Ethos, Charakter und Selbstbezüglichkeit in The Walking Dead - Eine Analyse der Persönlichkeits­entwicklung des Charakters Clementine und seinen Reflexivitäten mit dem Ethos der SpielerInnen

22. März 2017
Abstract: Bei Telltale Games‘ The Walking Dead werden die SpielerInnen im Verlauf der Serie vor immer schwierigere Gewissensfragen gestellt. Der Charakter Clementine kann sich zu einem ethischen Spiritus Rector entwickeln, oder eine verbitterte, junge Frau werden. Die zeichenbasierte Kommunikation zwischen fiktiven und realen (spielenden) Personen, die sich durch das Fällen von Ent­scheidungen und Rezeption von Antworten präsentiert, steht dabei in einem Reflexions­verhältnis, dessen Stabilität oder Instabilität auf seiner Rückkopplungsbeziehung zwischen menschlicher und maschineller Ethik fußt. Vor diesem Hinter­grund werden in folgendem Artikel die Ver­flechtungen der Ge­sinnungen von Avataren, NPCs und SpielerInnen analysiert und die Konsequenzen ihrer Interaktionen ausgearbeitet.

Clementines Weg – Serie, Entwicklung, Vermittlung

„Die Serie zelebriert die Teile, sie löst das Ganze und seine Ab­ge­schlossen­heit, die Einheit, die es darstellt, auf. Sie zelebriert ihr eigenes Treiben, sie ist ihr eigenes Treiben. [...] In dieser Zerlegung des Ganzen ist sie der Psycho­analyse nicht unähnlich. Auch diese hat ja seriellen Charakter, worauf uns [ein Patient] auch ständig hingewiesen hat, in seinem Sträuben, sich dem hingeben zu müssen“ - schreibt Olaf Knellessen. 1 Eine Serie teilt - nach Knellessens Beschreibung - eine Geschichte in mehrere auf. Sie hat ihre eigene Selbstbezüglichkeit, lebt also gewissermaßen autopoietisch in sich selbst und aus sich selbst heraus, entwickelt ihre Teile auf Basis der vorangegangenen, und hat somit ein gewisses Eigenleben. Knellessen vergleicht Serien („Die Serie“) daher mit der Psycho­analyse, da beide die Eigenschaft haben, dass sich deren Verständnis/Diagnosen ständig weiterentwickeln, weil sie „[...] in der Analyse nicht das Abgeschlossene sind, als das sie häufig ausgegeben werden, sondern Teil eines Prozesses, in dem sie sich ständig wandeln und sogar Sprünge machen können.“ 2 Das Sträuben des von ihm beschriebenen Patienten gleicht der Immersion im Kontext einer Geschichte oder eines Spiels, zumal ein emotionales Involvement in beiden Situationen gegeben sein kann: Während der Patient gar nicht erst „mit­spielen“ will, so sehen sich die Spieler­Innen bei The Walking Dead oftmals dazu gezwungen, unangenehme Entscheidungen zu treffen oder unerfreulichen Situationen beizuwohnen. Dabei haben die Ent­scheidungen, die durch die SpielerInnen in vorangegangenen Episoden getroffen wurden, unter Umständen in späteren Episoden einen maßgeblichen Einfluss.
Vor diesem Hintergrund kann sich eine Analyse der Persönlichkeits­entwicklung einer fiktiven Figur, sei sie Avatar oder NPC, interessant gestalten. Beim Versuch einer solchen Analyse eines Charakters in einer Videospiel-Serie, deren Verhalten hier maßgeblich von den Entscheidungen der SpielerInnen abhängt, stellt sich besonders eine Heraus­forderung: Es ist zu ergründen, wie sich die emotionalen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Avatar konkret entwickeln, und ob aus Immersion denn Evolution (der Persönlichkeiten) folgen könnte. Ist es also möglich, dass die Ein­fühlung in die Persönlich­keit eines Avatars durch dessen Erlebnisse wieder Auswirkungen auf den Menschen hat?
