Eigene Screenshots/Kartenabbildung aus Spenser Starke: Alice is Missing – A Silent Role Playing Game

Nachrichten aus Silent Falls – Hybride Interaktion im stillen Rollenspiel 'Alice is Missing'

30. Dezember 2024
Abstract: Das hybride Rollenspiel 'Alice is Missing – A Silent Roleplaying Game' (2020) zeichnet sich dadurch aus, dass es „stumm“ ist – obwohl die Spielenden an einem Tisch sitzen, kommunizieren sie lediglich über eine Messenger-App. Gesteuert wird das Spiel dabei nicht von einer spielleitenden Instanz, sondern von einem Stapel Karten. Der Beitrag stellt die These auf, dass der daraus resultierenden hybriden Spielerfahrung mehr zugrunde liegt als „nur“ eine Kombination aus physisch und digital. Im Rahmen einer Fallstudie werden die Komponenten des Spiels verortet und die aus ihrer Hybridität resultierenden Handlungsräume analysiert. [EN] The hybrid role-playing game 'Alice is Missing' (2020) stands out because it is "silent" – players communicate only through a messenger app, even though they are sitting at the same table. Instead of being overseen by a game master, the game's plot is guided by a set of cards. This article argues that the unique hybrid gaming experience it offers is more than just a mix of physical and digital elements. It conducts a case study to relocate the game's components and analyze the resulting action spaces.

Einleitung

Im hybriden Rollenspiel Alice is Missing – A Silent Role Playing Game (2020) übernehmen bis zu fünf Spielende die Rollen von Schüler*innen der Stadt Silent Falls. Wie der Name bereits vermuten lässt, setzt das Narrativ des Spiel mit dem Verschwinden eines Mädchens namens Alice Briarwood an, welche ebenfalls Schülerin in Silent Falls ist. Die anschließende Suche nach Alice wird von den Spieler*innen in der 90-minütigen Rollenspielphase ausgespielt, angetrieben von diversen ihnen zugewiesenen Motiven und den Beziehungen, die sie zu Alice haben. Der narrative Fortgang der Geschichte wird dabei durch ein Kartendeck gesteuert, welches die Geschehnisse und neuen Erkenntnisse rund um das Verschwinden mit zuvor narrativ eingebetteten Orten und Verdächtigen verknüpft. Besonders ist, dass die Rollenspielzeit komplett still abläuft: Jegliche Kommunikation wird während dieses Spielvollzugs in den digitalen Raum verlagert, indem die Spielenden über eine Messenger-App ihrer Wahl in Gruppen- und Einzelchats miteinander interagieren – während sie weiterhin am selben Tisch sitzen. Die offensichtliche Hybridität in Alice is Missing zeichnet sich entsprechend durch die Gleichzeitigkeit von physischen Spielmaterialien sowie potenziell einer körperlichen Anwesenheit1 und der Verschiebung der Interaktion in den digitalen Raum aus. Jedoch führt nicht nur die Physisch-Digital-Hybridität zu einer Verschiebung des Rollenspiels in Alice is Missing – auch die Steuerung durch die Karten bringt ein hybrides Spannungsfeld ein. Ziel dieses Artikels ist es, diese hybriden Spannungsfelder mit Ville Kankainen et al. als Blends zu begreifen.2 Innerhalb der dreigliedrigen Fallstudie soll herausgestellt werden, inwieweit diese Blends die Steuerung, Interaktion und Wissensorganisation in Alice is Missing beeinflussen und so das einzigartige Rollenspielerlebnis formen, das Alice is Missing zugrunde liegt.

Hybridität in Alice is Missing

Während das Phänomen der Hybridität in der Rollenspielforschung bis dato eher weniger Aufmerksamkeit erhalten hat,3 beschäftigen sich die Board Game Studies gleichermaßen wie die digitalen Game Studies bereits seit einigen Jahren damit.4 Rogerson et al. folgend bezeichnet der Begriff der Hybrid Digital Boardgames Spiele, denen die Hybridität inhärent ist, d.h. die nicht „nur“ adaptiert oder augmentiert wurden.5 Dabei liegt der Fokus auf „smarten“ Geräten wie Smartphones oder Tablets, die die Spiele durch ihre diversen Anwendungsmöglichkeiten formen. Während diese Definition die offensichtliche Hybridität von Alice is Missing einfängt, bleiben bei ihrer alleinigen Nutzung blinde Flecke in der Analyse ebendieser Hybridität. Durch die Darstellung von Hybridität als Kombination aus digital und physisch werden die verschiedenen physischen Elemente auf eine gemeinsame logische Ebene gestellt, wenngleich diese jeweils unterschiedliche Implikationen mitbringen und sich gegenseitig, ebenso wie die digitalen Artefakte, bereichern. Basierend darauf soll mit Ville Kankainen, Jonne Arjoranta und Timo Nummenmaa argumentiert werden, dass Alice is Missing mehrere Formen der Hybridität zugrunde liegen, die sich zum Teil auch auf dem rein physischen Spektrum bewegen.

