das an Momenten, in denen sie sprachlos ist: „Right in that moment, I wanted to say... something. But I waited and the moment was gone.“ 26 Nun ist Lonnie zwar nicht die Auslöserin für diese Erkenntnis Sams, denn in einem weiteren Tage­buch­eintrag erwähnt sie: „I've known since like She-Ra“ 27. 28, trotzdem sind die Erfahrungen, die sie in der Beziehung mit ihr macht, wegweisend auf Sams Prozess der Selbstfindung und des Erwachsenwerdens.

Life Is Strange

Max Caulfield, die Protagonistin des Spiels Life Is Strange, dessen zeitliche Einordnung sich hauptsächlich über eine Woche des Oktobers 2013 erstreckt, kehrt noch vor Beginn der Handlung nach Arcadia Bay, einem fiktiven Ort im US-Bundesstaat Oregon, zurück, um dort Fotografie an der Blackwell Academy zu studieren. Hierbei trifft sie auf ihre alte Jugend­freundin Chloe, mit der sie unter anderem versucht, näheres über die Umstände des rätselhaften Verschwindens der Schülerin Rachel Amber, Chloes inzwischen neuer besten Freundin, in Erfahrung zu bringen.
Um Chloe als Mentorin Max' in deren Reifeprozess zu sehen, müssen wir zunächst überhaupt die Existenz eines Reifeprozesses feststellen. In der Tat mag der Spielerin beziehungsweise dem Spieler bei der Rezeption eher Chloe als die Figur vorkommen, die mit den typischen Problemen des Erwachsenwerdens zu kämpfen hat. So bezeichnet sie beispielsweise ihren Stiefvater als „step-führer“ 29, „step-shit“ 30, „step-prick“ 31, „step-troll“ 32, „step-fucker“ 33, oder „stepdouche“ 34. Hinzu kommen zahlreiche Aus­einander­setzungen mit ihm, aber auch mit ihrer Mutter. Die Aussage Chloes beim Frühstück: „Jeez I can't do anything around here without everyone getting into my shit“ 35 sowie die kurz darauf folgende Eskalation im Konflikt mit David seien hier als Beispiel angeführt.
Max' Reifeprozess ist dagegen deutlich symbolischer zu sehen, was etwa an der Veränderung ihrer Kleidung im Spielverlauf deutlich wird. So trägt sie in Episode 1 ein Oberteil mit der Aufschrift „Jane“ sowie dem Abbild einer Hirschkuh. Der daraus ableitbare Name „Jane Doe“ wird meist als Platzhalter für fiktive oder unidentifizierte Personen gebraucht, Max wird hier somit noch als introvertiert und ersetzbar charakterisiert. In Episode 3 wiederum trägt sie dann Rachel Ambers alte Kleidung und wirkt in diesem Outfit schon deutlich selbstbewusster. Bezieht man diese Symbolik auf das große Ganze der Handlung, so können die Probleme, mit denen Max im Verlauf kon­fron­tiert wird, symbolisch für die Probleme einer Jugendlichen gesehen werden. Hin und wieder gibt es auch im Spiel Anzeichen dafür, so erklärt sie gegen­über Mr. Jefferson: „I think there's too much going on in my life.“ 36 Die Bewältigung dieser Probleme stehen bei dieser Interpretation nun für den Reifeprozess und den Übergang zum Erwachsenendasein. Chloe agiert hierbei an vielen Stellen der Handlung als Unterstützerin, auch körperlich gesehen, wie etwa als sie Max' Kopf auf ihre Beine legt, damit sie sich nach ihrer Vision ausruhen kann, oder gegen Ende des Spiels, als sie sie auf dem Weg zum Leuchtturm stützt. Hinzu kommen Aussagen, die dies unter­mau­ern, so beispielsweise „I've got your back, Max.“ 37, wiederum verbunden mit einer stützenden Geste, oder auch „I know you can handle this. And I'm here to guide you.“ 38
Noch deutlicher wird Chloes Rolle als Mentorin aber an zwei speziellen Momenten der Handlung, an denen sie Max in zwei abgesonderte Räume einführt, den Schrottplatz und das Schwimmbad. Beide Räume stellen hier ein Beispiel dessen dar, was Michel Foucault Heterotopien nennt, „Gegen­räume, […] lokalisierte Utopien“ 39, kurz gesagt, Räume in der Gesellschaft, die sich aber, aufgrund ihres eigenen Regelkonstruktes, von dieser klar ab­gren­zen. So ist der Schrottplatz für Chloe eine Umgebung in der sie, frei von den Augen verschiedenster Autoritäten, eine Waffe be­nut­zen und Alkohol konsumieren kann, das Schwimmbad wiederum wird durch den Kontext der fehlenden Autoritäten zu einem solchen Raum. Dort kann sich die Spielerin beziehungsweise der Spieler entscheiden, ob sie oder er die Mädchen- oder die Jungenumkleide benutzen will. Hier findet nicht nur ein Aufbrechen eines gesellschaftlichen Regelkonstruktes statt, für Max besteht hier auch der Freiraum, ihre eigene Sexualität auszukundschaften und heteronormative Muster zu hinterfragen. Das funktioniert zumindest so lange, bis Personen von außen in die Grenzen der Räume eindringen. Auf dem Schrottplatz ist es der Drogendealer Frank, dem Chloe noch Geld schuldet, im Schwimmbad David Madsen, Chloes Stiefvater und Security Guard der Blackwell Academy. Zuvor macht Max an diesen Orten neue Erfahrungen, vor allem im Schwimmbad, die Spielerin beziehungsweise der Spieler merkt an dieser Stelle besonders ihre Entwicklung hin zu ihrem selbstbewussten Ich. Von Chloe wird das an dieser Stelle sogar mit dem Satz „You're not so chickenshit anymore.“ 40 kommentiert. Dass dies vor allem ihr Verdienst ist, lässt sich an der kurz danach folgenden Aussage Max sehen: „You make me feel like I know what I'm doing...“ 41.