Sympathien oder Antipathien gegenüber erdachten Helden oder Schurken können offenkundig bisweilen ganz reale emotionale Reaktionen hervor­rufen. Günther Anders beschreibt dieses Phänomen anhand von TV-Serien: In seinem Werk Die Antiquiertheit des Menschen I bezeichnet er Serien als „Matrizen“, in welche die Menschen gepresst werden, so dass sie beginnen, Fanbriefe und Geschenke nicht länger an die Darsteller zu adressieren, sondern an deren Charaktere. 3 Gemeint ist, dass sich die ZuschauerInnen aus seiner Sicht in eine „ins Haus geholte fremde Welt“ einpassen, und ihre eigene Persönlichkeit aufgeben, um nicht länger mit der Realität konfrontiert werden zu müssen. Der Mensch, der eine Serie („Show“) sieht, vermeint sich möglicherweise selbst in gewissen Figuren wiederzufinden, und teilt damit auch deren Ansichten und Freund/Feind-Perspektiven. 4 Nach Anders ist die Selbstbezüglichkeit eine Serien inhärente Eigenschaft, nachdem die ZuschauerInnen fiktive Charaktere auf sich selbst beziehen und die Verhaltensweisen der Letzteren sich auf die voran­gegangenen Geschehnisse beruhen. In der Videospiel-Serie The Walking Dead von Telltale Games erhöht sich dieser Selbstbezug der SpielerInnen von einer einfachen Teilnahme an der Handlung zu einer Identifikation mit der Figur, die sie steuern: Sie müssen hier Gewissensentscheidungen treffen, die womöglich einen maßgeblichen Einfluss auf den Spiel­verlauf haben, und können nicht durch überlegene Strategien, Geschicklichkeit oder Stärke „gewinnen“.
In der ersten Staffel steuern die SpielerInnen den Charakter Lee, der in einer von Untoten bevölkerten Welt überleben und seinen Schützling Clementine beschützen will. Gegen Staffelende gilt es, Clementine vor einem unbekannten Mann zu retten, der sie entführt hat. In Abhängigkeit der in früheren Episoden getroffenen Entscheidungen erhalten die Spieler durch die anderen NPCs (Nichtspielercharaktere) mehr oder weniger Unterstützung für dieses Vorhaben. 5
Clementine ist dabei in der ersten Staffel die bedeutendste Neben­figur der Ge­schichte: Sie folgt Lee überall hin, und fügt sich ihm, wie sie es vermutlich gegenüber ihrem Vater täte - je nach dem, welche Entscheidungen die SpielerInnen treffen. In einer Situation, in der Lee gefragt wird, ob er ihr Vater sei, ist ihr Verhalten durch die gewählten Antworten teilweise beeinflussbar: Der Afroamerikaner Lee ist freilich nicht der leibliche Vater der asiatisch-amerikanischen Clementine. 6 Gleichwohl verhält sich die (zu Beginn) Achtjährige meist so, wie es von einem Kind diesen Alters in gefährlichen Situationen zu erwarten wäre: Sie sucht Schutz bei ihrem Protektor.
Gegen Ende der ersten Staffel stellt sich heraus, dass Lee selbst infiziert wurde, und sich bald in eines der Monstren verwandeln wird. Zu dieser Zeit erhalten die SpielerInnen eine gewisse Kontrolle über Clementine, und müssen sich der Frage stellen, ob sie Lee auf dessen Bitte mit der Pistole töten soll (sodass er sich nicht verwandelt), oder ob sie ihn zurücklassen wird. In der zweiten Staffel hat sie sich zu einer emanzipierten, jungen Frau entwickelt (obschon sie in der zweiten Folge lediglich elf Jahre alt ist). Die Spieler­Innen werden im Verlauf der Serie vor immer schwierigere Gewissens­fragen gestellt, da Clementine, körperlich und psychisch traumatisiert, sich deutlich abgehärteter verhält als im ersten Teil 7 Sie kann sich zu einem ethischen Spiritus Rector entwickeln, oder eine verbitterte, junge Frau werden. Wie sie sich verändert, liegt im Wertesystem der Spieler begründet.
In diesem Zusammen­hang ist die Arbeit des norwegischen Lehrers Tobias Staaby besonders zu erwähnen, der The Walking Dead als Mittel zur Diskussion ethischer Fragen verwendet. In seinem Aufsatz The Walking Dead in der Schule - Moralphilosophie nach der Apokalypse 8 beschreibt er eine Reihe von Ansätzen zur Ethikvermittlung anhand dieses Spiels: „Durch den Einsatz des Spiels im Unterricht soll für die Schüler ein anderer Rahmen geschaffen werden, in dem sie lernen, ethische Dilemmata zu diskutieren und moralphilosophische Modelle als Basis für die eigene Argumentation heranzuziehen.“ 9 Als Parallele hierzu wird im Folgenden zu klären sein, inwieweit die Gesinnung eines Menschen und der Figuren im Videospiel überhaupt aufeinander einwirken.