Kankainen et al. stellen heraus, dass der Fokus auf smarte Geräte Lücken in der Betrachtung lässt – insbesondere mit Blick auf frühere Hybride wie z.B. DVD-Spiele6 bzw. Spiele, die mit nicht-digitaler Elektronik7 hybridisiert wurden. Durch die Bedeutungsherrschaft des Begriffes werden entsprechend Hybride in- bzw. exkludiert. Besonders deutlich wird dies mit Blick auf Videospiele: So wird die Steuerung mit einem typischen physischen Controller im akademischen Diskurs nicht als hybrid angesehen, während die Steuerung von Rocksmith (2011) mit einer Gitarre als hybrid dargestellt wird.8 Basierend darauf schlagen Kankainen et al. vor, hybride Spiele nicht nur über die Technologie ihrer Komponenten, sondern die Erfahrungen, die sie ermöglichen, zu definieren.9 Diese Definition ist insbesondere für hybride Rollenspiele sinnig, da sich Rollenspiele als Erfahrungsräume greifen lassen, die sich durch ihr Gefüge von Akteur*innen konstituieren.10

Kankainen et al. beziehen sich für diese Definition auf Fauconniers und Turners Conceptual Blending, welches ursprünglich die Zusammensetzung von Worten in der Grammatik untersucht: „In blending, structure from two input spaces is projected to a separate space, the ‘blend’. The blend inherits partial structure from the input spaces, and has emergent structure of its own.“11 Hybride Spiele lassen sich als Blends aus zwei oder mehr unterschiedlichen Quelldomänen („source domains“) begreifen, die beide in Bezug zu Spiel stehen.12 Der Hybrid hat Eigenschaften beider Quellen, aus denen er emergiert („generic space“) sowie Eigenschaften, die durch die Hybridisierung selbst entstehen und sich keiner der Quellen konkret zuschreiben lassen. Indem die Blends charakterisiert und die Quelldomänen bestimmt werden, lässt sich die daraus resultierenden Erfahrung greifbar machen.13

Abbildung 1: Quellendomänen in Alice is Missing (eigene Abbildung)

Alice is Missing liegen drei zentrale Blends zugrunde, die sich aus Kombinationen der in Abbildung 1 aufgeführten Quelldomänen ergeben. Die Reihenfolge, in der die Blends im Folgenden besprochen werden sollen, ergibt sich aus der Chronologie des Spielverlaufs.

Rollenspiel und Karten

Abbildung 2: Blend Rollenspiel und Karten (eigene Abbildung, basierend auf Kankainen et al.: Games as Blends. 2017)

Das Spiel startet mit einer ca. 45-minütigen Vorbereitungsphase, die ausschließlich im physischen Raum angesiedelt ist. Die Spielenden erhalten zu Spielbeginn diverse Kartentypen, auf denen kleinere Inputs (Charakterbeschreibungen, Geheimnisse, Beziehungen und Handlungsmotive) gegeben werden. Aufgabe der Spielenden ist es, diese Inputs mit Inhalten zu füllen – d.h. die Charakterbeschreibungen auszuarbeiten, mit den zugehörigen Geheimnissen zu verknüpfen und vordefinierte Beziehungen zu den anderen Charakteren zu verteilen. Diese Phase wird vom „Facilitator“ angeleitet – diese Person wird vom Spiel explizit nicht als Spielleiter*in benannt,14 da sie im Spielvollzug ebenfalls eine der Rollen annimmt und das Spiel auf derselben Ebene wie die anderen Spielenden erlebt.15 Die dabei genutzten Mechanismen jenseits der Karten sind eng mit Rollenspiellogiken verwoben: So wird die Kontextualisierung des Charakters auf einem Charakterbogen eingetragen, der jedoch nicht nur die eigene Rolle beherbergt, sondern auch die der anderen Spieler*innen. Zuletzt werden fünf potenzielle Aufenthaltsorte und fünf Verdächtige in die Welt eingebettet, erneut inspiriert von kurzen Karteninputs. Hier wird weniger der Bezug zum eigenen Charakter als vielmehr jener zur Figur Alice ausgehandelt. Die Vorbereitungsphase dient entsprechend dazu, die Welt zu gestalten, in der sich das Narrativ später entfalten wird und ähnelt stark der Charaktererstellung im Rollenspiel.

