Durch die Leinwand - Eine Rezension zu Virginia

27. Oktober 2016

Sofort zum Verkaufsstart von Virgina 1 habe ich das Spiel mit viel Spannung begonnen. Wirklich verstanden, was ich jetzt genau spielen werde, habe ich vorher nicht. Die Trailer geben darüber nur lückenhaft Auskunft. Die zwei Stunden, die das Spiel dauert, war ich aber dann absolut eingesogen, emotional voll involviert, hoch erstaunt und am Ende etwas fertig, aber begeistert. Was mich genau be­schäftigt hat, will ich in dieser Rezension etwas näher erklären.

"A unique first pirson thriller" © 2016 505 Games GmbH

Das erste, das in Verbindung zu Virginia im Moment überall zu lesen ist, ist die offen­sichtliche Inspiration, die das Spiel aus Serien wie Twin Peaks, The X-Files und The Outer Limits gezogen hat. So schreibt ein Reviewer von Killscreen: „Yes, it shrouds itself in easy headline-worthy nostalgia triggers like Twin Peaks, with its setting of a small town with secrets, and The X-Files, from which it cribs two investigators—protagonist Anna Tarver and her partner Maria Halperin—on the trail of the paranormal“ 2 Dies bezieht sich nicht nur auf bekannte Elemente und Strukturen des Mystery-Genres, an denen sich Virginia bedient, denn die filmische Inspiration ist das gesamte Spiel in all seinen Teilen hindurch zu finden. Angefangen bei den stimmungs­­vollen, ausführlichen Opening-Credits, über die Musik bis hin zu der überall präsenten Film­technik verschiedener Bild­schnitte.
Die Geschichte selbst handelt von der frisch gebackenen FBI Agentin Anne Tarver, die gleich an ihrem ersten Arbeits­tag den Auftrag bekommt eine interne Ermittlung gegen eine Kollegin durch­zuführen. Sie soll mit ihr zusammen das Ver­schwinden eines Jungen aufklären und dabei gegen sie ermitteln. Erzählt wird das, ohne diese Tatsachen genau zu erklären. Die SpielerInnen müssen sich diese Details durch das Gezeigte selber zusammen­­­setzen. Im Weiteren begleiten wir Anne Tarver durch eine Woche aus Ermittlung, Freundschaft und Traumsequenzen, die nicht erkennbar von, aus intradiegetischer Perspektive als real betrachtete Gegebenheiten angesehenen, unter­scheidbar sind. Die weitere Grund­struktur der Geschichte genauer fest­zuhalten ist kaum möglich, da sie im hohen Maße von der individuellen Interpretation der Spielenden abhängig ist.
Die Musik nimmt von Anfang an eine ganz besonders wichtige Rolle ein. Da das gesamte Spiel ganz ohne ein einziges gesprochenes Wort auskommt, wird mit der orchestralen Musik­unterlegung, nach Vorbild einer Filmscore, eine emotionale Richtung vorgegeben. Allein durch Bilder, Schriftstücken und diese Musik wird die Geschichte erzählt. Dabei ist es erstaunlich, wie stark die emotionale Bindung ist, die dabei geschaffen wird. Die Stimmung der Bilder wird durch die Musik erst wirklich vermittelbar. Das Visuelle alleine reicht hier nicht aus, um den Charakteren Persönlich­keit zu geben und die Story zu erzählen. Zwar wird während des gesamten Spiels kein einziges Wort gesprochen, doch wäre Virginia ein voll­kommen anderes Spiel, würde es ganz ohne Ton gespielt werden.