Methode

Frank Kelleter fragt: „Was bedeutet es eigentlich für unsere sozialen Realitäten, wenn die zu ihrer Wahrnehmung verfügbaren Erzählungen zunehmend verkettet und vernetzt, also: seriell organisiert sind?“ 10 Kelleter vermutet, dass gerade durch die Serialität auch heute noch so schwierig erscheinende Begriffe wie „Informationsgesellschaft“, „Medienkonvergenz“, und „Werk vs. Content“ in „neuer historischer Tiefe und systematischer Breite beschreibbar werden, wenn wir ihre Beziehung zu den narrativen, historischen und kulturellen Dynamiken serieller Popularisierung besser begreifen lernen.“ 11 In diesem Text wird versucht, ebendiese Dynamiken am konkreten Beispiel, namentlich anhand der Figur Clementine in The Walking Dead herauszuarbeiten. Ein zentrales Element der Serie besteht darin, dass die Ent­scheidungen und Handlungs­verläufe der vorhergehenden Episoden die zukünftigen Episoden maß­geblich beeinflussen können. Obschon der Verlauf im Allgemeinen eine gewisse Statik besitzt, ist es möglich, dass selbst zunächst belanglos erscheinende Entscheidungen aus der ersten Episode einen beträchtlichen Einfluss auf die fünfte haben können. Zwischen den einzelnen SpielerInnen untereinander wird überdies noch ein Bezug hergestellt, in dem nach dem Ende einer Episode die eigene Entscheidung einzusehen ist, und diese mit denen anderer verglichen wird. Dieses Format wird auch von anderen Videospielen von Telltale Games verwendet, wie etwa The Wolf Among Us (ebenfalls basierend auf einem Comic) oder Batman - The Telltale Series.
Für die in diesem Text versuchten Analysen wird ein kybernetischer Ansatz gewählt, da sie sich auf die Reflexivitäten zwischen Spielern und Charak­teren, etwa in Sinne der ethischen Ausrichtung, beziehen. Die Kybernetik spezialisiert sich auf eine systemtheoretische Perspektive der Betrachtung dynamischer Verhaltens­weisen von komplexen Systemen, den Wechselwirkungen untereinander und mit sich selbst. Sie erscheint daher besonders gut geeignet zu sein, die Zusammenhänge zwischen dem Ethos der Spieler und jenem der Avatare und NPCs zu analysieren. Ein aktuelles Beispiel aus der technik­philosophischen Praxis ist etwa Klaus Erlachs Werk Das Technotop. 12 Erlach beschreibt den Lebensraum des Menschen als „Technotop“, sieht also die Technologie als ein Teil des natürlichen Umfeldes des Menschen, zumal sich - aus seiner Sicht - die Menschen bereits seit ihrer frühesten Geschichte auf technische Konstruktionen verlassen und auch ihre Kulturpraxis davon abhängig gemacht haben. Wenn also die Annahme erlaubt ist, dass somit eine Technologie, und damit auch ein Video­spiel als ein natürlicher Teil des menschlichen Lebens­umfeldes gesehen werden kann, so ist es ebenso zu behandeln.
Obschon die Kybernetik in den Fachgebieten der Geisteswissenschaften heute eine eher untergeordnete Rolle spielt, so ist darin doch ein reicher Fundus an Gedanken zu finden, für den sich diese Argumentation aus­gesprochen gut eignet. Nach ihren Anfängen brachte die Kybernetik als Fachgebiet in der System­theorie einige neue Ansätze mit, die eine Methode der Betrachtung des Menschen aus einer mathematisch-technischen Perspektive ermöglichen. Dabei erhebt sie nicht den Anspruch, den Menschen tatsächlich zu einem „Maschinenwesen“ reduzieren zu können, wie man es vielleicht Julien Offray de La Mettrie in seinem Werk „L’homme machine“ vorwerfen mag. 13 Eines der wegweisenden Werke zu diesem Thema war Karl Steinbuchs Werk „Automat und Mensch“, in dem er schreibt: „[Die] These der Kybernetik [ist:] Es wird angenommen, daß das Lebensgeschehen und die psychischen Vorgänge aus der An­ordnung und physikalischen Wechselwirkung der Teile des Organismus im Prinzip vollständig erklärt werden können.“ 14 Nachdem im Zusammenhang mit der hier versuchten Argumentation ein Wechselwirkungs- und Rück­kopplungs­verhält­nis zwischen dem Menschen und einem technischen System, namentlich dem Videospiel The Walking Dead, beschrieben werden soll, ist eine kybernetische Perspektive zur Beschreibung des Grades der Immersion hilfreich.
Auf der Suche nach einer systemtheoretischen Basis zur Beschreibung der Ethik kam Heinz von Foerster in seinem Werk KybernEthik auf den Gedanken, ganz im kantschen Sinne, dass eine sinnvolle Ethik nur auf der Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung fußen könne. 15 Dieser Gedanke hat für diesen Text eine außerordentlich große Bedeutung. Ausgehend von der hier vorzustellenden These, dass sich die SpielerInnen von der Spielfigur zum Einen distanzieren, da sie vor dem Monitor sitzen, sich aber gleichwohl in sie hineinversetzen müssen, um unerwünschte Spielereignisse zu vermeiden, ist von Foersters Ansatz einer kybernetischen Ethik gut geeignet: Er schreibt: „I am the observed link between myself and observing myself.“ 16 Im Sinne von Foersters kybernetischer Ethik werden die SpielerInnen durch die Beobachtung ihres Avatars und durch die Interaktion mit ihm aus ethischer Sicht selbst zum konstituierenden Element für das Ethos des Avatars - dessen Verhalten allerdings selbst wieder einen maßgeblichen Einfluss auf die Spieler­Innen haben kann. Hier heben sich Spiele wie The Walking Dead deutlich von anderen ab, in denen die Spieler eher „Steuerer“ sind, als Teilnehmer. Britta Neitzel meint hierzu: „So treten Empathie mit dem Protagonisten eines Computerspiels nicht vorrangig während des tatsächlichen Spiels auf, sondern von allem in den ein Spiel rahmenden Aktivitäten wie z.B. Fansites, [...], in denen die Figuren von den Handlungs­zwängen des Spiels frei sind. Auch bieten Spiele die Möglichkeit einer empathischen Involvierung über Non-Player-Characters, die von den SpielerInnen eben nicht gesteuert werden können. Wenn sie leiden, kann der Spieler mitfühlen.“ 17 In diesem Fall trifft Ersteres nicht ganz zu: Das Spiel versucht, bei den Spielern ein emotionales Involvement hervorzurufen, in dem es den Menschen ins Spiel kybernetisch „einkoppelt“. Claus Pias erklärt diese Einkoppelung wie folgt: „Der Spieler erscheint [...] als rückgekoppeltes device oder zweites Programm, [...], das schon gebahnte Verknüpfungen in einer Datenbank nachvollziehen muss [...].“ 18
Der Kunsttheoretiker, Kybernetiker und Philosoph Max Bense schreibt sinngemäß, ein Kunstwerk sei eine in Kommuni­kations­­zusammenhang gebrachte Anordnung von Zeichen. 19 Vor diesem Hintergrund erübrigt sich die Frage, ob denn eine Partitur eines Musikstücks denn ein Kunstwerk sei, wenn sie weder gelesen noch gespielt wird: Eine Partitur stellt - wenn man diese Theorie voraussetzt - ein eigenes (statisches) Kunstwerk dar, während ihre Auf­führung ein anderes bedeutet, nämlich ein dynamisches. Diese Gedanken sind auch hier heranzuziehen, denn wenn ein Videospiel auf seine Grundfundamente bezogen wird - namentlich eine lange Reihe von Zahlen, welche den Code und die Audio- und Videodaten repräsentieren - dann kann auch ein Videospiel aus der Perspektive der Kunst­theorie betrachtet werden. Wenn ein Kunstwerk aus Benses Sicht eine in Kommunikations­zusammenhang gebrachte Anordnung von Zeichen ist, so bietet sich sein kunsttheoretischer, semiotischer Ansatz zur Analyse eines Videospiels wie The Walking Dead an.