Abbildung 3: Karten der Vorbereitungsphase (Kartenabbildungen aus Spenser Starke: Alice is Missing – A Silent Role Playing Game. PDF-Version. USA: Hunters Entertainment 2020.)

Vor Beginn der Hauptspielphase wird in einem einleitenden Text die Prämisse des Spiels verdeutlicht: Die Schülerin Alice ist verschwunden. Ab diesem Zeitpunkt wird jegliche Kommunikation auf die Messenger-App verlagert – in dieser können die Spielenden in der Rolle ihrer Figur frei in Einzelchats sowie einem Gruppenchat kommunizieren.16 Warum die Figuren nur über den digitalen Raum kommunizieren können, wird durch das Spiel nie eindeutig gerahmt. Aus dem Narrativ ergibt sich jedoch die Implikation, dass sich die Figuren aufgeteilt haben, um nach Alice zu suchen. Der Spielvollzug wird durch ein Kartendeck gesteuert, das den Spielenden Rollenspielanweisungen gibt und das Narrativ vorantreibt.17 In einer Zeitspanne von 90 Minuten werden insgesamt elf Karten aufgedeckt, die den Spielenden zuvor zugeteilt wurden. Das Aufdecken der Karten wird durch einen digitalen Timer18 gesteuert, auf den die Kartenrückseiten verweisen (vgl. Abb. 4): So wird die erste Karte zu Spielbeginn umgedreht, die zweite bei einer Restzeit von 80 Minuten, die dritte bei 70 Minuten etc. Jeder Kartentyp ist im Spiel in dreifacher Ausführung enthalten, wobei die Inhalte zwischen den drei Karten jeweils variieren.

Abbildung 4: Karten der Hauptspielphase (Kartenabbildungen aus Spenser Starke: Alice is Missing – A Silent Role Playing Game. PDF-Version. USA: Hunters Entertainment 2020.)

Die Karten bestehen aus zwei Abschnitten: der Handlung, die die Figur im Narrativ vollzieht, und einer Anweisung, wie diese Handlung im Gruppenchat kommuniziert werden soll. Die vollzogenen Handlungen variieren von kurzen Szenarien („You remember Alice finding out about something dark in this person‘s past“19 bis hin zu langwierigen Aktionen („You went to the police with a lead, but they ignored you“20 und beziehen sich auf die in der Vorbereitung kontextualisierten Schauplatz- oder Verdächtigen-Karten. Der Input dazu, wie diese Handlung kommuniziert werden soll, ist stets als Frage formuliert (vgl. Abb. 4). Die Spielenden haben entsprechend die Freiheit, die Information ins fließende Rollenspiel einzubauen und die zugehörige Vermittlung auf ihre Rolle zuzuschneiden.

Die Vermischung der Quelldomänen Rollenspiel und Karten erinnert auf den ersten Blick an jene, die gesteuerten Erzählspielen wie Fiasko (2022) oder auch den Storycubes (seit 2004) zugrunde liegt: Ein endlich belegter Randomisierungsmechanismus gibt narrative Inputs, die eine Geschichte vorantreiben. Die Integration dieser Inputs in die Geschichte obliegt den Spielenden, die so nach und nach eine stringente Geschichte erzählen. Und genau darin liegt der Unterschied zum Blend in Alice is Missing: In der Vorbereitungsphase erzählen die Spielenden noch kein Narrativ – vielmehr besetzen sie das Universum, in dem sich die spätere Geschichte entfalten wird. In der Hauptspielphase besteht das Handeln der Spielenden dann wiederum nicht darin, die Geschichte zu erzählen. Dies wird von den Karten übernommen, die über die Handlungen der jeweiligen Figuren berichten. Die Spielenden berichten lediglich innerhalb ihres Rollenspiels über diese Handlungen ihrer Rollen, wodurch sie das Narrativ nicht aktiv beeinflussen, sondern nur Kontexte liefern. Damit unterschiedet sich Alice is Missing ebenso vom typischen Rollenspiel: Neben den direkten Kommunikationen zwischen den Figuren gibt es hier Metakommunikationen zwischen den Spielenden, die Handlungen der Figuren anstoßen und typischerweise durch Würfelwürfe ausgehandelt werden. Das Handeln der Spielenden in Alice is Missing beschränkt sich auf die direkte Kommunikation. In dieser werden jene Handlungen, die den Figuren vom Spiel zugeschrieben werden zwar ausgehandelt – jedoch können die Spielenden selbst keine Handlungen im Narrativ initiieren.21

