Zum Stand der Sprachwissenschaften in den Game Studies
Pascal Wagner
„Ludolinguistik“, so nennen einige Sprachwissenschaftler*innen das Gebiet, auf dem sich Spielwissenschaft und Linguistik kreuzen, angelehnt an andere Ludo-Komposita wie die schon länger etablierte Ludomusikologie. Ob sich der Begriff auf Dauer durchsetzen wird, steht noch aus: Googelt man ihn, spuckt die Suchmaschine stand Juli 2021 etwa 50 Ergebnisse aus, und ich kann weniger mit Stolz als mit Ernüchterung sagen, dass ein guter Teil davon auf meine eigenen Texte referiert. Im englischsprachigen Raum sind es immerhin gut 1.000 Hits, von denen sich allerdings eine für diesen Essay nicht näher untersuchte Anzahl um die Logologie, die Linguistik der Wortspiele, drehen dürfte.
Linguistik, die dediziert Videospiele behandelt und insbesondere eine solche, die sich mit den medienspezifischen Merkmalen von Spielen beschäftigt, ist nicht nur jung, sie ist auch ein vergleichsweise kleiner Teil sowohl der Game Studies als auch der Sprachwissenschaft. Das liegt zum einen daran, dass die Verbindung zwischen Videospielen und Sprache als Forschungsgegenstand nicht direkt ersichtlich ist. Sprache in Videospielen zu erforschen ist der naheliegendste Gedanke, aber diese Projekte landen kognitiv ebenso schnell in der Schublade der Medienlinguistik, der Literaturwissenschaft (je nach Prosa- oder Versform der untersuchten Texte) oder auch der Übersetzungswissenschaft, wenn sich mit mehreren Sprachversionen eines Spiels beschäftigt wird. Nichts davon ist nicht ludolinguistisch, das möchte ich an dieser Stelle ganz klar herausstellen. Aber die Not, eine neue Schnittstelle zu finden, zu benennen und als eigene Nische zu festigen, wird nur schwer offensichtlich, wenn zur Forschungsarbeit jene Methoden ausreichen, die andere Teilbereiche einer Wissenschaft ausmachen. Eine Ludolinguistik, die ihren Namen aus institutioneller Sicht verdient hat, sollte also die Methoden der Linguistik so untrennbar mit denen der Game Studies zu einem neuen Hybriden mischen, dass der Sinn dieser neuen Kategorie schon aus ihrer Arbeitsweise heraus sichtbar wird.
Diese Sichtweise bringt einige Probleme mit sich. Zum einen, dass es die Game Studies nicht gibt, eine Hybridisierung welcher Methoden nun genau also quasi unmöglich ist. Zum anderen, dass sich unter dem breiten Schirm an Disziplinen, Methoden, Denkansätzen und Industrie-Verknüpfungen, den wir heute Game Studies nennen, so viele unterschiedliche Möglichkeiten sammeln, mit Spielen zu interagieren, dass eine Begrenzung auf nur einige wenige Ansätze, die sich linguistisch fassen lassen, der entstehenden Kategorie überhaupt keine Rechnung tragen würde.