Für die hier verwendete Argumentation wird also eine kybernetische Perspektive herangezogen: Je nach Aspekt entweder die philosophisch-kybernetische Sicht­weise eines Bernhard Irrgang oder Klaus Erlach, oder die Ethik eines Heinz von Foerster, die system­theoretische Betrachtungs­weise eines Karl Steinbuch oder, alsbald eine künstlerische Frage sich stellt, die Kunst­theorie des Max Bense.
Die zentrale Figur, die hier diskutiert werden soll, ist die der Clementine in den beiden ersten Staffeln der Videospiel-Serie The Walking Dead. Dennoch müssen zunächst noch einige Fragen der Wahrnehmung und Interaktion, beziehungsweise speziell bezüglich der Interaktivität geklärt werden.
Beim Gedanken an Günther Anders’ „TV-Programm als Menschenprogrammierung“, während dem - aus seiner Perspektive - der Mensch sich zu einem „Hündchen verwandelt, das spazieren geführt wird“ 20, fällt im Vergleich zum Charakter Clementine in The Walking Dead eines auf: Der spielende Mensch, der Homo Ludens, um Johan Huizingas Begriff zu verwenden, 21 ist nicht länger nur ein Konsument, dem „etwas ins Ohr geträufelt wird“. Der Charakter wird auf eigentümliche Weise real, und tritt in steinbuchscher Lesart in Reflexivität mit dem Menschen vor dem Bildschirm. Günther Anders bewertet die „TV-Konsumenten“ negativ, bezeichnet sie als „Massen-Eremiten“ und „Hörige“. Anders sieht dabei die ZuschauerInnen als passive Konsumenten, welche sich „die Welt ins Haus liefern lassen.“ 22 Es ist aber die Frage zu stellen, wie es sich mit inter­aktiven Stücken, Performance-Kunst, und eben Spielen verhält. Erika Fischer-Lichte gibt in ihrer Studie Ästhetik des Performativen 23 auch eine umfassende Auflistung unterschiedlicher Performances, von denen einige interaktiv sind, in denen also die BesucherInnen teilzunehmen eingeladen werden. Besonders die Performances von Marina Abramovic sind hier von Relevanz: Zu nennen sind hier Rhythm 0 (Uraufführung 1974 im Studio Morra, Napoli 24) und Lips of Thomas (Uraufführung 1975 in der Galerie Krinzinger, Insbruck 25). Bei letzterer bringt sich Abramovic in Gefahr, verletzt sich selbst, während die Performance genau dann endet, wenn die Zuschauer einschreiten (was diese nicht wissen). Bei ersterer sitzt sie nackt auf einem Stuhl in einem Raum, in dem sich mehrere Gegenstände befinden (unter Anderem eine Gänsefeder, Alltagsgegenstände, scharfe Messer und eine geladene Pistole), indes die Besucher angehalten sind, zu tun, was sie wollen. Ihnen wird auch gesagt, dass sie tun dürfen, was sie wollen. Aus Max Benses Sicht ist hierin ein Kunstwerk in Form einer klaren Kommunikation von Zeichen zu sehen, gerade weil die Performance sich aus den psychosozialen Verhältnissen, soweit sie sich aus kybernetischer Perspektive beschreiben lassen, zwischen der Künstlerin und den anwesenden Personen selbst entwickelt. Ein in bensescher Lesart nicht unähnliches Kunstwerk ist John Cages Werk 4’33’’, ein Musikstück in drei Akten: Hier setzt sich der Pianist ans Klavier, spielt vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang nichts, und geht dann. Er zeigt aber die Akte durch Öffnen und Schließen des Tasten­deckels an. Aus ethischer Sicht, und als Präambel für die Argumentation in diesem Text, sind diese Kunstwerke wichtig: Im von foersterschen Sinne ist Ethik eine kybernetische Selbst­bezüglichkeit, sodass Abramovics Performance Lips of Thomas die Frage aufwirft: „Greife ich ein, oder gehört das zur Show?“ Bei der Performance Rhythm 0 müssen die Besucher­Innen entscheiden, ob sie nichts tun, oder etwas tun, oder jemand anderen davon abhalten, etwas zu tun. Dieser Effekt ist in The Walking Dead häufig zu beobachten. Bei John Cages’ 4’33’’ ist die Frage selbstevident: „Was soll das?“ Alle diese Kunstwerke stehen aus kybernetischer Sicht im Zusammenhang mit der Frage dieses Textes, denn es ist nicht: „Was würde ich an dessen Stelle tun?“, sondern „Wie entscheide ich selbst?“
Im Gegensatz zu Vertretern anderer Videospiel-Genres bietet das Point-And-Click-Adventure The Walking Dead keine Möglichkeit, entweder mit Geschick und Konzentrations­fähigkeit, oder durch Voraussicht, kluger Planung und Erfahrung zu gewinnen. Das Spiel erfordert es nicht, versteckte Hinweise zu finden oder komplexe Rätsel zu lösen. Vielmehr sehen sich die SpielerInnen mit zahlreichen Gewissensfragen konfrontiert, für deren Beantwortung sie oftmals wenig Zeit gewährt bekommen und deren Antworten langfristig Auswirkungen haben können. Die Charaktergestaltung und -entwicklung ist hierbei von größter Bedeutung: Nahezu alle Figuren in The Walking Dead haben eine ambivalente Persönlichkeit, eine strikte Unterscheidung nach „gut“ und „böse“ wird selten vorgenommen, zumal auch die Reaktionen der Nicht-Spieler-Figuren oftmals maßgeblich vom Verhalten der durch die menschlichen Spieler gesteuerten Figuren abhängen. Der Charakter Lee Everett etwa zeichnet sich durch eine eher gesetzte, freundliche, fürsorgliche und friedfertige Persönlichkeit aus, obschon er in der ersten Folge als Gefangener in einem Polizeiwagen auf dem Weg ins Gefängnis sitzt. In Abhängig­keit der Antworten können die SpielerInnen entscheiden, ob er den Liebhaber seiner Frau absichtlich oder im Affekt getötet hat, ob er es bereut oder ob es unklar bleibt. Selbst Antagonisten wie Clementines Kidnapper (Staffel 1, Episode 5) erscheinen nicht als durch reine Bösartigkeit oder Rachsucht motivierte Schurken. Sie erweisen sich häufig, wie im Falle des Kidnappers, als von Trauer ge­beutelte Personen, denen Unrecht getan wurde.
Hierin ist die kybernetische Ethik des Heinz von Foerster zu erkennen: Das Ethos der menschlichen Spieler wird in Bezug zu den Charakteren und deren Ethos gesetzt. Aus systemtheoretischer Sicht entsteht dabei ein Rückkopplungs­prozess, der wiederum Auswirkungen auf das Verhalten der Spielerfigur hat, das wiederum auf die Nicht-Spieler-Figuren zurückwirkt.
Des Weiteren ist zu erwähnen, dass die genannten, mitunter bedeutenden Entscheidungen meist durch die Auswahl von bis zu vier Antworten gegeben werden müssen, sich also in der Spieler­interaktion ein bensescher Zeicheneffekt ergibt. Schweigen ist ebenso möglich, und kann auch Konsequenzen haben - was aus musikalischer Perspektive gesehen der Wirkung John Cages 4’33’’ durch die Abwesenheit von kommunizierten Zeichen entspricht.