Die Kombination von Karten und Rollenspiel führt zu einer anderen Auslegung der Rollenspielhandlungen in Alice is Missing: Direkte Aktionen, d.h. ein direktes Handeln im Narrativ, wird zu affektiven Reaktionen verschoben (vgl. Abb. 2). Die Karten befeuern und lenken diese Kette an Reaktionen. Aus den Reaktionen formen sich schließlich Gespräche in den Einzel- und Gruppenchats, die durch die vorher definierten Geheimnisse und Handlungsmotive angetrieben werden. Damit nehmen die Spieler*innen eine fast beobachtende Position ein: Der Fokus des Rollenspiels liegt auf der Aushandlung des Geschehens zwischen den Aktionen, nicht auf deren Umsetzung.

Karten und Smartphone

Abbildung 5: Blend Karten und Smartphone (eigene Abbildung, basierend auf Kankainen et al.: Games as Blends. 2017)

Das Rollenspiel in Alice is Missing reduziert sich damit auf die reine Kommunikation zwischen den Figuren und legt einen klaren Fokus auf ihre Beziehungen. Der Blend zwischen Karten und Smartphone ermöglicht diese Art des Rollenspiels aufgrund seiner Möglichkeit zur affektiven Kommunikation, die auf der mit den Quellen einhergehenden räumlichen Trennung basiert (vgl. Abb. 5): Dabei markiert der Tisch die organisatorische Ebene des Spiels, auf der durch die Karten die Steuerung des Spiels stattfindet. Das Smartphone markiert den Rahmen des Rollenspiels; der digitale Raum bzw. konkreter die Chats werden zur (Rollen)Spielfläche erhoben. In dieser sind die Spielenden Figuren mit den jeweiligen Vorannahmen, Handlungsmotiven und Geheimnissen. Ihre Smartphones erhalten die Modulation22 eines Artefaktes, das ihren Figuren gehört – es bildet so gesehen das Tor zur fiktiven Welt.23

Dem Interface Game24 wohnt ein ähnlicher Blend inne: Das Smartphone wird hier zum affektiven Artefakt erhoben, das einen intimen Einblick in die Welt eines (von den Spielenden abgekoppelten) Charakters ermöglicht. Diese Setzung hat nach Waszkiewicz zwei Konsequenzen: Die Aufmerksamkeit der Spielenden wird neu gerahmt, indem sie mit einem Alltagsmedium interagieren, das diesen Alltag zwar maßgeblich rahmt, in ihm aber eher eine passive Funktion einnimmt. Zudem wird die intime Beziehung, die die Spielenden zu diesem Alltagsmedium haben, auf das Spielnarrativ übertragen.25 In Alice is Missing wird diese Intimität noch verstärkt, indem das Smartphone selbst einen Schutzraum für das Rollenspiel bietet. Dabei bringt die Messenger-App eigene Gesprächskonventionen mit sich, die das Ausspielen von Affordanzen positiv beeinflussen: So können Emotionen durch Emotes, GIFs oder Reaktionen ausgedrückt werden (vgl. Abb. 6), ohne dass ein körperliches oder verbales Ausspielen der Emotionen in der Runde stattfinden muss.

Abbildung 6: Affektive Reaktionen im Spielvollzug (eigener Screenshot, anonymisiert)

Durch die asymmetrische Kommunikation sind längere Antwortzeiten oder sogar das Auslassen von Antworten möglich, ohne dass der Spielfluss unterbrochen wird. Während der Fokus im analogen Rollenspiel meist auf einer agierenden Figur liegt, ist das Gespräch in der Messenger-App nullfokalisiert. Nachrichten können parallel gesendet werden und werden vom Gerät linear sortiert, sodass Unterbrechungen unwahrscheinlich sind. Entsprechend kann die durch die Karten hervorgerufene, affektive Dynamik des Spiels ausgetragen werden, ohne dass soziale Konventionen gestört und das Rollenspiel der Mitspieler*innen negativ beeinflusst wird. Aufgrund der Gleichzeitigkeit von physischem Spielbegegnungsrahmen und digitalem Spielrahmen überträgt sich die Dynamik auch in den physischen Raum, indem die Affekte ebenso störungsfrei durch Laute (Seufzen, Lachen etc.) oder Handlungen (Zusammenzucken etc.) ausgehandelt werden können.

