(Un)deutbare Räume – Die Insel von Dear Esther

31. Oktober 2012

„Dear Esther,

I sometimes feel as if I've given birth to this island.[...] No matter how hard I correlate, it remains a singularity, an alpha point in my life that refuses all hypothesis. I return each time, leaving fresh markers that I hope – in the full glare of my hopelessness – will have blossomed into fresh insight in the interim.“ Dear Esther, Kapitel 1)

 

Terra Nullius

Die fiktive Insel von Dear Esther ist bei genauerer Betrachtung selbst ein Rätsel. Sie bleibt nicht nur namenlos, sie steht auch außerhalb etablierter Koordinatensysteme, ist eine Welt für sich.

Die Verortungswerkzeuge, die andere Spiele einsetzen, um ihre Handlungsorte in den größeren Rahmen einer Erzählung oder einer fiktionalen Welt (bspw. unsere moderne Welt, ein Science-Fiction- oder Fantasy-Universum) zu integrieren, bleiben bewusst ungenutzt: Es gibt auf dem Ladebildschirm von Dear Esther keine Weltkarte, die (vgl. die Call of Duty: Modern Warfare-Reihe) in einem Video per Satellitenoptik immer weiter vom Globus bis zum Handlungsort hereinzoomt, oder eine gestrichelte Linie, die sich – wie in Diablo 3 – langsam über eine pergamentene Karte zieht, um den Weg der Figuren von ihrem exotischen Heimatland zum Handlungsort des Spieles zu markieren – stattdessen beginnt das Spiel ganz plötzlich an einem lange verlassenen Leuchtturm vor einer felsigen Küste.

Ohne diesen inzwischen selbstverständlichen Vorgang wird es für den Spieler sehr viel schwieriger, eine Erwartungshaltung zur Insel zu entwickeln: Sie ist eben keine exotische Pirateninsel(vgl. Monkey Island), keine Insel der Toten (Dead Island, diverse Fantasytitel), kein anarchistischer Spielplatz (Just Cause II), kein buntes Phantasiereich (Sonic, Yoshi's Island), sondern auf den ersten Blick nur eine karge kleine Insel, den realen Hebriden zum Verwechseln ähnlich. Die auf der Insel vorherrschednen grauen und erdigen Farbtöne, die kargen Hügel und Klippen stehen nicht außerhalb des optischen Repertoires der Realität und geben keine visuellen Hinweise auf eine intendierte symbolische Bedeutung dieses Ortes – ohne vorkonnotierte Bedeutung bleibt die Insel also bis zum Ende und darüber hinaus ein Rätsel.

Symbolische Rahmung und ihr Fehlen: Ein Leuchtturm in Dead Island...

...und in Dear Esther

Stasis

Im selben Zug ist die Insel auch kein wirklicher Handlungsort – denn es gibt nichts und niemanden mehr, der auf ihr handeln könnte: Die Fischgründe sind versiegt, die meisten Vögel haben die Insel verlassen, die einst gezüchteten Ziegen und Schafe sind ausgestorben. Die wenigen menschlichen Bewohner – isolierte, verarmte Fischer und Schäfer – haben ihrer Heimat vor Jahrhunderten den Rücken zugekehrt. Stattdessen existieren nur mehr Überreste und Fragmente der Vergangenheit: Die Ruinen von Ställen und Häusern, skelletierte Schiffswracks und leere Bunkerinstallationen aus den Weltkriegen – leere, leblose Hüllen.

 Auch die erzählten Ereignisse der Briefe an „Esther“ sind längst geschehen – sie können vom Spieler selbst nicht beobachtet werden werden, sondern erscheinen wieder nur in der Form von Überresten: Jakobsons Hütte, Donnellys Aufzeichnungen, Höhlenbilder aus der Hand des Erzählers und „the museum under the sea“, eine mysteriöse überflutete Höhle, die eine Unfallstelle nachzubilden scheint.

Das "Museum": Verrostete Autowracks als Symbole einer unerreichbaren Vergangenheit

Der Avatar des Spielers kann jedoch nichts davon ungeschehen machen, nichts beeinflussen (er kann ja nicht einmal springen oder Türen öffnen), er kann die Lokalitäten der Insel nur mit offenem Auge durchwandern, ähnlich einem Museumsbesucher (vgl. „Ansehen, aber nicht Anfassen!“).