Clementines Persönlichkeitsentwicklung

In der ersten Episode der ersten Staffel trifft der Avatar Lee Everett auf Clementine („Clem“), ein achtjähriges Mädchen, dessen Eltern nach einer Reise in die Stadt Savannah nicht zurückgekehrt sind. Die Welt ist offen­sichtlich weitgehend von wandelnden Toten bevölkert, die sich von den Lebenden ernähren. Zu diesem Zeit­punkt geht sie davon aus, dass ihre Eltern noch in Savannah sind, und bittet Lee, ihr zu helfen, dorthin zu reisen, um sie zu suchen. Sie verhält sich auf eine Art und Weise, wie es von einem Mädchen dieses Alters nicht unerwartet erscheint - sie versteckt sich in einem Baumhaus vor dem Haus ihrer Eltern. Als Lee, nachdem er das Haus betreten hatte, von der untoten Baby­sitterin angegriffen wird, steht Clem mit einem Hammer hinter ihm und bietet Lee die Möglichkeit, sich mit dem Hammer zu verteidigen (dies ist allerdings nicht die einzige Option). Clem zeigt sich hier zum ersten Mal als Retterin von Lee, obschon er später als ihr Beschützer auftritt. Zugleich kommt ein ambivalenter Aspekt ihrer Persönlichkeit zutage: Sie gibt zu, dass sie darüber nachgedacht hatte, ihm den Hammer vom Baumhaus aus auf den Kopf fallen zu lassen. Dies lässt auf ihre in späteren Episoden deutlicher ausgestalteten, kämpferischen Natur und Tapferkeit vorausblicken.
Im weiteren Verlauf übernimmt Lee die Rolle einer Vaterfigur für Clem. Er kümmert sich um sie, und sie folgt ihm, wie sie möglicherweise einem Familien­mitglied oder engen Freund folgen würde. Es obliegt den SpielerInnen, zu entscheiden, ob er den anderen Charakteren gegenüber erwähnt/zugibt, dass er nicht ihr Vater ist, sie im Dunklen lässt, oder behauptet, er sei es. Der Afroamerikaner Lee kann nicht der leibliche Vater der asiatisch-amerikanischen Clem sein, und obschon sie sich ihm gegenüber meist vertrauens­voll verhält, präsentiert sich hier ein erstes ethisches Problem: Die SpielerInnen wissen sicher, dass er nicht der Vater ist, und er sie per Zufall getroffen hat. Dennoch könnte er sich selbst­verständlich als Adoptiv­vater präsentieren oder als einen Freund der Familie. Die SpielerInnen müssen sich hier zum ersten Mal entscheiden, inwieweit sie sich mit dem Charakter Lee identifizieren, und ihre eigene Haltung auf ihn übertragen - Lee kann entweder lügen und damit seine Bindung an sie legitimieren oder die Wahrheit sagen und (scheinbar) riskieren, dass sie ihm weg­genommen wird. Die Wahl der Antwort hat hier offenbar keine langfristigen Konsequenzen, führt aber möglicherweise zu anfänglich unterschiedlichen psychosozialen Konstellationen.
Nicht versuchte oder fehl­geschlagene Rettungs­aktionen von Lee gegenüber Clem haben zu Beginn wenig lang­fristigen Einfluss auf den Verlauf der Handlung. Sie bringen jedoch bisweilen schmerz­hafte Kritiken gegenüber dem Spieler­charakter hervor, die ebenso auf die menschlichen Spieler zurück­wirken, wodurch die Motivation, Clem zu helfen, sich vom fiktiven Charakter in die reale Welt überträgt, und eine entsprechende Reaktion provoziert wird (im von foersterschen Sinne). Es sei erwähnt, dass es bisweilen not­wendig ist, schnell zu reagieren, um beispielsweise einen angreifenden „Walker“ (einen der Untoten) davon abzuhalten, Clem und andere Charaktere zu verletzen. In bensescher Lesart spielt hier also nicht aus­schließlich die Kommunikation von Zeichen - also die Antwort im Gespräch oder der Gegenangriff auf einen Walker - eine Rolle, sondern auch die Geschwindigkeit, in der die jeweilige Handlung erfolgt. Auch wenn die kybernetische Rück­kopplung im steinbuchschen Sinne bei musikalischen Performances fehlt, so sind doch Parallelen zu erkennen, welche die Bedeutung der Kommunikations­geschwindigkeit hervorheben. Wer nicht schnell genug reagiert, provoziert unter Umständen eine unerwünschte Reaktion, so, wie eine Melodie mitunter unangenehm wirken kann, wenn sie schneller abgespielt wird als vorgesehen. Jene SpielerInnen, die sich zu schnell oder nicht schnell genug entscheiden, wählen unter Umständen eine Möglichkeit, die sie bei reiflicher Überlegung nicht getroffen hätten.
Eine der bedeutendsten Stationen in der zweiten Episode ist die aus spielerischer Sicht schwierige Situation, in der Lee entdeckt, dass sie von einer Gruppe (lebenden) Kannibalen zum Essen eingeladen wurden: Lee will Clem daran hindern, das Fleisch zu essen, das ihr angeboten wurde. Hierin ist zunächst kaum eine ethische Problematik zu erkennen, da Lee in jedem Fall die Motivation besitzt, das zu verhindern. SpielerInnen werden hier allerdings unter einen beträchtlichen Druck gesetzt, schnell zu reagieren, um den Avatar dazu zu bringen, rechtzeitig einen Ausruf zu wählen, der Clem davon abhält, das Fleisch zu essen. Eine „falsche“ Antwort führt hierbei nicht zum Ende des Spiels, führt aber dazu, dass Clem einige Zeit anders auf Lee reagiert, da er zugelassen hat, dass sie Menschenfleisch isst. Auf die SpielerInnen wirkt ein unerwartet harter, emotionaler Schlag. Dies dient dazu, die nachfolgenden Entscheidungen zu beeinflussen und die Ethik des Spieler­charakters, sowie jene der Menschen, die ihn spielen, herauszufordern. Besonders die Wahl, ob Lee die Kannibalen tötet, um zu verhindern, dass sie weiterhin Menschen verspeisen, oder ob er sie am Leben lässt, wird zunächst von Clementine bemerkt: Tötet Lee einen (mittlerweile wehrlosen) Kannibalen, so reagiert sie negativ, lässt er ihn am Leben, wird sie das als positive Entscheidung wahrnehmen. Die Ethik­definition Heinz von Foersters – namentlich die Beobachtung der eigenen Beobachtung (s.o.) – kommt hier zum Tragen: Die SpielerInnen werden mit der Frage konfrontiert, wie sie die Situation selbst wahrnehmen, also ob sie es selbst für akzeptabel halten, den Kannibalen am Leben gelassen/getötet zu haben oder nicht. In der Welt, die bei The Walking Dead präsentiert wird, sind die Lebensumstände fundamental anders als in der „realen“ Welt. Der Konflikt zwischen der Frage, was recht sei und was unrecht, spitzt sich hier zu: Ist das Verhalten der Kannibalen durch deren Notlage begründet und in einem gewissen Maß nachvollziehbar (oder gar verzeihlich), oder ist es in keinem Fall akzeptabel? Dürfen die Täter, zum Schutze potentieller neuer Opfer getötet werden, oder überwiegt deren Recht auf Leben? Für den weiteren Verlauf der Serie ist eine weitere Gewissens­entscheidung von außerordentlicher Bedeutung: Nachdem die Gruppe, noch immer hungrig, vor den mordenden Kannibalen geflohen ist, entdecken sie ein offenes Fahrzeug, das mit Nahrung voll beladen ist. Lee sieht sich damit dem Dilemma ausgesetzt, ob er zustimmen soll, dass die Gruppe die Nahrungs­mittel nimmt und damit möglicherweise jemanden bestiehlt, oder ob er empfehlen soll, dass sie es unterlassen. Clementine schlägt vor, die Nahrungsmittel nicht mitzunehmen, obwohl sie selbst sehr hungrig ist, und zeigt damit einen Grad emotionaler Reife, der für Achtjährige nicht unbedingt typisch ist. Clem entwickelt sich dabei zum Spiritus Rector, dessen Einfluss sich ungeachtet der gewählten Entscheidung über sein digitales Technotop hinaus auf die reale Welt auswirkt, nachdem die Selbstreflexivität der SpielerInnen in das Spielgeschehen inkorporiert wird.

