Editorial 2016

1. Januar 2016

„Aber ist jemand deshalb Außenseiter, nur weil er süchtig oder triebhaft das macht, was alle anderen zwangsweise und bezahlt machen? Die Spielsucht ist doch in Wirklichkeit nichts anderes als eben jene Sucht, die man jenseits der Freizeitindustrie als ‚workaholic‘ bezeichnet.“

Spiel + Arbeit = Paidia5

Nein, wir werden natürlich nicht über Sucht sprechen, wohl aber über Arbeit und Spiel: Die Redaktion und die Autorinnen und Autoren, die für Paidia schreiben, lesen und redigieren, sind dem Zitat von Ladenthin folgend doppelt Spielerinnen und Spieler und doppelt Arbeiterinnen und Arbeiter. Denn in ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Computerspielen be­geg­nen sich Spiel und Arbeit; sie kreuzen sich sowohl als Spiel, das Arbeit ist, als auch als Arbeit, die Spiel ist, – und dies nun seit mehr als fünf Jahren.

In dieser Zeit entstanden bei Paidia mehr als 100 Beiträge von rund vier Dutzend Autorinnen und Autoren, mit einer durchaus beachtlichen Band­breite. Sonderausgaben zu Themen wie „Das ludische Selbst“, „Computer­spiele und Werteerziehung“, „Dokumentation und Simulation“ und „Gender in Games and Gaming“ versammeln den aktuellsten Stand der Computer­spiel­forschung im deutschsprachigen Raum. Zusätzlich steht „Paidia im Gespräch“  mit Spiele­entwicklerinnen und Spieleentwicklern über Design und Ästhetik, Kunst und Poetik. Weitere Ausgaben und Gespräche sind in Vorbereitung und Planung, wie der aktuelle CfP zur „Darstellung von Wissenschaft, Forschung und Technologie in digitalen Spielen“  von Arno Görgen und Rudolf Inderst und die kommende Spezialausgabe zu „Gespielte Serialität oder: Computerspiel(e) in Serie: Medien – Theorien – Kulturen“ von Alexander Schlicker.

Zudem verspricht eine neue Kooperation mit IASLonline, dem größten Anbieter für elektronische Rezensionen in der Deutschen Literatur- und Kulturwissenschaft, zukünftig auch vermehrt Rezensionen zu aktueller Literatur der Computer­spiel­forschung. Mit „I’ll remember this“  ist dieses Jahr auch unser erster analoger Sammelband veröffentlicht worden, der viele Forschungsfragen, denen immer wieder in Beiträgen in Paidia nach­gegangen wurde, bündeln konnte (der Band erschien im Verlag Werner Hülsbusch und kann hier bezogen werden). Da wir aber wohl nicht zu rasten vermögen, gibt es schon Überlegungen für ein neues Projekt, zu dem wir zu einem späteren Zeitpunkt mehr verraten werden.

Doch neben dem Blick voraus, möchten wir dieses Editorial auch für einen Blick zurück nutzen, haben wir doch ein Jubiläum zu feiern.

5 Jahre Paidia – eine Bestandsaufnahme ‚in a nutshell’

2010 begannen die ersten Vorüberlegungen für unser E-Journal, im März 2011 bekam Paidia Struktur und einen redak­tionellen Workflow und ein halbes Jahr später, am 15. Oktober 2011, war Paidia erstmals mit sechs Texten online. Erfolg und Produktivität konnte niemand vorhersagen. Umso mehr freut es uns, dass Paidia zu einem zentralen Publikationsorgan für eine geistes- und medienkulturwissenschaftlich orientierte Computer­spiel­forschung geworden ist. Der Dank der Heraus­geber dafür gebührt vor allem den unermüdlichen, hoch engagierten und leidensfähigen Redak­teurinnen und Redakteuren. Sie machen es durch ihre ehrenamtliche Arbeit möglich, dass Paidia als unabhängiges Journal in einer Forschungslandschaft be­ste­hen kann, die insgesamt finanziell schlecht ausgestattet ist und die sich mit neuen Medien und der eigenen Zukunftsorientierung zumindest im institutionellen Kontext sichtlich schwertut. Man darf sich nichts vormachen: In der Mitte der institutionalisierten geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung und Lehre sind Computerspiele noch lange nicht angekommen – wir werden verfolgen, wie lange sie von der oft angeführten Mitte der Gesell­schaft dorthin noch brauchen; wir jedenfalls werden mit jedem Beitrag und mit jeder Sonderausgabe versuchen, unseren Beitrag dazu zu leisten.