Die rekonstruierte Vergangenheit

Die Parallelen zum Museum als Erinnerungsort gehen jedoch noch weiter: Ein Museum entsteht nie aus dem Nichts, seine Artefakte und Ausstellungsstücke sind nicht zufällig an ihrem Ausstellungsplatz aufgetaucht, sondern werden in einem komplizierten Prozess selektiert, arrangiert und interpretiert, um aus den unzähligen verstreuten Überresten einer vergangenen Epoche ein mehr oder weniger kohärentes Bild zu rekonstruieren. Die Betonung liegt hier auf dem Begriff der Konstruktion, denn die Vergangenheit selbst bleibt für die Nachgeborenen in ihrer Ganzheit unbegreiflich – nur durch die Anstrengungen von (unvollkommenen und nie völlig objektiven) menschlichen Akteuren können einzelne Fragmente verständlich aufbereitet werden. Die Praxis kultureller Erinnerung ist so gesehen nur ein weiterer Versuch, das Chaos und die Kontingenz der Realität durch eine symbolische Ordnung zu bändigen – wir schreiben der Welt Bedeutung ein.

Meiner Meinung nach wird dieser Prozess der Sinnzuschreibung bei Dear Esther auf doppelte Weise umgesetzt – sowohl auf der Ebene der Figuren (darunter auch der Erzähler), wie auch auf der des Spielers/Avatars.

Sinnsuche auf der Insel

„[…]...And although [Donnelly] paints a colourful picture, much of what he says may have been derived directly from his fever. But I have been here and I know, as Donnelly did, that this place is always half-imagined.“ (Dear Esther, Kapitel 2)

Die erkennbaren Elemente der Erzählung von Dear Esther folgen vielfach einem gemeinsamen Muster: Zahlreiche Figuren suchen auf der Insel nach Erfüllung und Antworten, versuchen den für sie bedeutungsleeren Ort zu einem produktiven Element ihrer persönlichen Erzählungen zu machen – und scheitern.

-Jakobson, ein skandinavischer Immigrant ohne Aufstiegschancen: Er versucht Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, auf der Insel eine neue Existenz als Ziegenzüchter zu beginnen, die ihm ein bescheidenes Vermögen und eine Familie garantieren soll. Er will der Insel eine Existenz und eine Genealogie abtrotzen, der selbst bedeutungslose Ort soll – symbolisiert in der Errichtung eines Hauses – zu einer neuen Heimat, dem „Handlungsort“ seiner Erfolgsgeschichte werden. Diesen Wunsch kann er jedoch nicht verwirklichen: Er wird von seinen unterernährten Ziegen mit einer tödlichen Krankheit angesteckt und stirbt zwei Jahre nach der Vollendung seines Hauses alleine – seine gefrorene Leiche wird im nächsten Frühling von Festlandbewohnern gefunden und eiligst beseitigt.

-Donnelly, der die Überreste eines längst verstorbenen Eremiten sucht; stattdessen findet er an den kargen Klippen der Insel nur verschlossene Einheimische – und den Wahnsinn. In der Endphase seiner Syphiliserkrankung beginnt er, die Insel zu beschreiben, seine wirren Aufzeichnungen bleiben jedoch auch für den einzigen Leser, den im Lauf der Geschichte selbst immer wahnsinniger erscheinenden Erzähler/Briefautoren, unverständlich. Für ihn bleiben die Aufzeichnungen nicht mehr als die hilflosen Versuche eines Sterbenden, die karge und trostlose Umwelt der Insel durch die entgrenzte Perspektive einer zunehmend deliriösen Wahrnehmung zu überschreiben – Donnelly schreibt nicht mehr über die Insel, er schreibt diesem leeren und kargen Ort nur seine tödliche Erkrankung ein.

-Der Erzähler selbst, der nach dem tragischen Unfalltod Esthers immer wieder auf die Insel zurückkehrt, in der Hoffnung, die fragmentierten Überreste seines Lebens wieder zu einem Ganzen zusammenfügen zu können. Auch er scheitert – denn es gelingt ihm nicht, den Tod Esthers zu überwinden und seine Zeit auf der Insel produktiv für die Suche nach einem neuen Lebensentwurf zu nutzen. Stattdessen wird die leere Insel für ihn zur Projektionsfläche seiner Obsession mit dem Tod Esthers. Dabei wird sie für ihn sogar wenig später wortwörtlich zur Leinwand: Er benutzt die im Wrack eines Frachters gefundene Farbe, um die Insel selbst mit den Symbolen des „Disasters“ zu markieren: Die die gesamte Insel durchziehenden Zeichnungen zeigen Neuronen, elektrische Schaltungsdiagramme, die Molekülstruktur von Dopamin und Ethanol , dazu Bibelzitate – die gesamte Insel soll zum Zeugnis für Esthers Geschichte und das Leiden des Erzählers werden.