Clem besorgt

Eine aus ethischer Sicht besondere Situation ist die Vorgabe des Spiels, dass Lee Clem die Haare schneiden muss und sie den Gebrauch einer Pistole lehren soll (im Rahmen dieser Analyse kam keine Möglichkeit zutage, diese Handlungen zu umgehen). Diese Unvermeidlichkeit birgt Unwohlsein, zumal Clem nicht möchte, dass ihre Haare ab­geschnitten werden. Weiterhin scheint es zunächst unklug, einem achtjährigen Kind den Gebrauch einer Schusswaffe beizubringen. Nachdem die Welt von gefährlichen Menschen und Untoten bevölkert ist, könnten Fertigkeiten dieser Art allerdings überlebens­notwendig sein. Die SpielerInnen werden hier in eine unangenehme Situation gebracht, in der sie etwas tun müssen, das sie vermutlich normalerweise nicht tun würden. Sie werden durch die intra­diegetischen Handlungen herausgefordert, ihre eigene Handlungs­perspektive zu reflektieren, besonders wenn deren Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit von anderen Charakteren einmal angezweifelt, und ein andermal gelobt werden. Direkt danach aber wendet sich Clem wieder an Lee, um ihn um Rat zu fragen, und bestätigt trotz ihrer offensichtlichen Tapferkeit seine Position als ihr Beschützer. Clementine entwickelt während der ersten Staffel eine für ihr Alter außergewöhnliche emotionale Reife und Beherzt­heit. Sie kommentiert wie erwähnt die im Spiel notwendigen Gewissens­entscheidungen mit emotionalen, aber dennoch wohl­bedachten Argumenten. Sie klettert etwa ungefragt durch eine Katzentür hindurch, für welche die Erwachsenen zu groß wären, und entfernt die Verriegelung eines Hauseingangs, welche die Erwachsenen andernfalls nicht hätten öffnen können. Lee bleibt hier keine andere Option offen, als sie entweder zu schelten (weil sie sich in Gefahr gebracht hat), sie zu loben (ob ihrer Tapferkeit) oder ihre beherzte Aktion zu ignorieren.
In der vierten Episode wird einer der Charaktere (Ben) bezichtigt, Räuber mit Lebens­mitteln und Medikamenten versorgt zu haben, weil diese ihm gedroht haben, das Lager seiner Gruppe anzugreifen, wenn er es nicht täte. Aus Sicht der SpielerInnen ist das eine Tatsache, allerdings nicht zwingend nach dem Wissen der virtuellen Charaktere. Bens Leben wird bedroht, weil die Anderen das Vertrauen in ihn verloren haben, und es folgt eine Abstimmung, ob er hin­gerichtet werden soll. Während der Streiterei über diese Ab­stimmung stellt Clem die Frage, ob sie nicht auch eine Stimme habe. An dieser Stelle ist zu erkennen, dass das sehr junge Mädchen, das Lee zu Beginn der Serie kennen gelernt hat, sich in seiner Persönlich­keit maßgeblich weiter­entwickelt hat: Clem will in dieser Situation über Leben und Tod Bens mit­entscheiden, und nimmt einen ethischen Standpunkt ein, von welchem ausgehend sie an die anderen Mitglieder ihrer Gruppe appelliert und für Ben spricht. Es obliegt in dieser Situation Lee, ob ihre Stimme Gewicht hat oder nicht. Nachdem sie sich bereits vorher mit Ben angefreundet hat, wird sie mit Entsetzen reagieren, sollte die mensch­liche Wahl gegen ihre Stimme, also gegen Ben, fallen. Sie übernimmt im psychosozialen Sinne (Steinbuch) eine mehr oder weniger direkte Kontrolle über die Situation.
Mit Verweis auf die bensesche, zeichen­basierte Kunst­theorie und die von foerstersche „KybernEthik“ lässt sich also folgern: Die zeichen­basierte Interaktion zwischen fiktiven und realen (spielenden) Personen, die durch Kommunikation von Entscheidungen und Rezeption von Antworten stattfindet, steht in einem Reflexions­verhältnis, dessen Stabilität oder Instabilität auf seiner Rückkopplungsbeziehung zwischen menschlicher und maschinellerEthik fußt. Die maschinelle Ethik, die innerhalb der Persönlichkeit von Avataren und NPCs begründet ist, interagiert direkt mit der Beobachtung der eigenen (menschlichen) Beobachtung, womit das Spiel eben in Rückkopplung mit den Emotionen der SpielerInnen „spielt“.
In der zweiten Staffel ist Clem der Avatar: Die Reflexivität der SpielerInnen mit ihren eigenen Beobachtungen und dem Charakter wird also direkt in die Handlung und die Handlungsweisen, auch der NPCs, eingekoppelt. Die Immersion wird dadurch verstärkt, dass „KybernEthische“ Entscheidungen oftmals so gestaltet sind, dass die Ambivalenz ihrer Resultate bei den SpielerInnen zu einer verstärkten Selbsthinterfragung bezüglich Clem und der eigenen persönlichen Einstellung führen soll.

Clem wehrhaft

Die Geschichte spielt sechzehn Monate nach den Ereignissen der ersten Staffel. Das Mädchen, mittlerweile elf Jahre alt, ist sichtlich gezeichnet von den bisherigen Ereignissen, und verhält sich - für ein Kind diesen Alters - ungewöhnlich reif. Sie hat sich zu einer äußerst wehrhaften Person entwickelt; sie ist fähig und willens, um ihr Leben zu kämpfen. Die in dieser Staffel gestellten ethischen Fragen, etwa ob Clem mit Waffengewalt einen Autodiebstahl verhindern soll oder nicht, sind bisweilen auf einer emotionalen Ebene deutlich härter und schwieriger. Zu Beginn der Staffel zieht sie mit zwei Charakteren umher, der schwangeren Christa und ihrem Partner Omid, die beide aus der ersten Staffel bekannt sind. Clem wird von den beiden gefragt, wie sie das Baby nennen sollen, und ungeachtet der Wahl findet ihre Antwort Beachtung; sie wird ernstgenommen.
Als die Protagonistin wegen eines Hundebisses bewusstlos wird, finden sie zwei Männer einer Gruppe, die ihr zunächst helfen wollen, aber nach der Entdeckung des Bisses befürchten, sie sei von einem Untoten gebissen worden. Einige Mitglieder der Gemein­schaft schlagen sogar vor, Clem vorsichts­halber zu töten. Ab diesem Zeitpunkt bietet das Spiel ein breiteres emotionales Spektrum von möglichen Antworten: Sie kann sowohl untertänig als auch kämpferisch reagieren. Die Frage, welche sich die SpielerInnen stellen müssen, ist, ob sie kooperativ oder konfrontativ sein soll, auf Rache sinnen oder versöhnlich sein will. Die Optionen, die sich hierbei bieten, sind beileibe nicht trivial: Die Handlung und Charakter­gestaltung baut auf eine mitunter heimtückische Art und Weise eine ambivalente Atmosphäre auf, die Zorn in der fiktiven Person erregt, die sich auch auf die SpielerInnen übertragen soll. Auch Clems nicht beeinfluss­bares Verhalten verstärkt die Spannung: Sie wird wegen des Bisses in eine Hütte vor dem Haus der Gruppe eingesperrt, schleicht sich aber hinaus und in das Haus hinein, um Medikamente zu stehlen. Sie überredet einen der Bewohner, ihr Verbands­material zu bringen, belauscht eine Frau, die fürchtet, von einem anderen Mann als ihrem Gatten schwanger zu sein und manipuliert ein älteres Mädchen, sie zu unterstützen. Clem erweist sich als überaus abgebrüht, selbstständig und stark. Es gelingt ihr, die Gruppe, die zuvor noch ihre Tötung debattiert hatte, zu überzeugen, sie aufzunehmen, und übernimmt mehrfach die Rolle eines Mediators oder gar die eines Spiritus Rector. Sie wird immer häufiger ernsthaft um Rat gefragt, etwa als sie in der zweiten Episode mit den verbleibenden Gruppenmitgliedern eine Skihütte erreicht, wo sie Kenny, einen ihrer alten Bekannten, überraschend trifft. Sie wird von ihm gefragt, ob ihre Begleiter vertrauens­würdig seien. Es besteht die Wahl­möglichkeit, in verschiedenen Situationen die Kontrolle über die Gruppe zu über­nehmen oder sich zurück­zuhalten; in einem bestimmten Gespräch kann Clem sogar einem deutlich älteren Mann den Mund verbieten. Von Episode zu Episode entwickelt sie sich somit mehr und mehr zu einer (geistig) erwachsenen Person, die im Sinne der „KybernEthik“ des Heinz von Foerster von den SpielerInnen wieder nicht nur Selbstreflexion, sondern auch eine Reflexion der eigenen Beobachtung fordert.