Der intime Schutzraum des Smartphones wird durch die Möglichkeit zu Einzelchats noch verstärkt. Wenngleich sich in diesen 1:1-Kommunikationen immer wieder Vorannahmen über die Welt etablieren, die anderen 1:1-Gesprächen narrativ gegenüberstehen,26 kann diese „Missfunktion“ auf die Medialität des Smartphones verlagert werden – denn es lässt sich narrativ verargumentieren, dass Missverständnisse in der Smartphone-Kommunikation deutlich wahrscheinlicher sind als im direkten Gespräch.

Smartphone und Rollenspiel

Abbildung 7: Blend Smartphone und Rollenspiel (eigene Abbildung, basierend auf Kankainen et al.: Games as Blends. 2017)

Obwohl die Spielenden nicht unmittelbar im Narrativ handeln, vermittelt Alice is Missing ein hohes Selbstwirksamkeitsgefühl. Die Tragweite dessen wird besonders zum Ende des Spiels evident und lässt sich auf den Blend aus Smartphone und Rollenspiel zurückführen (vgl. Abb. 7). Vor Beginn des Spielvollzugs werden die Spielenden aufgefordert, eine Sprachnachricht an Alice aufzunehmen. Diese basiert auf einer simplen Anweisung, z.B. der Vorfreude auf ein zukünftiges fiktives Treffen, das nicht weiter vom Spiel definiert wird. Die Sprachnachrichten werden basierend auf dem bis zu diesem Zeitpunkt etablierten Weltwissen aufgezeichnet – erfahrungsgemäß gestalten sie sich entsprechend flach und inhaltsleer. Zu Spielbeginn dient die Sprachnachricht als Schwelle, die den Übergang von Vorbereitungsphase zu Spielvollzug ebenso wie von physischem zu digitalem Raum überbrückt. Diese hilft den Spielenden, einfacher in die Rolle zu finden und die neue Kommunikationssituation besser anzunehmen.27 Nach Ende des Spielvollzugs werden die Spielenden erneut mit ihren Sprachnachrichten konfrontiert. An dieser Stelle nimmt die Sprachnachricht eine deutlich relevantere Position ein: Denn im Spielverlauf wird die lückenhafte Sprachnachricht mit Bedeutungen aufgeladen – so bekommen die lückenfüllenden Verweise plötzlich Sinn zugewiesen, der sich aus der Spielerfahrung ergeben hat. Die Floskel „Wir sehen uns dann später!“ erhält beispielsweise eine klar negative Konnotation, sofern Alice die Geschichte nicht überlebt28 und die Bedeutung der Aussage „Später werden wir eine Menge Spaß haben“ wird durch die Etablierung eines Drogennarrativs im Spielverlauf mit Bedeutung gefüllt.

Die Sprachnachrichten werden affektiv aufgeladen, indem ihre Lücken als Archiv für die gesammelten Erfahrungen des Spielvollzugs dienen. Dabei verweisen sie immer auf eine nonexistente Vergangenheit oder Zukunft, die aus dem Spielvollzug heraus imaginiert wird. Die Nachrichten verdeutlichen damit die inhaltliche (durch Karten evozierte) und emotionale (durch Rollenspiel evozierte) Transformation des Spielvollzugs, wodurch sich ein Gefühl von Selbstwirksamkeit bei den Spielenden einstellt. Zusätzlich zu dieser performanten Rückkopplung archiviert das Smartphone den gesamten Rollenspielkomplex in schriftlicher Form. Dadurch wird die Selbstwirksamkeit nicht nur erlebt, sondern zusätzlich evident.

Alice is Missing als hybrides Gefüge

Alice is Missing vereint physische und digitale Blends, die in ihrem Zusammenspiel eine neue Rollenspielerfahrung schaffen. Diese zeichnet sich vorrangig dadurch aus, dass der Fokus des Rollenspiels auf der Kommunikation zwischen den Figuren liegt: Jegliche Handlungen der Figuren im Narrativ werden von den Spielkarten vorgegeben, wodurch sich das Rollenspiel auf die affektiven Reaktionen und die daraus resultierenden Gespräche fokussiert. Jene Metakommunikation, die in vielen Rollenspielsystemen das Handeln jenseits des direkten Gespräches koordiniert, wird in Alice is Missing auf das Kartendeck ausgelagert. Das heißt einerseits, dass Handlungen nicht fehlschlagen können, sowie andererseits, dass jenseits der Kommunikation der Figuren kein aktives Handeln im Narrativ möglich ist. Das Smartphone als Träger der Kommunikation ermöglicht dieses affektive Rollenspiel durch seine Medialität und die damit verknüpften Gesprächskonventionen. Wenngleich die Unfähigkeit zu aktiven Handlungen auf den ersten Blick gegen ein Selbstwirksamkeitsgefühl der Spielenden spricht, wird dieses maßgeblich von den Sprachnachrichten hervorgebracht. Als einzige nicht-stumme Rollenspielhandlung ebnen sie den Einstieg in den Spielvollzug und verdeutlichen mit ihrem Rückbezug auf die emotionale und inhaltliche Entwicklung des Narrativs und der Figuren die Selbstwirksamkeit der Spielenden.

