Tagungsbericht: Spielzeichen III – Kulturen im Computerspiel / Kulturen des Computerspiels 6.-8. Dezember 2018 Passau

10. Dezember 2018
Erstkorrektur: Marcel Schellong / Zweitkorrektur: Tobias Unterhuber
Abstract: Tagungsbericht zur 3. Spielzeichen-Tagung zum Thema "Kulturen im Computerspiel / Kulturen des Computerspiels" vom 6.-8. Dezember 2018 an der Universität Passau.

Von 6.-8. Dezember 2018 fand an der Universität Passau nun schon zum dritten Mal die Spielzeichen-Tagung statt, bei der sich Vertreter der deutschsprachigen Game Studies aus den verschiedensten Fachbereichen zum wissenschaftlichen Austausch treffen.

Die Tagung wird im zweijährlichen Rhythmus organisiert von Martin Hennig und steht unter der wissenschaftlichen Leitung von Hans Krah. Tagungsberichte von 2014 und 2016 erschienen ebenfalls auf PAIDIA.

Donnerstag, der 06.12.2018

Begrüßung und Einführung

Martin Hennig: Begrüßung

Martin Hennig begrüßte Vortragende und ZuhörerInnen herzlich und erinnerte nach der Bekanntgabe einiger Programmänderungen noch einmal an die Grundidee der „Spielzeichen“, welche in einer Bündelung und Vernetzung medienkulturwissenschaftlicher Zugänge zum Computerspiel besteht.

Hans Krah: Einführung

Im Anschluss übernahm es Hans Krah, in das diesjährige Thema „Kulturen im Computerspiel / Kulturen des Computerspiels“ einzuführen. Er nahm dabei die umstrittene Werbekampagne der Bundeswehr, die mit Sätzen wie „Multiplayer at it’s best“ auf der Gamescom warb, zum Anlass, um auf die Verweisfunktion 1. bis 3. Ordnung von (Computer-)Spielen in sozialer Praxis und medialer Adaptation aufmerksam zu machen – Spiel sei nie einfach nur Spiel, sondern habe stets eine über das Spiel hinausgehende Verweisfunktion inne. Im Zentrum des Vortrags standen vier verschiedene Arten des Verweises, die Krah entlang der Achsen „Spiel als Träger“ und „Spiel als Modell“ isolieren konnte: Spiel als Teil von ‚Leben‘ (Hyperbolik), Spiel als mise en abyme für ‚Leben‘ (Homologie), Spiel als Deutung von ‚Leben‘ (Metaphorik) und das Spiel, das Leben ‚ist‘ bzw. dazu wird (Substitution).

Martin Hennig: Das Computerspiel als Träger und Adressat kultureller Kommunikation

Während Krah überwiegend das Spiel in seiner Gesamtheit besprochen hatte, fokussierte Martin Hennig im Anschluss das Computerspiel und kontrastierte die kulturelle Ereignishaftigkeit von Spielhandlungen mit den für das Computerspiel typischen konservativen Rollen- und Handlungsmodellen, welche die Funktion hätten, das Ausbrechen auf der ersten Ebene wieder einzufangen. Die kulturellen Funktionen des Computerspiels beschrieb Hennig in einer Matrix vom Computerspiel als (1.) Abweichung (Handlungsraum), (2.) kultureller Speicher (Erzählraum), (3.) Subkultur (Indie- bzw. Retro-Sektor) und (4.) Heterotopie (Handlungs- versus Erzählraum des Spiels) und illustrierte dies mit zahlreichen popkulturellen Beispielen, wie etwa dem Film Ready Player One (2018). Er kam zu dem Schluss, dass die Wahrnehmung des Computerspiels als Abweichung, welche das Medium von seinen Anfängen an begleitet hat, auch heute noch aktuell sei, dass diese Abweichung jedoch inzwischen positiv umgedeutet werde.

Panel 1: Computerspielkultur(en)

Martin Roth: Beiläufiger Nationalismus in japanischen Konsolenspielen

Martin Roth bestritt das Panel „Computerspielkulturen“ allein mit seinem Vortrag zum beiläufigen, „banalen“ (Billig 1995), oder auch „petit“ (Shoji 2014) Nationalismus. Als Korpus dienten ihm die Spiele der „Simple 2000 series“, einer mittlerweile eingestellten low-budget-Produktion, welche in Europa eher wenig bekannt ist, sich in Japan jedoch großer Beliebtheit erfreute. Analysiert wurden speziell THE Kassen Sekigahara (Tamsoft/D3 2004), THE Senkan (Tamsoft/D3 2004) und THE Last Japanese Soldier (2007) auf den Ebenen „Narratives – Aesthetics – Rules“, aber auch die Zielgruppe der Spiele. Roth gelangte zu dem vorläufigen Fazit, dass die rudimentäre Ästhetik der Titel die ludischen und textuellen Elemente betone, in denen eine extreme Dekontextualisierung und Banalisierung stattfinde, während die Wahl der Jahreszahlen tief blicken lasse. Auffällig sei außerdem, dass der Spieler sich unabhängig von den anzitierten historischen Hintergründen stets in der Rolle des Verteidigers des „wunderschönen Heimatlandes“ Japan wiederfinde; niemals als Aggressor auftrete.