Funktion der Immature Mentors

Ein Coming of Age-Prozess ist immer auch ein Übergang. Laut Arnold van Gennep gehören zu diesen immer auch Zeremonien, die sogenannten Übergangsriten. 42, unterteilt in drei Phasen, „Ablösungsphase“, „Zwischen­phase“ und „Integrationsphase“ 43. Es ist wohl nicht dem Zufall zu verdanken, dass van Gennep die Zwischenphase auch Schwellenphase nennt. Tür, Schwelle und Tor sind häufig zentral in Coming of Age-Werke eingebunden, sei es nun im anfangs besprochenen Wilhelm Meister: „Je größer die Ehr­furcht war, die ich für die verschlossenen Türen in meinem Herzen herum­trug“ 44, oder auch in Life Is Strange, als bei Max und Chloes nächt­li­chem Einbruch in die Blackwell Academy gleich mehrere verschlossene Türen überwunden werden müssen.
Betrachten wir nun diese Szene sowie das Konzert aus Gone Home, etwas genauer. Beide zeigen auf ihre Weise einen Übergang und lassen sich in Phasen einteilen. Die Zwischenphasen stellen jeweils eine Heterotopie dar, wie es bei der Szene im Schwimmbad auch bereits gezeigt worden ist. Auch für das Konzert eignet sich diese Bezeichnung, die Protagonistin befindet sich ebenfalls in einem Raum, der sich nach eigenen Regeln richtet und somit neue Erfahrun­gen zulässt. Wie wichtig die Existenz dieser Räume für das Erwachsenwerden ist, zeigt sich mit einem Blick darauf, wie Foucault die Heterotopien einführt:

Es sind gleichsam Gegenräume. Die Kinder kennen solche Gegenräume, solche lokalisierte Utopien, sehr genau. Das ist natürlich der Garten. Das ist der Dachboden oder eher das Indianerzelt auf dem Dachboden. Und das ist – am Donnerstag Nachmittag – das Ehebett der Eltern. Auf diesem Bett entdeckt man das Meer, weil man zwischen den Decken schwimmen kann. Aber das Bett ist auch der Himmel, weil man auf den Federn springen kann. Es ist der Wald, weil man sich darin versteckt. Es ist die Nacht, weil man unter den Laken zum Geist wird. Und es ist schließlich die Lust, denn wenn die Eltern zurückkommen, wird man bestraft werden. 45