Höhlenzeichnungen: Die Insel als Leinwand

Diese subjektive Interpretation des sonst Unbegreifbaren findet ihren Gipfel in der biologischen Interpretation der Insel durch den Erzähler:

„I am travelling through my own body. Following the line of infection from the shattered femur towards the heart.“ (Dear Esther, Kapitel 4)

Die Reise durch die Insel wird so schließlich als eine Reise durch den eigenen Körper und das eigene Selbst interpretiert, die Insel als solche verliert dabei ihre Materialität und wird zum Spielball der Imagination – zum wortwörtlichen Nicht-Ort.

Erinnern-Spielen?

Die Insel bleibt als eine Spielewelt, mit der kaum produktiv interagiert werden kann, für den Spieler seltsam neutral: Sie ist auch auf der Ebene des Gameplays weder gut, noch böse, weder leicht, noch schwierig konnotiert – denn die Herausforderung von Dear Esther liegt nicht in der Interaktion mit der Spielewelt. (Vgl.: Schöffmann, Andreas: Repräsentationsformen und Herausforderungsstrukturen im Computerspiel. Abschlussarbeit, bisher unveröffentlicht)  Der Spieler wird bei der Durchwanderung der (sich konventionellen Semantisierungsansätzen von Computerspielen an jeder Stelle widersetzenden) Insel mit den erwähnten fragmentarischen Erzählungen konfrontiert – Überreste einer Vergangenheit, auf die er selbst keinen Zugriff hat, Versprechungen eines zu ergründenden Sinnes, einer kohärenten Gesamterzählung, die es zu enträtseln gilt.
In der Doppelung der in all diesen Erzählungen implizierten Sinnzuschreibungsversuche wird nun die scheinbare Rekonstruktion der Gesamtgeschichte zur Herausforderung von Dear Esther: Genau wie für Jakobson, Donnelly und den Erzähler ist die Insel (wie auch die auf ihr befindlichen Objekte) für den Spieler – schon rein aufgrund der eingebauten fehlenden Interaktionsmöglichkeit und Lokalisierung in einem semantischen Rahmen – nicht selbst von Bedeutung: Stattdessen werden die „Anschauungsobjekte“ (ein verlassenes Haus, eine Gruppe Menhire, ein Schiffswrack) durch ihre Assoziation mit den gleichzeitig vermittelten Erzählfragmenten zu Bedeutungsträgern, zu Teilen einer rekonstruierten Geschichte.
Dass das Ergebnis dieser „Rekonstruktion“ immer subjektiv ist und niemals absolute Wahrheitsansprüche anmelden kann, wird von Dear Esther nicht nur in einem zu Spekulationen anregenden offenen Ende betont, sondern unzählige Male in den Erzählungsfragmenten – die wiederum die Basis zur Interpretation des Spielers darstellen – durchexerziert. Sinnsuche wird in Dear Esther so als ebenso unausweichlich, wie als zum Scheitern verurteilt dargestellt. Was bleibt, ist das Wogen der Wellen und der Gräser, die kargen Hügel und Höhlen der Insel.

"Donnelly tells me they had one bible that was passed around in strict rotation. It was stolen by a visiting monk in 1776, two years before the island was abandoned altogether. In the interim, I wonder: Did they assign chapter and verse to the stones and grasses? Marking the geography with their superimposed significance – that they could actually 'walk' the bible and inhabit its contradiction. " (Dear Esther, Kapitel 2)

 

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Baumgartner, Robert: "(Un)deutbare Räume – Die Insel von Dear Esther". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 31.10.2012, https://paidia.de/undeutbare-raume-die-insel-von-dear-esther/. [21.11.2024 - 09:41]

Autor*innen:

Robert Baumgartner

Promotion zum Thema "Sinn(es)-Welten. Die Wirkungsästhetik von Computerspielwelten." (Veröffentlichung im Sommer 2021). Seine besonderen Forschungsinteressen umschließen Fantastik (in Theorie und Texten) und Computerspielforschung. Er ist Redakteur von Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung und Mitherausgeber des Sammelbandes I’ll remember this – Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. (Hülsbusch 2016).