Wo aber Gefahr ist

Dies tun wir aber nicht einfach, weil wir nur selbst gerne spielen, sondern weil wir unseren Gegenstand für einen unter­suchungswürdigen und vor allem auch einen untersuchungsnotwendigen halten. Das Computerspiel (und auch die Computerspielkultur!) braucht die wissenschaftliche Aus­einandersetzung und das Hinterfragen seiner Prämissen, sowohl der offenen als auch der versteckten, sowohl der ludischen als auch der narrativen, vor allem aber auch der ideologischen und politischen. Denn was uns die ak­tu­ellen Entwicklungen von GamerGate hin zu rechtsextremen Grup­pierungen wie der sogenannten „Alt-Right“ zeigen, ist, dass das Computer­spiel und die es umgebende Kultur längst (und nicht ganz zufällig)2 Schauplatz gesell­schaftlicher und politischer Auseinander­setzungen geworden ist. Gerade als Geistes- und Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wollen wir dazu beitragen, solche Zusammenhänge aufzuzeigen, sie zu kontextuali­sieren, zu analysieren und, ja, auch zu kritisieren. Auch wenn diese Anlässe keine angenehmen sind, so wird daran doch die Aktualität und die zu­neh­mende gesell­schaft­liche Relevanz unseres Forschungsbereichs deutlich. Denn auch wenn Johann Huizinga in seiner Idealvorstellung von Spiel dessen Abgetrenntheit von der realen Welt, sogar „die zeitweilige Aufhebung der ‚gewöhnlichen Welt‘“3 betonte, ist das Spiel dennoch immer auch Teil einer sozialen und politischen Umwelt; und gerade weil jedes Spiel als ein Ausnahmeraum in sich immer auch absolut ist, es im Spiel also immer um alles geht, ist es zugleich auch ein Raum, in und mit dem, wie bereits Wolf­gang Iser festhielt, „immer alles auf der Kippe“4 steht. Deshalb ist es bei aller Begeisterung und Faszination für den eigenen Gegenstand absolut unerlässlich, sich weiterhin und zunehmend mit kritischer Distanz und Haltung dem Gegenstand und seinen historischen und aktuellen Kontexten zu nähern. An anderer Stelle nannten wir dies „engagierte Beobachtung“, „die die Relevanz des Beobachteten allein schon durch ihre Beobachtungen“5 unterstreicht.

Wenn wir damit einerseits unser Bemühen um analytische Distanz betonen, dann auch, weil wir andererseits davon überzeugt sind, dass Wissen­schaft­lerinnen und Wissen­schaftler verantwortungsvoll am öffentlichen Diskurs teilnehmen sollten. Die Kulturwissenschaften wissen um den unsicheren Grund ihrer Arbeit, um die Abhängigkeit des Beobachteten vom Akt des Beobachtens. Doch statt diesen Grund zu verstecken, sollte er ausgestellt, transparent gemacht werden und so etwas wie Objektivität auf zweiter Ebene, mindestens aber Nachvollziehbarkeit hergestellt werden. So kann Wissenschaft eine Form kritischer Haltung im Sinne Foucaults6 und zugleich der unbedingte Widerstand sein, den Jaques Derrida von ihr und für sie einforderte.7

Deshalb gilt unverändert das, was auch bei der Gründung Paidias galt: Wir stehen für eine medien-kulturwissenschaftliche Beobachtung von Com­pu­ter­­spielen und wir verstehen uns dabei als ein trans- und inter­disziplinär ausgerichtetes Journal, das Raum für ein kritisches und reflektiertes Nachdenken über die Formen, Inhalte und Entwicklungen des Mediums Computerspiel und seiner Kultur, aber eben auch seiner Erforschung gibt. In diesen Sinn betreiben wir weiterhin „advanced game studies“8 als Arbeit und als Spiel – allerdings als ein freies, forschendes Spiel, als das wir Caillois’ zügel-und regelloses Kinderspiel „Paidia“ verstehen.

Wer mit Paidia ins Gespräch kommen möchte: Wir sind jederzeit per E-Mail, Twitter und Facebook erreichbar. Wir freuen uns über Impulse, Diskussionen und neue Beiträge.

Viel Vergnügen bei hoffentlich erkenntnisreichen Lektüren wünschen

Herausgeber & Redaktion von Paidia

  1. Ladenthin, Volker: Zocker. In: Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch: Sozialwissenschaftliche Rundschau, H. 11, 1988, S. 60. []
  2. Unterhuber, Tobias: Emanzipation und Agency – Das Computerspiel als exemplarische Neuverhandlung gesellschaftlicher Ordnung. In: Texpraxis. In Vorbereitung. []
  3. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Übers. v. H. Nachod. Reinbek: Rowohlt 1994, S. 21 []
  4. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. 1993, S. 350. []
  5. https://www.paidia.de/?page_id=5202 []
  6. Foucault, Michel: Was ist Kritik? Übers. v. Walter Seitter. Berlin: Merve Verlag 1992, S. 12. []
  7. Vgl. Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität. Übers. v. Stefan Lorenzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 13. []
  8. Vgl. Schellong, Marcel https://www.paidia.de/?page_id=16 []

So zitieren Sie diesen Artikel:

Schellong, MarcelUnterhuber, Tobias: "Editorial 2016". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 01.01.2016, https://paidia.de/editorial-2016/. [21.12.2024 - 12:25]

Autor*innen:

Marcel Schellong

Dr. Marcel Schellong ist Referent für Studium und Lehre am Institut für Deutsche Philologie der LMU München. Weitere Informationen zur Person unter www.marcelschellong.de. Interessen und Arbeitsschwerpunkte: Theorien der Semiotik, nichtlineare Erzählmedien, Verhältnis von Spielen und Erzählen, Medienwissenschaft/Intermedialität, Literatur in München/Bayern.

Tobias Unterhuber

Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft an der LMU München und der University of California, Berkeley. 2018 promovierte er bei Prof. Dr. Oliver Jahraus mit einer Arbeit zum Thema "Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht". Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Zu seinen Forschungsinteressen zählt neben Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie und Gender Studies auch die kulturwissenschaftliche Computerspielforschung.