Entscheidungszwang und Probehandeln: Beobachtungen zur gegenwärtigen Entwicklung im Computerrollenspiel
Gerade im Rollenspielsektor lässt sich momentan eine gemeinsame Entwicklung beobachten, die sich sowohl in Titeln der bekannten Firma BioWare als auch in den Produkten kleinerer Firmen wie CDProjekt (The Witcher 1 und 2) als neues Paradigma offenbart: Zur grundlegenden Veranlagung von Spielen als Plattform für Probehandeln, also dem Einüben und Ausprobieren von Handlungen und dem Abschätzen der Konsequenzen, kurz gesagt für Gedankenexperimente, stößt das Element des Entscheidungszwangs hinzu und verändert damit die Spielsituation grundlegend. Nicht wie früher bleibt der Spieler auf der Position des Richters zurück, der aufgrund von persönlicher Einstellung und Gesinnung und vorliegenden Informationen, überlegte Entscheidungen fällen kann, sondern der Spieler wird zum vollkommen involvierten Entscheidungsträger, der sich eben nicht auf ein „später“ flüchten, der sich keine Zeit zum Nachdenken nehmen und sich nicht auf eine neutrale Position zurückziehen kann. Besonders The Witcher 2 - Assasins of Kings kombiniert den Entscheidungszwang an einigen Stellen des Spiels auch noch mit einem Zeitdruck, indem dem Spieler nur fünf Sekunden zur Verfügung gestellt werden, zwischen zwei Spielwelt verändernden Optionen zu wählen. Der Spieler muss sich entscheiden, hier und jetzt, und er muss mit den Konsequenzen zurechtkommen. Das Spiel wird also zur Entscheidungssimulation, in der man aufgrund von ungenügenden Daten und unabschätzbaren Folgen, dennoch vor die Wahl gestellt wird und anschließend mit den Folgen seiner Handlungen und Taten zurechtkommen muss.
Gerade am Beispiel Dragon Age 2 lässt sich dies gut zeigen. Der Spieler steuert den Protagonisten Hawke, einen Helden wider Willen, auf seinem zehn Jahre langen Weg, der ihn schlussendlich zum Champion der Stadt Kirkwall macht. Sein Weg ist dabei gespickt mit brenzligen Situationen und Konflikten, die gerahmt werden von schnellen Actionsequenzen, die trotz ihres häufigen Vorkommens wohl eher zu Zwischensequenzen geworden sind, die die Handlung des Spiels unterbrechen. Somit scheint sich hier, wie in Mass Effect 2, das Verhältnis von Handlung und Spielen umgedreht und so steht nun das Lösen oder besser das Umgehen mit Auseinandersetzungen im Vordergrund des Handelns.
Dies verändert auch die Spielsituation drastisch: Der Spieler steht deutlich unter Druck, er muss reagieren, er muss Position beziehen. Er muss sich also, Jean-Paul Sartre folgend, klar und deutlich entscheiden zu handeln und zu sein. Er ist also dem Spielerlebnis existentiell ausgesetzt, auch wenn die Situation rein virtuell bleibt. Die Existenz des virtuellen Selbst, also der Teil der spielenden Person, der in der Rolle des Spielers als oder wie jemand anderes handelt, ist bedroht und so fühlt auch die spielende Person in ihrer realen Instanz diese Bedrohung. In allerletzter Konsequenz könnte dieser Übersprung als Einbruch des Fiktiven ins Reale beschrieben werden. Auch der Film oder die Literatur kann ähnliche Wirkungen auf uns haben, doch durch das Vorhandensein einer Instanz des Spielers im Raum des Mediums als handelnde Figur sind wir dem Erlebnis ausgeliefert. Wir können zwar den Computer ausschalten und nicht weiterspielen, aber wenn wir spielen, können wir uns nicht auf die Beobachterposition zurückziehen und wir können nicht behaupten: das hat nichts mit uns zu tun. Dies gilt aber eben allgemein für das Medium des Spiels, es kann immersiv wirken, aber eben nicht nur auf einer spielmechanischen Ebene, sondern gerade auch auf einer narrativen. So lässt sich diese Entwicklung wohl als ein voranschreitendes Ausreizen der spezifischen Medialität des Computerspiels begreifen.
Eine weitere Spezifik des Computerspiel wird durch diese Entwicklung ebenso angetrieben: die Möglichkeit des kontrafaktischen Erzählens. Der Spieler wird also eine Geschichte zum Spielen gegeben, die nur so von Situationen strotzt, die den Spieler grübelnd zurücklassen mit einem „Was wäre wenn“-Gefühl. So scheint der Spieler stark dazu bewegt, das Spiel mehrmals zu spielen, um die verschiedenen Geschichtsverläufe zu erleben, was im Fall von Dragon Age 2 zusätzlich noch durch das Achievement-System verstärkt wird. Dem Spieler wird also wirklich der Raum für die Umsetzung eines Gedankenexperiments zur Verfügung gestellt. Er hat die Möglichkeit, die ihm die Realität nicht bieten kann: Zu sehen, was wäre wenn. Hiermit bedient sich das Computerspiel einer grundlegenden Möglichkeit von Fiktion, doch bietet es durch seine Wiederspielbarkeit und der Möglichkeit in eben einem zweiten Spielverlauf Probleme anders zu lösen, Möglichkeiten, die der Film oder das Buch nicht hat. Wenn man ein Buch das zweite Mal liest, wird die Erzählung immer noch genauso verlaufen wie beim ersten Mal. Beim Computerspiel aber und gerade bei der neueren Generation der Rollenspiele habe ich die Möglichkeit die Erzählung anders enden zu lassen als beim ersten Mal. das Computerspiel gesteht uns so also eine Mündigkeit zu, die uns Literatur und Film nicht gewähren können.
Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien
Spiele
BioWare: Dragon Age: Origins. Electronic Arts 2009.
BioWare: Dragon Age 2. Electronic Arts 2011.
BioWare: Mass Effect 2. Electronic Arts 2010.
CD Projekt RED: The Witcher. Atari SA 2007.
CD Projekt RED: The Witcher 2 - Assassins of Kings. CD Projekt 2011.
Artikelbild
Offizieller Screenshot aus BioWare: Dragon Age 2. Electronic Arts 2011.