Jumping into the Screen

Dabei sind die angesprochenen Bildschnitte ein wichtiges Stilmittel, das auch die Erzählung voran­treibt und bei Spielenden, die konventionelle Walking-Simulatoren und Adventure Games gewohnt sind, Irritationen hervorrufen. Die Bildschnitte erinnern an im Film verwendete „Jump Cuts“. In dem Film­lexikon der Uni Kiel sind diese folgendermaßen definiert:

Schnitt zwischen zwei Bildern, die hinsichtlich Kameradistanz und Bildausschnitt identisch sind, aber einen Sprung in der Handlung vollziehen. Ein Jump Cut ist sehr deutlich zu sehen und will auch deutlich wahrgenommen werden […]. Wichtig dabei ist, dass er nicht aus Unvermögen beim Filmen oder Schneiden entsteht, sondern beabsichtigt ist, um (a) zwei unterschiedliche Einstellungen zu verbinden, (b) zwei ähnliche Einstellungen voneinander zu trennen oder (c) weit getrennte Räume oder Zeiten zu verbinden. 3

Werden diese Jump Cuts nun auf ein Spiel angewendet, erfüllen sie weiterhin all diese Kriterien. Auch bei Virginia bleibt die Perspektive nach den Schnitten erstmal gleich. Anders ist nur, dass die Spielenden sich sofort innerhalb des neuen Bild­schnittes umsehen können, also auch hinter sich blicken. In den Abschnitt aus dem sie gerade kamen, der nun aber gänzlich anders aussieht. Das erzeugt eine noch höhere Irritation. Durch die Schnitte werden außerdem getrennte Räume verbunden oder sehr schnell über­brückt. Bezeichnend ist auch, dass eine Schnitt­technik übernommen wird, die auch im Film schon für bemerkbare Einschnitte und Irritationen führt. Eine Technik, die absichtlich auf den Schnitt hinweist, sozusagen immer wieder klarmacht, dass hier gerade ein gemachtes Medium betrachtet wird, und nicht versucht ihn zu über­decken.
Virginia ist selbst ausgestellt nicht echt, ist gemacht, geplant und designed. Fotorealismus wird nicht, wie in anderen aktuellen Spielen, die in Film­tradition stehen, in Richtung perfekter Nachbildung des realen Raumes angestrebt. Die Grafik bleibt auf einer sehr viel einfacheren Ebene. Genau hier lohnt es sich hervorzuheben, dass Computer­spiele eben nicht unbedingt eine interaktive Fortführung von Filmen sind. Sie sind natürlich von Filmtraditionen geprägt und inspiriert, aber gleichzeitig auch von anderen Medien. Die lineare Entwicklungslinie ist eben zu kurz gegriffen. Virginia tut etwas, was die meisten traditionellen Filme vermeiden, es weist dauernd auf seine Bild­schnitte hin, unterbricht Kontinuität, verletzt Regeln und produziert ständigen Bedeutungsüberschuss. Das öffnet neue Möglichkeiten.
SpielerInnen wird immer wieder die Kontrolle entzogen, sie werden sogar fast gewaltsam aus Räumen gerissen, die sie gerade, wie sie es gewohnt sind, erkunden wollen, nur um in eine neue Szene geworfen zu werden, deren Zusammenhang und Kontext oft erst selbst erschlossen werden muss und immer wieder selbst durch einen weiteren Schnitt und damit von einer neuen Szene abgelöst werden kann. Sie sind sozusagen in einem sehr linearen Filmverlauf „gefangen“. Doch im Gegensatz zu einem wirklichen Film steuern sie eben die Hauptfigur aus der Ego-Perspektive, können sich nach eigenem Belieben in Szenen umsehen und Blickwinkel suchen – sich auf das konzentrieren, was ihnen am interessantesten vorkommt. Zwar werden sie dann wieder durch einen Schnitt in eine neue Szene geworfen, doch auch hier gibt es wieder Erkundungs­freiheiten. Es ist fast so, als wäre man, wie in Vorabend­kinderserien oder in der Unendlichen Geschichte, in einen Film oder eben in ein anderes eindeutig gemachtes und nicht „echtes“ Werk, gefallen, der jetzt nach dessen eigenen Regeln erkundbar ist. Man wird zu Alice, die durch den Kaninchenbau in eine Welt gefallen ist, die sie nur zu einem kleinen Teil beeinflussen kann. Die Regeln, mit festgelegten Schnitten und der Geschichte nach bestehendem Drehbuch, bleiben, doch sie können sozusagen von innen erkundet werden, als wäre man in/durch die Leinwand gefallen. Im Gegensatz zum Film oder Buch sind wir nicht länger in einer Beobachter­position, wir sind Alice. Wir spielen ihre Rolle, statt sie zu verfolgen. Werden aber durch die Auslassungen in der Erzählung immer wieder mit der Interpretation alleine gelassen und können uns nicht ganz auf den Wahrheitsgehalt von gezeigten Dingen verlassen. Was für eine Zumutung.