Alice is Missing verschiebt die Konventionen des klassischen Rollenspiels durch seine Hybridität, indem es die Spielenden in eine eher beobachtende Position rückt, aus der heraus sie sich auf ein kondensiertes Rollenspiel konzentrieren können. In diesem liegt der Fokus auf der affektiven Kommunikation und den Beziehungen zwischen den Figuren. Diese Fokussierung findet jedoch eben nicht nur durch die Kombination aus physischen und digitalen Elementen, sondern auch durch jene aus verschiedenen Spiellogiken statt, die insgesamt als komplexes hybrides Gefüge fungieren. Auch wenn es damit eher als experimenteller Vorreiter begriffen werden kann, verdeutlich Alice is Missing die Potenziale, die sich hinter der Hybridisierung des klassischen Rollenspiels verstecken – und zwar unabhängig ihrer Medialität.

 

Medienverzeichnis

Spiele

Accidental Queens: A Normal Lost Phone (iOS). Frankreich: Playdius/Plug In Digital 2017.

Avery Alder: The Quiet Year. Kanada: Buried Without Ceremony 2013.

Sam Barlow: Her Story. USA: Sam Barlow 2015.

Evan Derrick: Detective. City of Angels. USA: Pegasus 2021.

FPR: Lichtra. Deutschland: FPR 1910.

Gamewright/The Creativity Hub: Story Cubes. USA: Gamewright/The Creativity Hub seit 2004.

Gary Grady, Suzanne Goldberg, Raysmond Edwards: Sherlock Holmes. Beratender Detektiv. USA: Space Cowboy 2020.

Jason Morningstar: Fiasko. USA: ProIndie 2020.

Ben Robbins: Microscope. USA: Lame Mage Productions 2011.

Screenlife Games: Scene It? USA: Screenlife Games 2003.

Spenser Starke: Alice is Missing – A Silent Role Playing Game. USA: Hunters Entertainment 2020.

Ubisoft San Francisco: Rocksmith. USA: Ubisoft 2012.

Texte

Ackermann, Judith: Spielende postdigitale Körper. Potentiale ortsbasierten Mobilspiels für die Reflexion von MenschTechnik-Hybriden. In: Navigationen – Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften. SPIEL|MATERIAL, Jg. 20, Heft 1. S. 53–69. 2020.

Bienia, Rafael: Role Playing Materials. Braunschweig: Zauberfeder 2016.

Braun, Laijana; Nohr, Rolf; Treske, Eric: Interaction for Participation – The Hybrid Threshold Experience as a Participatory Transformation Process in the Citizen Participation Game. In: Becu, N. (Hrsg.): Simulation and Gaming for Social and Environmental Transitions. Proceedings of ISAGA 2023 Conference. La Rochelle University. S. 88–94. 2023.

De Boer, Clim J.; Lamers, Maarten H.: Electronic Augmentation of Traditional Board Games. In: International Conference on Entertainment Computing. Heft 3166. S. 441–444. 2004.

Devendorf, Laura; Rosner, Daniela K.: Beyond Hybrids: Metaphors and Margins in Design. In: Mival, Oli; Smyth, Michael; Dalsgaard, Peter (Hrsg): Proceedings of the 2017 Conference on Designing Interactive Systems. New York: Association for Computing Machinery. S. 995–1000. 2017.

Fauconnier, Gilles;, Turner, Mark: Blending as a Central Process of Grammar. In: Goldberg, Adele (Hrsg.): Conceptual Structure, Discourse and Language. Cambridge: Cambridge University Press. S. 113–130. 1996.

Fine, Gary Alan: Shared Fantasy. Role-Playing Games as Social Worlds. Chicago & London: The University of Chicago Press 1983.

Juul, Jesper: The Game, the Player, the World: Looking for a Heart of Gameness. In: Level Up: Digital Games Research Conference Proceedings. S. 30–45. 2003.

Kankainen, Ville; Arjoranta, Jonne; Nummenmaa, Timo: Games as Blends: Understanding Hybrid Games. In: Journal of Virtual Reality and Broadcasting. Jg. 14, Heft 4. S. 1–19. 2017.