Und außerdem, und hier bediene ich mich der Argumentation von Simon Meier-Vieracker aus seiner Antwort auf die heftige Kritik eines Kollegen an seiner Wortneuschöpfung „Fußballlinguistik“, würde eine strenge Kontrolle dessen, was Ludolinguistik sein und wie sie arbeiten könnte, das wissenschaftskommunikative Potenzial dieser Disziplin vollkommen aushebeln. Der Sinn einer Linguistik, die ein weit verbreitetes Hobby wie Gaming im Blick hat, lässt sich in den folgenden beiden aus besagtem Artikel zitierten Sätzen gut wiederfinden, in denen ich das Wort „Fußball“ jeweils durch „Spiele“ ersetzt habe:
Der Blog ist gedacht als ein niedrigschwelliges Forum zur öffentlichkeitsnahen Publikation kleineren Analysen und Betrachtungen zum Thema Spiele aus linguistischer Sicht. Er richtet sich sowohl an spieleinteressierte Sprachwissenschaftler:innen als auch an sprachinteressierte Spielefans und -expert:innen.1
Wir eröffnen der Linguistik dadurch also nicht nur das Feld der Spiele als Forschungsgegenstand –unabhängig davon, ob sie das überhaupt nötig hat, weil Spiele vielleicht schon längst Gegenstand der Medien- oder Textlinguistik sind. Vor allem öffnen wir die Linguistik also für jene, die sich für Gaming interessieren und im Internet und in Büchern weiterführende Informationen zu ihrem Hobby suchen und dabei vielleicht auf uns stoßen. Dass die Linguistik in die Game Studies stolpert ist toll, wichtig und wird viele andere Forschungsbereiche der Game Studies ebenso bereichern wie andersherum, aber dass Spieler*innen in die Linguistik stolpern können, weil sie einen griffigen Begriff, einen prominenten Blog, einen mit Screenshots ihres Lieblingsspiels gespickten Tagungsvortrag finden, das ist das eigentlich Großartige.
Wo stehen wir, als Ludolinguist*innen, also? Institutionell nirgends, aber das ist okay. Es gibt keine Ludolinguistik-Lehrstühle, aber es gibt Menschen an Linguistik-Lehrstühlen mit Games-Interessen und solche an Game-Design-Lehrstühlen mit philologischer Ausrichtung, die die Game Studies mit Sprachwissenschaft durchwirken. An der TU Dresden etwa, am Lehrstuhl für Angewandte Sprachwissenschaft unterrichtet Alexander Lasch neben oben genanntem Simon Meier-Vieracker über Videospiele und Let’s Plays als Forschungsgegenstand. Ich selbst bringe Amerikanist*innen akademisches Arbeiten mit Spielen und Streams als Quellen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz bei.
Die Angewandte Linguistik ist die naheliegendste Subdisziplin für institutionelle Schnittstellen mit den Game Studies, aber sicher nicht die einzige. Auch die Sprachpädagogik hat den Nutzen von Spielen als Lehr- und Lernwerkzeug erkannt und publiziert seit über einem Jahrzehnt zum Thema; internationale Namen schließen James Paul Gee, Mark Peterson, Julie E. Sykes und Jonathan Reinhardt sowie viele weitere ein. Die sprachpädagogische Schnittstelle von Games und Sprachwissenschaft ist somit wohl auch die am erfolgreichsten institutionalisierte – und vielleicht auch die älteste, wird doch Spil schon in der Pädagogik um 1800 für Erziehung und Sprachenerwerb nutzbar gemacht.
Hier ist die Erkenntnis, Spiele als Werkzeug gesellschaftlicher Themen und Bedürfnisse nutzen zu können, also fest verankert. Leider mangelt es uns an einem solchen gesellschaftlichen und (im weiten Sinne) politischen Bewusstsein eher noch, wenn wir die Sprache und das Handeln von Menschen um Videospiele herum und in ihnen betrachten. Doch solange die Neue Rechte erfolgreich bei reaktionären ‘Gamer*innen’ fischt, wie der Einfluss von Donald Trumps Wahlkampfteam 2016 auf die Hassbewegung GamerGate beweist, solange werden auch diskriminierender Humor, Sexismus, Trans- und Homofeindlichkeit sowie Rassismus in Spielen ebenso wie diskriminierende Sprache in Gaming-Chats, Foren und MMORPGs Teil der Politolinguistik, der Soziolinguistik und der Genderlinguistik sein (müssen!).Ü
Die Überschneidungen mit der Internetlinguistik, die sich der Entwicklung von Sprache auf Social Media, in Foren, in gruppenspezifischem Gebaren (wie u.a. in Spiele-Clans oder MOBA-Communitys) und durch Memes annimmt, sind ebenfalls offensichtlich. Entsprechend findet sich die Ludolinguistik eben auch indirekt durch Forscher*innen wie Konstanze Marx (Uni Greifswald/ehem. Mannheim) und Georg Weidacher (Karl-Franzens-Universität Graz) im deutschsprachigen Raum vertreten und gewinnt international durch Werke wie Because Internet von Gretchen McCulloch Fahrtwind hinzu.