„Das Wort das uns dazu einfällt, das Foucault nicht ausspricht, doch zwischen den Zeilen des Textes von selbst zu sprechen anfängt, ist das Wort ‚Spiel‘.“ 46 Im Spielen lernen und forschen Kinder, sammeln neue Erfah­rungen. Ohne das Spiel wäre eine Entwicklung nur schwer möglich, und auch im späteren Adoleszenzprozess helfen Heterotopien dabei, sich neuen Eindrücken zu nähern und damit eine Veränderung voranzutreiben. Doch welche Rolle spielen nun die Immature Mentors bei diesem Vorgang?
Betrachten wir das Wirken von Lonnie und Chloe, so fällt auf, dass beide besonders in impliziter Weise eine Mentorenfunktion erfüllen. Im Gegensatz zu traditionellen Mentoren, die hauptsächlich unmittelbar, etwa mit Wertun­gen oder Ratschlägen, wie bei Wilhelm und Jarno festgestellt, auf die Protagonistin oder den Protagonisten Einfluss nehmen, sind die Aus­wirkungen ihrer Handlungen eher über andere Instanzen mittelbar. Nun existieren in Life Is Strange auch Momente, in denen Chloe direkt auf Max einwirkt, etwa durch ihre stützenden Handlungen und Aussagen, zum einen kann das jedoch als Bildung einer schützenden Umgebung gedeutet werden, in der eine freie Selbstentfaltung weiterhin gewährleistet ist, zum anderen überwiegen eindeutig die indirekten Anstöße. Hier wären eben jene Momente zu nennen, in denen Chloe Max in die oben angesprochenen Heterotopien einführt. In Gone Home funktioniert dies auf die gleiche Weise, allerdings sind hier auch die angesprochenen Mixtapes zu nennen. In jedem Fall scheint die Form der indirekten Erfahrungsvermittlung deutlich mit dem Typus der Immature Mentors zusammenzuhängen. In der Literatur finden wir ähnliche Formationen, die uns das bestätigen. So wird etwa der Protagonist Charlie in Stephen Chboskys The Perks of being a Wallflower Teil einer für ihn völlig neuen Welt als er Sam und Patrick kennen lernt. Hier macht er erste Erfahrungen in den Bereichen Drogen, Liebe und Sexualität.
Um diese Funktion nun genauer zu fassen bietet sich die Bezeichnung Gatekeeper an, denn sowohl Lonnie als auch Chloe führen die Pro­ta­go­nistinnen in neue Welten ein. Hier ist ausdrücklich nicht die Welt des Erwachsenendaseins gemeint, sondern die bereits angesprochenen Zwischenstufen, also Welten, die durch die Erfahrungen, die in ihnen möglich sind, den Weg dorthin öffnen. Die Gatekeeper stehen hier nicht für einen Torwächter im Sinne Joseph Campbells, der beim Übertreten der Schwelle überwunden werden muss, 47 sondern erfüllen eine unter­stüt­zende Rolle. Sie besitzen durch ihre Erfahrungen und Eigen­schaften die Fähigkeit, die Protagonistin oder den Protagonisten zu diesem Tor hin- und hindurchzuführen und dabei über sie oder ihn zu wachen.
Besonders in Life Is Strange wird diese Sichtweise bestätigt. Als Max und Chloe in die Blackwell Academy einbrechen, woran sich direkt der Einbruch in das Schwimmbad und somit ein Schlüsselerlebnis in Max' Coming of Age-Prozess anschließt, bezeichnet Max Chloe als „Cloe the keymaster.“ 48. In einem Tage­buch­eintrag lässt sich zudem eine passende Illustration finden.

Keymaster Chloe. Life Is Strange (Selbstersteller Screenshot)

Auf Gone Home ist das in ähnlicher Weise übertragbar. Auch wenn hier keine vergleichbare Symbolik existiert, ist es trotzdem auch hier so, dass Lonnie Sam eine neue Welt eröffnet, einerseits ebenfalls räumlich erkenn­bar, wie bei ihren Konzertbesuchen, andererseits auch, indem sie sie mit der Feminismusbewegung und ihrer eigenen Queerness konfrontiert.