Kankainen, Ville; Paavilainen, Janne: Hybrid Board Game Design Guidelines. In: Proceedings of the 2019 DiGRA International Conference: Game, Play and the Emerging Ludo-Mix (DiGRA '19). Kyoto: DiGRA. 2019.

Maurer, Bernhard; Fuchsberger, Verena: Dislocated Boardgames: Design Potentials for Remote Tangible Play. In: Multimodal Technologies and Interaction, Jg. 3, Heft 4. 2019.

Rogerson, Melissa; Sparrow, Lucy; Gibbs, Martin: More Than a Gimmick – Digital Tools for Boardgame Play. In: Proceedings of the ACM on Human-Computer Interaction. Jg. 5, Heft CHI PLAY, Artikel No. 261. 2021b.

Rogerson, Melissa; Sparrow, Lucy; Gibbs, Martin: Unpacking “Boardgames with Apps”: The Hybrid Digital Boardgame Model. In: Proceedings of the CHI Conference on Human Factors in Computing Systems (CHI ’21), Artikel No. 111. 2021a.

Starke, Spencer: Alice is Missing – A Silent Roleplaying Game. Rulebook. 2020.

Waszkiewicz, Agata: Narrative Selfies and Player–Character Intimacy in Interface Games. Eludamos. Vol. 14, No. 1. S. 99–123. 2023.

Titelbild

Eigene Screenshots/Kartenabbildung aus Spenser Starke: Alice is Missing – A Silent Role Playing Game. PDF-Version. USA: Hunters Entertainment 2020.

 