Nicht weniger wichtig als die direkt als solche erkennbaren Formen der Sprachwissenschaft sind für die Ludolinguistik auf institutioneller und professionalisierter Ebene schließlich auch die Übersetzungs- oder Lokalisationswissenschaften – und nicht nur die Wissenschaften, sondern besonders auch die Praktiker*innen. Die Lokalisation als Forschungs- und Industriezweig hat längst den Wert von Videospielen erkannt, bietet die Videospielübersetzung doch einen großen Arbeitsmarkt und zahlreiche Gelegenheiten zur Forschung für Übersetzer*innen. Obwohl mir im deutschsprachigen Raum dazu wenig Konkretes bekannt ist – ich freue mich hier sehr über Input als Reaktion auf diesen Essay – sehe ich eine Menge Schritte in diese Richtung international geschehen, so etwa bei der Fachtagung Language and Culture in Video Games des Text-Image-Language Research Center der Universität von Burgund oder in Fachjournalen wie MultiLingual.
Zu guter Letzt komme ich noch einmal auf den bereits erwähnten größten Vorteil einer Ludo-Bindestrich-Linguistik zurück: Die Wissenschaftskommunikation. Hier bin ich selbst zuhause. Und nicht ganz ohne Eigeninteresse sage ich: Hier darf mehr passieren! Die Verbindung von Sprache und Spielen ist in größerem Stil vor allem aus zwei Richtungen im öffentlichen Bewusstsein angekommen: Zum einen, wenn es darum geht neue Sprachen spielerisch zu lernen (hierzu fand etwa ein Artikel von mir Platz beim Spieleratgeber NRW), zum anderen im Bereich der Lokalisationen, denn gerade die Entwickler*innen und Publisher*innen von ATLUS beziehungsweise Sega haben erkannt, wie viele Fans sich für die Übersetzungsprozesse und -geschichten ihrer Spiele aus dem Japanischen interessieren. Meines Wissens nach gibt es nur eine dedizierte Plattform, die sich mit der Schnittstelle aus Sprache und Spielen beschäftigt und dabei ein breites Publikum ansprechen will: Language at Play, meine eigene. Bei der Suche habe ich lediglich einen weiteren, internationalen Blog mit ähnlichem Fokus gefunden, das aber seit 2013 inaktiv ist. Hier darf gerne mehr passieren – auf Webseiten, in Büchern und auf möglichst vielen, möglichst offenen Tagungen. Vielleicht führen die während der COVID19-Pandemie gesammelten Kompetenzen ja auch langfristig zu mehr digital verfügbaren Vorträgen, Panels, Diskussionen und Ressourcen, die eine neue Generation Linguist*innen in die Game Studies führen – oder Medienwissenschaftler*innen und Game Designer*innen die Sprachwissenschaft als zusätzlichen Schwerpunkt nahebringen.
Medienverzeichnis
Literatur
Meier-Vieracker, Simon: „Braucht es eine Fußballlinguistik?“ 29. Mai 2021 von https://fussballlinguistik.de/2021/05/braucht-es-eine-fussballlinguistik/ [04.08.2021].
Titelbild
Steen, Jan : Der Wirtshausgarten. 1655.
- adaptiert aus Simon Meier-Vieracker: „Braucht es eine Fußballlinguistik?“ 29. Mai 2021 von https://fussballlinguistik.de/2021/05/braucht-es-eine-fussballlinguistik/ [04.08.2021].[↩]