The Game is your Mentor

Wir haben nun also gesehen, wie Heterotopien ein unterstützender, vielleicht sogar notwendiger Faktor für den Coming of Age-Prozess sein können. Während wir Max und Chloe dabei betrachten, wie sie das Schwimm­bad der Blackwell Academy in ihren eigenen Swimming Pool verwandeln, vergessen wir jedoch meist, dass wir uns selbst gerade in einem sehr ähnlichen Vorgang befinden. Denn „jedes mal, wenn wir ein Joypad in die Hand nehmen, ein Spiel starten, erschaffen wir uns eine zeitweilige Heterotopie“ 49. Indem wir also spielen, können wir uns selbst, zumindest vorübergehend, aus dem Regelwerk der Gesellschaft entfernen.
Zudem wirkt sich die Rezeption von Coming of Age-Geschichten auf den eigenen Adoleszenzprozess aus, 50 am deutlichsten zeigt sich dies bei der Lektüre von Stephen Chboskys The Perks of being a Wallflower, hier beschäftigt sich der Protagonist Charlie über die Handlung hinweg mit zahlreichen Werken, wie unter anderem The Catcher in the Rye, How to kill a Mockingbird oder Peter Pan. 51 So wie diese Geschichten auf Charlie, können Geschichten allgemein eine große Wirkung auf uns haben, wir verlieren uns in ihnen, durchleben sie selbst und können uns so in eine andere Welt begeben, in der wir dann neue Erfahrungen sammeln können. Auf diese Weise können uns Erzählungen Sinn und Orientierung vermitteln, oder auch zerstören. 52 Vielleicht ist genau das auch der Grund für das Auf­tauchen der Immature Mentors. Erwachsen zu werden kann niemandem beigebracht werden, das muss man schon selbst lernen, die nötige Hilfe und Unterstützung kann jedoch eine wichtige Rolle spielen. Das könnte wie­de­rum auch einen großen Vorteil der interaktiven Medien darstellen, die bestimmte Situationen simulieren können und somit der Spielerin beziehungsweise dem Spieler einen Raum bieten, in dem sie oder er sich ausprobieren kann.

Verzeichnis verwendeter Texte und Medien

Bilder

Abbildung 1: Life Is Strange (Selbsterstellter Screenshot)
Abbildung 2: Fallout 3 (Selbsterstellter Screenshot)
Abbildung 3: Life Is Strange (Selbsterstellter und bearbeiteter Screenshot)

Spiele

Bethesda Softworks: Fallout 3. PC. USA: ZeniMax 2008.
Dontnod Entertainment: Life Is Strange. PC. Frankreich: Square Enix 2015.
Fullbright Company: Gone Home. PC. USA: 2013.

Filme

Lucas, George: Star Wars. Episode V The Empire Strikes Back. DVD. USA: 20th Century Fox 2006.

 Primärtexte

Chbosky, Stephen: The Perks of being a Wallflower. London: Simon & Schuster 2012.
Goethe, Johann Wolfgang von : Wilhelm Meister Lehrjahre. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1982.

Sekundärtexte

Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Übers. v. Karl Koehne. 1. Aufl. Frankfurt a. M. (u.a.): Insel Verlag 1999.
Eigler, Friederike: Wer hat 'Wilhelm Schüler' zum 'Wilhelm Meister' gebildet? Wilhelm Meisters Lehrjahre und die Aussparungen einer hermeneutischen Verstehens- und Bildungspraxis. In: Goethe Yearbook 1986, Volume 3, S. 93-119.
Foucault, Michel: Die Heterotopien / Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Übers. v. Michael Bischoff. 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005.
van Gennep, Arnold: Übergangsriten (Les rites de passage). 1. Aufl. Frankfurt a. M. (u.a.): Campus Verlag (u.a.) 1986.
Gerth, Klaus: „Das Wechselspiel des Lebens.“. Ein Versuch „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (wieder) einmal anders zu lesen. In: Goethe Jahrbuch 1996, Bd. 113, S.105- 120.
Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2012.
Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Antistruktur. Studienausgabe. Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2000.
Unterhuber, Tobias: Heterotopie und Spiel – eine Annäherung. (2013). <https://www.paidia.de/?p=2906> [26.11.2016].

 Wörterbücher

Das große Oxford Wörterbuch. 2. Ausgabe. Oxford: Oxford University Press 2009.
Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 7., überarb. u. erw. Aufl. Berlin: Dudenverlag 2011.
DWDS: DWDS Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin) <http://www.dwds.de/> [26.11.2016].