Freitag, der 07.12.2018

Panel 2: Kulturelle Aneignungen von Computerspielen

Timo Schemer-Reinhard: Press Button to…Play – Interfacekultur durch Spielen mit dem Computer

Timo Schemer-Reinhard beschrieb das Computerspiel als wichtigen Katalysator für die Entstehung und Etablierung neuer Interaktionsformen im Interface-Bereich. Zunächst zeigte er, wie unwahrscheinlich eine Innovation im Interfacebereich sei, denn das Erlernen des Umgangs mit neuen Interfaces sei tendenziell anstrengend und werde von Menschen daher nur unwillig in Kauf genommen. Im Spiel allerdings erlegten sich Menschen freiwillig teilweise absurde Erschwernisse und Herausforderungen auf (z.B. Golf), daher sei es nur naheliegend, dass im Spielkontext auch neue Interfaces klaglos angenommen würden. So zog Schemer-Reinhard eine Linie von der Magnavox Odyssey (1974) bis zur aktuellen Xbox One, bei der Gestensteuerung im Spielkontext getestet wurde, die von Anfang an dazu bestimmt war, auch jenseits des Spiels Anwendung zu finden.

Sebastian Schmitt: Gamer vs. Producer – Zur populären Interpretationspraxis von Rollenspielen

Sebastian Schmitt widmete sich Interpretationspraktiken und Vorstellungen von Autorschaft jenseits der Literaturwissenschaft. Zu diesem Zweck stellte er eine über acht Jahre hinweg entwickelte und 160 Seiten umfassende Fantheorie des Spielers „Squall_of_SeeD“ zu Final Fantasy VIII (2010) vor, die jedoch unlängst durch die Publikation dreier Bücher von Producer-Seite dementiert wurde. Anhand der Reaktionen der Fans konnte Schmitt zeigen, dass in der Gaming-Community allgemein ein sehr traditionelles Autorverständnis vorherrsche, das dem Autor die absolute Deutungshoheit über sein Werk zuschreibe. Zunehmend setze sich aber auch in der Populärkultur ein poststrukturalistisches Verständnis von Autorschaft durch, welches das Kunstwerk in seiner Eigenständigkeit ernst nehme und den Fans eine Form der Co-Autorschaft im Sinne aktiver Rezeption zugestehe.

Jan-Niklas Meier & João Senna Teixeira: Zwischen Kanon und Zensur – Die Pluralisierung transmedialer Erzählwelten in der Wolfenstein-Reihe

Jan-Niklas Meier stellte anhand der Wolfenstein-Reihe fünf Arten von Kontinuitätsrelationen vor, welche er zusammen mit seinem nicht anwesenden Co-Autor João Senna Teixeira entwickelt hatte: Citation, Reference, Recovery, Hook und Filling. Gegenüber Schmitts Vortrag betonte er, dass die maßgebliche Autorität bei der Bestimmung eines Kanons oft nicht der Entwickler, sondern der Rechteinhaber sei und zeichnete den mehrfachen Publisher-Wechsel der Wolfenstein-Reihe zwischen 1981 und 2018 und dessen Folgen für den Kanon nach. Anhand einer grafischen Darstellung mit verschiedenfarbigen Pfeilen entsprechend der fünf entwickelten Kategorien konnte er zeigen, dass die Wolfenstein-Reihe nicht mit Hooks arbeite, die Recoverys und References mit dem neuen Franchise unter Bethesda und Maschinemade Games zugenommen hätten und dass der Reboot der Serie nicht bedeute, dass alle Verbindungen zu den Vorgängern gekappt worden wären.