Fazit – Das Ethos und seine Folgen

Die Figur der Clementine besitzt eine außerordentliche emotionale Tiefe, deren Gestaltung einen Beschützer­instinkt zu wecken versucht. Während die SpielerInnen in Gestalt von Lee ins Spiel eintreten, entsteht eine Beziehung zwischen den beiden fiktiven Figuren, die sich über die digitale Zeichenwelt des Programms auf die emotionale Welt des realen Menschen intensiv auswirken soll, zumal das Ethos der SpielerInnen sich mitunter in erschreckender Weise in der virtuellen Welt auswirkt. Obschon Clem Lee ungeachtet der Ent­scheidungen stets loyal bleibt, kann sie sich doch bei unliebsamen Entscheidungen ebenso von ihm distanzieren oder zeitweise abwenden, was wiederum beim Menschen vor dem Bildschirm ein Gefühl der Reue provozieren will. Eine von foerstersche soziale Dynamik, auf Basis der steinbuchschen Rückkopplungseffekte ist hierin zu erkennen: Das Spiel versucht, bei den SpielerInnen sowohl eine Hinterfragung der eigenen Entscheidungen, als auch eine Reflexion der eigenen Wahr­nehmung hervor­zurufen. Die Reflexivitäten zwischen maschineller und menschlicher Ethik werden ver­flochten, und durch die häufige Unvorher­sehbarkeit der Konsequenzen verstärkt.

Clem in Deckung

Im zweiten Teil hat Clementine eine dramatische Transformation durchlebt und durchlitten. Ihr Denken und Handeln ist zum Einen reifer und selbstständiger geworden, zum Anderen aber lassen die Gewissens­entscheidungen damit auch eine Wahl zum zynischen Umgang mit Anderen zu. Neben einer Emanzipiertheit, die bei einem Kind dieses Alters normalerweise nicht zu erwarten wäre, birgt sie auch das Potential, zu einer Anführerin zu werden. Aus dem niedlichen, freundlichen Mädchen ist - in Abhängigkeit der menschlichen Entscheidungen - entweder ein Spiritus Rector, ein Vorbild, geworden, zu der die anderen Charaktere aufblicken oder eine aggressive, leidende, verbitterte junge Frau. Die Ambivalenz des Weltbildes, das in The Walking Dead kommuniziert wird, spiegelt sich in Clem wider: „Gut“ und „Böse“ werden nicht sauber voneinander getrennt. Sowohl Avatare als auch NPCs können nur schwerlich in Schurken und Helden aufgeteilt werden, da deren zeichenbasiertes Ethos mit dem menschlichen verschränkt ist.
Karl Steinbuch schreibt: „Jedes subjektive Erlebnis entspricht einer physikalisch beschreib­baren Situation des Organismus, vor allem des Nervensystems, z. T. auch der humoral usw. wirkenden Organe.“ 26 Nach diesen Erkenntnissen ist das Virtuelle selbst­verständlich gewisser­maßen ebenso real wie in der natürlichen Welt Erlebtes: Ein Horrorfilm kann zweifellos bei manchen Menschen „echte“ Angst auslösen, obschon sie wissen, dass das Gezeigte nicht wirklich passiert, wie es unter anderem Marcus Stiglegger in seinem Werk „Terrorkino. Angst/Lust und Körperhorror“ 27 eindrucksvoll illustriert. Das Spiel Alien: Isolation sei hier als markantes Beispiel erwähnt: Hier wird die Protagonistin von einem der Aliens aus der gleichnamigen Film-Reihe gejagt. Es lässt sich eine Funktion aktivieren, sodass die Kamera der Konsole die Bewegungen und Geräusche des natürlichen Menschen aufnimmt. So kann der Mensch durch Zur-Seite-Lehnen um eine Ecke blicken oder sich nieder­kauern, um sich zu verstecken. Des Weiteren ist es möglich, dass Geräusche aus der natürlichen Welt in das Spiel übertragen werden, die dann vom Alien gehört werden. Somit kann es vorkommen, dass ein klangliches Ereignis außerhalb des Spiels den virtuellen Tod bringt, und den SpielerInnen eine reale Schrecksituation beschert, so, wie The Walking Dead ein Gefühl der Reue hervor­rufen könnte, obschon keinem lebenden Menschen Unrecht widerfahren ist.
Wie etwa besonders prominent Ursula Ganz-Blättler mit Blick auf Serialität ausführt, definieren sich gerade seriell angelegte Erzählungen ganz besonders über die Eigenschaft, in den ZuschauerInnen (oder hier: SpielerInnen), Erwartungen zu provozieren: „Jede Narration konstruiert den Gegenstand, um den sie kreist, beständig neu, indem sie Szenarien möglicher Fortsetzungen entwirft und damit Erwartungen schürt, die in der Folge bestätigt oder verworfen werden, was wiederum neue mögliche Fortsetzungs­­szenarien und entsprechend aktualisierte Sinn­zusammenhänge in Aussicht stellt.“ 28 Bei The Walking Dead werden die SpielerInnen zum integralen Bestandteil der Handlung, deren Ethos einen maßgeblichen Einfluss auf die psychosozialen Zusammenhänge im Spiel, wie auch mit ihnen selbst hat. Die jeweils gewählten Entscheidungen wirken sich bisweilen auf die nächsten Episoden aus, sodass eine eventuelle Erwartungs­haltung der SpielerInnen eben nicht alleine auf den weiteren Verlauf der Handlung fokussiert sein muss, sondern etwa auch Neugier über die Auswirkungen des eigenen Verhaltens evozieren kann. Die Episoden wurden in mehrwöchigen Abständen herausgegeben, sodass die SpielerInnen die Möglichkeit hatten, ihre Wahl­möglichkeiten zu überdenken und zu ändern, während sie auf das Erscheinen der nächsten Episode warten mussten. Wie eingangs in Knellessens Worten erwähnt, zelebriert die Serie ihr eigenes Treiben. So lässt sich in Bezug auf die Serie The Walking Dead sagen, dass das Spiel ebendieses Treiben, namentlich Freud und Leid den SpielerInnen aufbietet, aber auch ihnen einen Spiegel vorhält, und sie dazu einlädt, ebendiese Reflexivität in zweiter Reihe zu beobachten, zu hinter­fragen. In Folge für Folge haben Gewissens­entscheidungen ... Folgen.