  1. Duden (2011); S. 1181, Stichwort: Mentor. []
  2. DWDS; Stichwort: Mentor. []
  3. Gerth: „Das Wechselspiel des Lebens.“. 1996, S. 105. []
  4. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. 1982, S. 40. []
  5. Ebd., S. 39. []
  6. Ebd., S. 36. []
  7. Ebd., S. 37. []
  8. Ebd., S. 78. []
  9. Eigler: Wer hat 'Wilhelm Schüler' zum 'Wilhelm Meister' gebildet?. 1986, S. 105. []
  10. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. 1982, S. 180. []
  11. Ebd., S. 180. []
  12. Ebd., S. 184f. []
  13. Ebd., S. 198.[]
  14. Ebd., S. 198. []
  15. Ebd., S. 185. []
  16. Ebd., S. 200f.[]
  17. Ebd. S. 37. []
  18. Vgl. ebd., S. 201. []
  19. Oxford Dictionary (2009); S. 391, Stichwort: mature[]
  20. Oxford Dictionary (2009): S. 396, Stichwort: mentor. []
  21. Fullbright Company: Gone Home. 2013, Journal Entry: Getting Lonnie. []
  22. Turner: Das Ritual. 2000, S. 95. []
  23. Fullbright Company: Gone Home. 2013, Journal Entry: Lie-to-Mom-and-Dad Situation. []
  24. Ebd., Journal Entry: Lie-to-Mom-and-Dad Situation. []
  25. Ebd., Journal Entry: Lie-to-Mom-and-Dad Situation.[]
  26. Ebd., Journal Entry: Dealing with Roots. []
  27. Protagonistin der Serie Princess of Power und Figur aus Masters of the Unierse []
  28. Fullbright Company: Gone Home. 2013, Journal Entry: A very long Phase. []
  29. Dontnod Entertainment: Life Is Strange. 2015, Ep. 1. []
  30. Ebd., Ep. 2. []
  31. Ebd., Ep. 3. []
  32. Ebd., Ep. 3. []
  33. Ebd., Ep. 3. []
  34. Ebd., Ep. 3. []
  35. Ebd., Ep. 3. []
  36. Ebd., Ep. 4. []
  37. Ebd., Ep. 5. []
  38. Ebd., Ep. 2. []
  39. Foucault: Die Heterotopien / Der utopische Körper. 2005, S. 10. []
  40. Dontnod Entertainment: Life Is Strange. 2015, Episode 3. []
  41. Ebd., Ep. 3. []
  42. Vgl. van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage). 1986, S. 15. []
  43. Ebd., S. 21. []
  44. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. 1982, S. 16. []
  45. Foucault: Die Heterotopien / Der utopische Körper. 2005, S. 10. []
  46. Unterhuber: Heterotopie und Spiel – eine Annäherung. 2013. <https://www.paidia.de/?p=2906> [26.11.2016]. []
  47. Vgl. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. 1999, S. 79ff.[]
  48. Dontnod Entertainment: Life Is Strange. 2015, Ep. 3. []
  49. Unterhuber: Heterotopie und Spiel – eine Annäherung. 2013. <https://www.paidia.de/?p=2906> [26.11.2016]. []
  50. Diese These entstammt dem Seminar „Von Werther bis Life Is Strange – Coming of Age in Literatur, Film und Spiel“ von Tobias Unterhuber und wird in einer geplanten Publikation näher betrachtet werden.[]
  51. Vgl. Chbosky: The Perks of being a Wallflower. 2012. []
  52. Koschorke: Wahrheit und Erfindung. 2012. []

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Elender, Moritz: "What's up with all those Seniors? Der Typus der Immature Mentors und seine Funktion in Coming of Age-Werken am Bei­spiel von Gone Home und Life Is Strange". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 29.11.2016, https://paidia.de/whats-up-with-all-those-seniors-der-typus-der-immature-mentors-und-seine-funktion-in-coming-of-age-werken-am-beispiel-von-gone-home-und-life-is-strange/. [21.11.2024 - 18:02]

Autor*innen:

Moritz Elender

Moritz Elender studiert seit dem Wintersemester 2013/14 Mathematik und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.