Panel 3: Subkulturen/Gegenkulturen

Tim Raupach: Vom Kult digitaler Patina – Retro-Kulturen im Computerspiel

Tim Raupach gab in seinem Vortrag zu bedenken, dass die Retro-Nostalgie nicht in allen Fällen positiv zu sehen sei, da sie nicht nur der Re-Auratisierung diene, sondern auch Ausdruck einer regressiven, konservatorischen Haltung sein könne. Im Anschluss beschrieb er verschiedene Retro-Phänomene, angefangen beim Kopieren der Ästhetik von ‚damals‘ über De-Makes bis hin zu progressiveren Formen wie Mash-Ups oder allgemein der Verbindung von zeitgenössischen Spielmechaniken mit Retro-Ästhetik. Zuletzt stellte Raupach seine Analysekategorien „regressiv“ und „progressiv“ zur Diskussion und schlug als Alternativen „reproduktiv“ und „produktiv“ vor.

Christopher Lukman: Trash-Game als Konsumkritik – Bennett Foddy über Jazzuo, B-Games und konsumistisches Spielen

Christopher Lukman stellte das Indie-Game Getting Over It with Bennett Foddy (2017) als Konsumkritik des Entwickler Bennett Foddy vor. Besondere Aufmerksamkeit ließ er den Voice-Over-Kommentaren Bennett Foddys zukommen, deren Häufigkeit mit dem Spielfortschritt zunimmt und in denen sich Foddy zunehmend mit dem Spieler solidarisiert und ihn als Teil einer exklusiven Stilgemeinschaft anspricht, die nicht von Ambition, sondern von Ausdauer und Leidensfähigkeit zusammengehalten werde. Lukman schloss mit dem Vorschlag, Getting Over It einer Kategorie subjektpoetischer Spiele zuzurechnen, die aufgrund ihrer Devise zur Subjektformung einer Technologie des Selbst im Sinne Foucaults zugerechnet werden können.

Panel 4: Computerspiel- vs. Medienkultur

Rebecca Haar: Gaming-Diskurse im Film – Wie werden Spielmodi im Film dargestellt?

Rebecca Haar referierte über Gaming-Diskurse der späten 90er Jahre anhand einer umfassenden Analyse des Films eXistenZ von Regisseur David Cronenberg aus dem Jahr 1999, der eine verschachtelte Narration verschiedener Ebenen virtueller Wirklichkeiten (nicht unähnlich den Matrix-Filmen) bietet und damit nach Haar die „hyperimmersive Wende“ (Freyermuth) des Computerspiels vorwegnehme. Die im Spiel präsentierte kulturpessimistische Perspektive auf das Spiel müsse man aus der Zeit heraus sehen – letztlich werde die Frage danach, welche Rolle Spiele in der Gesellschaft einnehmen können/sollen, an den Zuschauer delegiert.

Mario Hirstein: Die andere Gewaltdebatte – Splatter-Ästhetik in ‚The Last of Us‘ und ‚Bioshock Infinite‘

Mario Hirstein problematisierte in seinem Vortrag die Gewaltdarstellung von The Last of Us (2013) und Bioshock Infinite (2013) abseits der binären Positionen der Medienwirkungsforschung als ein ästhetisch-ideologisches Problem: Die Splatter-Ästhetik der Spiele stehe quer zu ihrem Kunst-Anspruch als Prestige-Games und unterminiere die Botschaft der Spiele, die sich wenigstens oberflächlich gegen Rassismus, (religiösen) Fanatismus etc. wende. Er kritisierte jedoch auch, dass etwa die Darstellung der Widerstandsbewegung in Bioshock Infinite selbst nicht frei von rassistischen Stereotypen sei. Überdies zeichnete Hirstein Legitimationsstrategien der Spiele für die Gewaltausübung ihrer Protagonisten nach und identifizierte die Wahl des Shooter-Genres in Verbindung mit dem Wunsch der Entwickler nach einer komplexen Erzählung als Wurzel des Problems.

Samstag, den 08.12.2018

Panel 5: Verarbeitung kultureller Paradigmen

Peter Podrez: Stadtspiele, Spielstädte. Zum Verhältnis von Games und urbaner Kultur

Unter der Prämisse, dass der urbane Raum auf Games einwirke, Games selbigen jedoch auch mitproduziere, machte sich Podrez an eine Bestandsaufnahme des Verhältnisses von Games und urbaner Kultur. In Anlehnung an Henri Lefebvre gliederte Podrez seinen Vortrag in die Kategorien: (1.) Gebauter urbaner Raum – (2.) Erlebter urbaner Raum – (3.) Repräsentierter urbaner Raum. Die Räume des Computerspiels unterteilte er weiter in Stadt als a) Kulisse, b) Hindernis, c) (offene) Welt und d) Baukasten und illustrierte dies jeweils durch ein Beat 'em up, Mirror’s Edge (2008), GTA: Vice City (2002) und Sim City 4 (2003).