Verzeichnis verwendeter Texte und Medien

Texte

Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen (1956). (3. Auflage in der Beck’schen Reihe). Beck: München 2010.
Bense, Max: Aesthetica. Einführung in die neue Aesthetik. Agis: Baden-Baden 1965.
Brier, Soren, und Glanville, Ranulph:  Foreword: The Ouroborous and the Glass Bead Game. In: Cybernetics & Human Knowing. A journal of second-order cybernetics autopoiesis and cyber-semiotics. Vol. 10, nos. 3-4, 2003.
de La Mettrie, Julian Offray: Die Maschine Mensch: L’homme machine. 1784. Deutsch-Französische Ausgabe. Meiner: 1990.
Erlach, Klaus: Das Technotop. Die technologische Konstruktion der Wirklichkeit. LIT: Stuttgart 2000.
Fischer-Lichte, Erika:  Ästhetik des Performativen. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2004.
Ganz-Blättler, Ursula: DSDS als Reality-Serie. In: Kelleter, Frank (Hg.): Populäre Serialität: Narration - Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. transcript: Bielefeld 2012.
Huitzinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Übers. von H. Nachod, 24. Auflage, Rowohlt: Hamburg 2015.
Kelleter, Frank: Populäre Serialität, in: Kelleter, Frank (Hg.): Populäre Serialität: Narration - Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Transcript: Bielefeld 2012.
Knellessen, Olaf: Die Serie als Triebtäter. In: Knellessen, Olaf; Schiesser, Giaco; Strassberg, Daniel (Hgg.): Serialität. Wissenschaft, Künste, Medien. Turia + Kant: Wien, Berlin 2015.
Lindner, Johanna: Entscheidung ist nicht gleich Entscheidung – Kontingenzbewältigung in The Sims und The Walking Dead. PAIDIA 2014.
Neitzel, Britta: Involvierungsstrategien des Computerspiels. In: GamesCoop: Theorien des Computerspiels. Junius: Hamburg 2012.
Pias, Claus: Computer Spiel Welten. sequenzia: München 2002.
Staaby, Tobias: The Walking Dead in der Schule - Moralphilosophie nach der Apokalypse. Übers. durch Elisabeth Heeke. In: PAIDIA Sonderausgabe Computerspiele und Werteerziehung 2015.
Steinbuch, Karl: Automat und Mensch. Auf dem Weg zu einer kybernetischen Anthropologie, Springer-Verlag: Heidelberg 1971.
Stiglegger, Marcus: Terrorkino. Angst/Lust und Körperhorror. Bertz + Fischer: Berlin 2010.
von Foerster, H.: KybernEthik (1993). Merve: Berlin 2008.

Spiele

Creative Assembly: Alien: Isolation. Sega 2014.
Telltale Games: The Walking Dead (Episoden 1-5) und The Walking Dead Season 2,  (Episoden 1-5). Telltale, Inc. 2012ff. (Hintergrundinformationen entstammen überwiegend dem Spiel selbst; einige Informationen wurden der Website des Spiels auf telltale.com entnommen. Die Handlungen in der neuen Serie The Walking Dead: A New Frontier, The Walking Dead: Michonne und die Episode 400 Days (zwischen der ersten und der zweiten Staffel) wurden nicht mit einbezogen.)
Telltale Games: The Wolf Among Us. Telltale, Inc. 2013ff.
Telltale Games: Batman: The Telltale Series. Telltale, Inc. 2016f. 

  1. Knellessen: Die Serie als Triebtäter. 2015, S. 18.[]
  2. ebd.[]
  3. Vgl. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (1956). 2010, S. 163ff.[]
  4. Vgl. ebd., S. 131ff.[]
  5. Vgl. auch Lindner: Entscheidung ist nicht gleich Entscheidung – Kontingenzbewältigung in The Sims und The Walking Dead. 2014.[]
  6. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass in Telltale Games‘ The Walking Dead zwischenmenschliche Konflikte, trotz der ethnischen Vielfalt der Charaktere, nie einen rassistischen Hintergrund haben (im Gegensatz zur TV-Serie). Möglicherweise beabsichtigen die AutorInnen mit ihrer Darstellung des „Vater/Tochter“-Verhältnisses von Lee und Clem, eine anti­rassistische Nachricht an die SpielerInnen zu kommunizieren. Eine angemessene Diskussion dieser Frage würde im Rahmen dieser Ausarbeitung allerdings zu weit führen.[]
  7. Hiermit wird keine fachlich fundierte psychologische Analyse versucht; vielmehr soll diese Bemerkung beschreiben, wie Clementine dargestellt wird.[]
  8. Staaby: The Walking Dead in der Schule. 2015.[]
  9. ebd.[]
  10. Kelleter: Populäre Serialität. 2012, S. 36.[]
  11. ebd.[]
  12. Vgl. Erlach: Das Technotop. 2000, bes. S. 7-25.[]
  13. de la Mettrie: L’homme machine (1784). 1990.[]
  14. Steinbuch: Automat und Mensch. 1974, S. 7.[]
  15. von Foerster: KybernEthik. 1993.[]
  16. Vgl. Brier, Glanville: Foreword: The Ouroboros and the Glass Bead Game. 2003, S. 6.[]
  17. Neitzel: Involvierungs­strategien des Computerspiels. 2012, S. 102f.[]
  18. Pias: Computer Spiel Welten. 2002, S. 12.[]
  19. Vgl. Bense: Aesthetica (1965). 1982, S. 48ff.[]
  20. sinngemäß nach Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (1956). 2010, S. 107 ff.[]
  21. Vgl. Huitzinga: Homo Ludens (1938). 2015.[]
  22. sinngemäß nach Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (1956). 2010, S. 107 ff.[]
  23. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. 2004.[]
  24. ebd., S. 109.[]
  25. ebd., S. 9.[]
  26. Steinbuch: Automat und Mensch. 1971, S. 207.[]
  27. Vgl. Stiglegger: Terrorkino. 2010.[]
  28. Ganz-Blättler: DSDS als Reality-Serie. 2012, S. 124.[]

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Schölly, Reto: "Ethos, Charakter und Selbstbezüglichkeit in The Walking Dead - Eine Analyse der Persönlichkeits­entwicklung des Charakters Clementine und seinen Reflexivitäten mit dem Ethos der SpielerInnen". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 22.03.2017, https://paidia.de/ethos-charakter-und-selbstbezuglichkeit-in-the-walking-dead-eine-analyse-der-personlichkeitsentwicklung-des-charakters-clementine-und-seinen-reflexivitaten-mit-dem-ethos-der-spielerinnen/. [21.11.2024 - 08:34]

Autor*innen:

Reto Schölly

Reto Schölly studierte Technische Kybernetik (Dipl.-Ing.) und Betriebswirtschaftslehre (M.A.) in Stuttgart, sowie Kunstphilosophie in Wuppertal. Seine Promotion zum Dr. phil. in Ästhetik erfolgte 2012. Derzeit arbeitet er als „Teaching Fellow“ an der Albert Ludwigs-Universität Freiburg, wo er unter Anderem „Computational Modeling“ und „Robot Design“ lehrt. Frühere Vorlesungen beinhalten „Innovations- und Technologie¬management“, „Artificial Life“, „Mikrocomputertechnik“, „Digitale Bildverarbeitung“ und andere. Weiterhin beteiligt er sich an verschiedenen Kunsthappenings, etwa mit Bazon Brock, Peter Weibel, Martina Schettina oder Galsan Tschinag. Persönliche Homepage: www.reto-schoelly.com