Spiel oder nicht Spiel, ist das hier wirklich die Frage?

Dazu kommt noch der große Vorwurf, der Virginia gemacht wird: die „mangelnde Interaktion“. So ist das Fazit der PCGamer „A slick cinematic thriller, but interaction is limited […]” 4 Tatsächlich gibt es hier keine Dialogoptionen, wie auch? Ganz ohne Sprache zwischen den Figuren. Nur sehr wenige ausgewählte Objekte können von den SpielerInnen benutzt, angeschaut oder aufgehoben werden. Sogar die Länge der Betrachtung ist meist durch das Spiel limitiert. Die benutzbaren Objekte werden visuell markiert, wenn die SpielerIn sie anwählt. So ist schnell klar, wo der Weg als nächstes hingehen soll. Teilweise läuft es sich wie auf Schienen. Einen Gang runter, Schnitt, ein Treppenhaus, Schnitt, ein Keller, einzige Option ist geradeaus zu laufen.
Genau hier stellt sich noch einmal die Frage nach der angeblich fehlenden Inter­aktion und der daran oft anschließenden Frage, ob Virginia überhaupt als Spiel gelten kann. So schreibt der Steam-User Pommes: „Virginia ist ein Film. Nicht einmal ein interaktiver. Es gibt sogar häufig Schnitte während man sich bewegt“ 5. Da kommt es darauf an, wie man Interaktion definiert. Interaktion ist sehr viel mehr, als die Möglichkeit zu haben drei verschiedene Sätze sagen zu können. Ohne ständig genau das Geschehen und die neuen Umgebungen selber zu interpretieren, auszulegen und eigene Bedeutung in die Geschehnisse zu legen, ist Virginia nicht spielbar. Ich würde also be­haup­ten, dass Virginia ein sehr hohes Maß an Inter­aktion voraussetzt. Nur eben eine, die häufig nicht als solche anerkannt wird. Einen ähnlichen Weg des Erzählens geht Karla Zimonja, die als Mitgründerin der Fullbright Company, an der Entwicklung von Gone Home. beteiligt war. In einem Interview mit PAIDIA sagt sie:

So, in Gone Home, you're given sort of a pointillistic bunch of information about the characters. The player uses their social reasoning to – outside the information actually given – put together the story's pieces. Understanding and questioning the narrative takes place only in the player's head. 6