  1. Das Spiel gibt die Möglichkeit einer rein digitalen Spielumsetzung vor. Da sich die Computation (Juul: The Game, the Player, the World. 2003) durch diese Übersetzung jedoch nicht verschiebt und die Umsetzung entsprechend eher eine Adaption darstellt, wird das Format in diesem Artikel nicht tiefergehend thematisiert.[]
  2. Kankainen et al.: Games as Blends. 2017.[]
  3. Vgl. z.B. Bienia: Role Playing Materials. 2016.[]
  4. Vgl. z.B. de Boer et al.: Electronic Augmentation of Traditional Board Games. 2004; Devendorf et al.: Beyond Hybrids. 2017; Kankainen et al.: Hybrid Board Game Design Guidelines. 2019; Maurer et al.: Dislocated Boardgames. 2019; Ackermann: Spielende postdigitale Körper. 2020; Rogerson et al.: Unpacking “Boardgames with Apps”. 2021a; Rogerson et al.: More than a Gimmick. 2021b.[]
  5. Vgl. Rogerson et al.: Unpacking “Boardgames with Apps”. 2021a, S. 1.[]
  6. Z.B. Scene It? 2003.[]
  7. Z.B. Lichtra. 1910.[]
  8. Kankainen at al.: Games as Blends. 2017, S. 3.[]
  9. Vgl. Kankainen et al.: Games as Blends. 2017., S. 2.[]
  10. Vgl. Bienia: Role Playing Materials. 2016, S. 42.[]
  11. Fauconnier & Turner: Blending as a Central Process of Grammar. 1996, S.113.[]
  12. Vgl. Kankainen et al.: Games as Blends. 2017, S. 6.[]
  13. Vgl. Kankainen et al.: Games as Blends. 2017, S. 6.[]
  14. Vgl. Starke: Alice is Missing – A Silent Roleplaying Game. Rulebook. 2020, S. 24.[]
  15. Diverse Erzähl- und Rollenspiele sowie erzählerische Gesellschaftsspiele nutzen die Mechanik eines „Facilitators“, um die Steuerung des Narrativs zu unterstützen, aber eben nicht komplett auf eine spielleitende Instanz auszulagern. Das Ausmaß der Verantwortung des Facilitators wechselt dabei von einer rundenbasierten Entscheidungsmacht (z. B. Microscope (2011); Sherlock Holmes – Beratender Detektiv (2020) ) bis hin zur Verantwortung darüber, die Regeln des Spiels zu erlernen, sie den Spielenden beizubringen und ihre Einhaltung zu überwachen (z. B. The Quiet Year (2013), Detective – City of Angels (2020) ). []
  16. Die Anleitung etabliert die Möglichkeit einer Meta-Kommunikation im Chat. Diese kann durch eckige Klammern angezeigt und zu organisatorischen Zwecken genutzt werden. In den physisch gespielten Analyserunden wurde diese Möglichkeit jedoch kein einziges Mal genutzt – stattdessen wurde nonverbale Kommunikation in Form von Gesten angewandt, um in relevanten Momenten das Spiel zu organisieren, ohne die Gruppe zu stören. Neben der Option, gemeinsam am Tisch zu Spielen, etabliert das Spiel auch eine rein digitale Spieloption per Videochat. Im rein digitalen Spiel wird die Option der Metakommunikation relevant, da in diesem andere nonverbale Kommunikationsformen nur erschwert möglich sind. Dies wird besonders in der Nutzung der sog. X-Karte greifbar: Im Spielvollzug am Tisch wird diese durch eine physische Karte repräsentiert, die die Spielenden ausspielen können, sollten sie sich mit Interaktionen oder narrativen Geschehnissen unwohl fühlen. Im rein digitalen Spiel wird diese dadurch ersetzt, dass ein X in den Chat gepostet wird, da das Ausspielen (bzw. in die Kamera halten) einer physischen Karte übersehen werden könnte. []
  17. Vor Beginn des 90-minütigen Spielvollzugs werden die Spielenden aufgefordert, basierend auf einer Handlungsvorgabe eine Sprachnachricht an Alice zu formulieren und diese mit dem eigenen Smartphone in einem gesonderten Chat aufzuzeichnen. Auf diese Mechanik wird im Folgenden noch genauer eingegangen.[]
  18. Der von Hunters Entertainment bereitgestellte Timer ist gleichzeitig eine Playlist, wodurch zu jedem Zeitpunkt des Spiels passende Musik eingespielt wird, ohne dass diese aktiv von den Spielenden gesteuert werden muss. Er lässt sich über folgenden Link abrufen: https://www.youtube.com/watch?v=ysOOFIOAy7A .[]
  19. Karte 80a, Spenser Starke: Alice is Missing – A Silent Role Playing Game. USA: Hunters Entertainment 2020.) []
  20. Karte 80b, Spenser Starke: Alice is Missing – A Silent Role Playing Game. USA: Hunters Entertainment 2020.) []
  21. Sofern die Interaktionen im Chat zwischen den Karten nur schleppend verlaufen, können die Spieler*innen Karten ziehen, um neue Handlungen ins Spiel zu bringen: Auch hier werden jedoch nur Handlungen berichtet, auf die die Spielenden dann wieder reagieren können.[]
  22. Vgl. Fine: Shared Fantasy. 1983, S. 186.[]
  23. Die Etablierung der fiktiven Welt innerhalb des Smartphones wird vor Spielbeginn entsprechend geebnet – so sind die Spielenden angehalten, die Namen ihrer Mitspieler*innen in der Messenger-App in die Namen der von ihnen verkörperten Figuren zu ändern.[]
  24. Der Begriff Interface Game beschreibt dabei ein Spielgenre, dessen Narrativ innerhalb eines simulierten, realweltlichen Interfaces stattfindet. Zum Großteil handelt es sich dabei um Smartphone- (vgl. z.B. A Normal Lost Phone (2017) ) oder PC-Interfaces (vgl. z.B. Her Story (2015) ).[]
  25. Waszkiewicz: Narrative Selfies and Player–Character Intimacy in Interface Games. 2023, S. 103.[]
  26. Vgl. Starke: Alice is Missing – A Silent Roleplaying Game. Rulebook. 2020, S. 42 f. []
  27. Vgl. Braun et al.: Interaction for Participation. 2023, S. 90 f. []
  28. Alice wird in jedem Fall zum Spielende gefunden, jedoch ändert sich ihr Zustand zwischen den Kartensets enorm. So kann sie gefunden werden, während sie sich noch in Gefahr befindet oder bereits bewusstlos ist – oder aber es wird lediglich ihr lebloser Körper gefunden. []

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Braun, Laijana: "Nachrichten aus Silent Falls – Hybride Interaktion im stillen Rollenspiel 'Alice is Missing'". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 30.12.2024, https://paidia.de/hybride-interaktion-in-alice-is-missing/. [04.01.2025 - 22:46]

Autor*innen:

Laijana Braun

Laijana Braun (M.A.) arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Medienwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. In Ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit den Transformationsprozessen hybrider Schnittstellen am Beispiel von Spielumsetzungen. Ihre Forschungsinteressen umfassen analoge und digitale Game Studies, Gender Studies sowie die Auseinandersetzung mit Internetkulturen. [EN] Laijana Braun (she/her), M.A., is a Ph.D. candidate and research assistant at the Institute for Media Studies at the Braunschweig University of Art. Her dissertation focuses on the transformation processes of hybridity through the example of game conversions. Her research interests include analog and digital game studies, gender studies, and the analysis of internet cultures.