Fabian Schwarz: Videospiele als Spiegel sozialer Erwartungen und Normen: Entwicklungen in der Darstellung von homosexuellen und transgender Charakteren

Fabian Schwarz näherte sich in drei Kategorien und anhand eines Korpus‘ von weit über 100 Spielen der Darstellung homosexueller und transgender Charaktere in Computerspielen an. Kategorie 1 umfasste queere Figuren die als Antagonisten auftraten, mit Perversionen in Verbindung gebracht, stereotyp überzeichnet oder entmenschlicht werden. Kategorie 2 enthielt Charaktere, deren queerer Hintergrund durch Lokalisierungen getilgt oder verschleiert wurden. Kategorie 3 schließlich war den erst in jüngerer Vergangenheit aufgetretenen positiven Repräsentationen gewidmet. Schwarz beendete seinen Vortrag mit einem Plädoyer für positive Repräsentation und hob die Bedeutung von freier Charaktererstellung für die queere Community hervor.

Oliver Ruf & Markus Matt: Sphären-Konvergenzen – Doki Doki Literature Club als Indiz kulturästhetischer Körperlichkeit

Oliver Ruf lieferte in seiner Einführung zunächst den medien- und designtheoretischen Hintergrund, vor dem dann die Analyse von Doki Doki Literature Club (2017) und seinem Versuch des Einreißens der vierten Wand durch Markus Matt stattfinden konnte. Die Vortragenden deuteten Doki Doki Literature Club als Spiel mit einer kulturästhetischen Körperlichkeit und Symptom für den paradoxalen Wunsch nach einer Körperlichkeit, der in gegenwärtigen Computerspielen verstärkt zum Ausdruck käme: Dem vorgetäuschten Zusammenbruch des Programms bzw. der Spielwelt entspreche der in Selbstmord gipfelnde psychische Zusammenbruch der Figuren; die fiktiven (Messer-)Wunden dienten als „Schnittstellen“ im doppelten Sinne zu den verletzlichen Körpern in der realen Welt. Dennoch müsse die vermeintliche Konvergenz eine Illusion bleiben.

Arno Görgen & Stefan H. Simond: Mental Health im digitalen Spiel – Sedimentationen einer epistemischen Kultur

Arno Görgen und Stefan H. Simond stellten anhand der Beispiele Outlast (2013) und Town of Light (2016) 5 Strategien der Repräsentation von psychischen Erkrankungen vor, die sich in digitalen Spielen finden: Quantifizierung, Subjektivierung (Innenperspektive des Kranken), Objektifizierung (Außenperspektive: der Kranke als Objekt), somatische Externalisierung (deformierter Körper spiegelt die geschädigte Psyche wieder) und räumliche Externalisierung (‚begehbarer‘ Wahnsinn). Die Gegner in Outlast seien ein gutes Beispiel für somatische Externalisierung mit einer entfesselten naturwissenschaftlichen Rationalität (der ‚verrückte Wissenschaftler‘) im Hintergrund, während Town of Light eher auf räumliche Externalisierung in Form von Flashbacks setze. Trotz nahezu identischen Settings seien die Spiele also sehr unterschiedlich (Subjektivierung statt Objektivierung).

Fazit

Die TeilnehmerInnen gratulieren Hans Krah und Martin Hennig zu der überaus gelungenen Tagung, danken allen an der Organisation Beteiligten, insbesondere natürlich Martin Hennig, für den reibungslosen Ablauf und wünschen, dass es die „Spielzeichen“ noch recht lange geben möge.

Für alle, die die Tagung versäumt haben: Wie üblich soll es auch dieses Mal wieder einen Tagungsband gegen, welcher zeitnah im Hülsbusch-Verlag erscheint.

 

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Ascher, Franziska: "Tagungsbericht: Spielzeichen III – Kulturen im Computerspiel / Kulturen des Computerspiels 6.-8. Dezember 2018 Passau". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 10.12.2018, https://paidia.de/tagungsbericht-spielzeichen-3/. [09.12.2024 - 23:55]

Autor*innen:

Franziska Ascher

Dr. Franziska Ascher ist Akademische Rätin für Ältere Deutsche Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal und Mitherausgeberin von PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. Von 2008 – 2014 studierte sie Sprache und Literatur des Mittelalters, Neuere Deutsche Literatur sowie Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte 2020 in der Germanistischen Mediävistik bei Prof. Dr. Michael Waltenberger zum Thema „Erzählen im Imperativ – Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen“. Von 2021 – 2024 hatte sie einen Post-Doc-Stelle an der Universität Innsbruck inne, wo sie die Forschungsgruppe „Game Studies“ mitbegründete und -leitete. Dissertation: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5811-8/erzaehlen-im-imperativ/?c=310000018&number=978-3-8394-5811-2