Diese Art von Interaktion als Interpretationsakt ist also auch im Computer­spiel keine gänzlich neue. Wahrscheinlich ist es die Tatsache, dass sich Virginia weder vollkommen an Filmkonventionen, noch an Spiel­kon­ventionen hält, die dazu führt, dass das Bewertungsportal bei Steam mit verärgerten Rezensionen gefüllt ist, die sich über zu wenig Interaktion und gleichzeitig über keine klar vorgegebene Geschichte beschweren. Wie schon vorher geschrieben, ist das Spiel eben nich bequem, sondern fordert ständig heraus, ob nun zum mitdenken, interpretieren oder sich in neuen Räumen zurecht­finden. So schreibt der Steam-User bluehawke: „You have no agency, there is no sense of exploration, you can't affect any outcome, and you never have any option to choose. You pretty much walk through a series of very linear levels with usually only one object to interact with at any given time” 7. Entweder sollen doch bitte die Spielenden allmächtig über den Fortgang des Geschehens und den Weg der Figuren bestimmen können, oder es soll wenigstens eine ‚richtige‘ Geschichte geben, die keinerlei Interpretations­spielraum lässt und nicht erst zusammengedacht werden muss. Beides bietet Virginia nicht. RezensentInnen beschweren sich über die Verworren­heit und dass das Spiel keinen Sinn ergibt. Andere beschweren sich darüber, dass Schriftstücke, die wichtig für die Geschichte sind nicht so lange gelesen werden können wie man will, sondern zu Beginn tatsächlich viel zu kurz, um alles lesen zu können. An vielen Stellen spielt Virginia sehr gekonnt mit Erwartungen von Spielenden. So zum Beispiel ganz zu Beginn, wenn das Betätigen einer Playtaste an einem Kassettenrecorder nicht erwartete Hintergrundinformationen bringt, sondern einen Schnitt in eine weitere Szene hervorruft und Spielende aus der Inter­aktion wirft. So scheint der Ein­druck zu entstehen, das Spiel würde seine SpielerInnen hintergehen, indem es Aktionen, die hoch konventionalisierte Resultate haben, anders besetzt. So ist das Spiel keine sichere bekannte Umgebung mehr, in der jedes Resultat einer Aktion schon vorher bekannt ist, sondern eine unsichere, in der Erwartungen missachtet werden und Resultate abweichen.

Die Machtfrage

Die hohe Zahl der negativen Nutzer­rezensionen auf der Plattform Steam ist ein Zeichen dafür, dass Spiele immer noch vor allem durch eine Exklusion von un­erwünschten Elementen definiert werden. Sobald sie nicht einfach nur Spaß machen und ein vollkommen erkundbare Welt des Realitäts­eskapismus darstellen, wird ihnen der Status als Spiel ab­ge­sprochen. Dabei zeigt Virginia nicht etwa, was Spiel nicht ist, sondern wie vielfältig und innovationsfähig Spiel sein kann. Dass Spiel nicht unbedingt eine bequeme Eskapismus-Welt ist, sondern auch un­angenehm auf­stoßen, Denk­vorgänge fordert und als bekannt an­genommenes in Frage stellen kann.
Spannend dabei ist allerdings, dass Walking Simulations, die bei ihrem Erscheinen als zu wenig interaktiv be­schrieben wurden und denen der Status als Spiel ebenfalls abgesprochen wurde, nun in einigen Rezensionen als positive Gegenbeispiele aufgeführt werden. So der User PsychoticRabbit auf Steam:

The lack of interactivity in the environments are more reminiscent than a sparse model home than the life-filled spaces of Gone Home or Firewatch. Unfortunately, it doesn't have the same charm of other "walking simulators" to carry it.  8

Neue Formen von Spielen, die andere Modelle der Interaktion nutzen, oder absichtlich mit Konventionen brechen, scheinen sich also durchaus mit der Zeit ebenfalls zu konventionalisieren und somit das von Spielenden akzeptierte Feld der Spiele zu erweitern. Spiele werden immer weiter selbst­reflektierend mit gängigen Konventionen brechen, das Genre an sich reflektieren und es so vorantreiben und stetig erweitern. Widerstand gegen neue Formen des Erzählens sind kein Phänomen, das es erst seit der Erfindung des Computerspiels gibt. Literatur sowie Film, und weitere Medien, die Erzählung hervorbringen, vollziehen diese Prozesse ebenfalls und bis heute. Und selbst dabei sind diese Medien nicht untereinander voneinander abgeschottet, sondern wirken durch Remediationen immer wieder gegenseitig auf sich ein.
Virginia erzeugt Irritationen und versucht erst gar nicht eine schöne spaßige Welt zu erstellen, in die sich Spielende verstecken können um „Spaß zu haben und abzuschalten“. Genau wie auch Literatur oder Film Kontingenz entweder verringern oder vergrößern können, besitzt Spiel auch beide Mechanismen. Zeit wird es, dass Spielenden ihre als Anspruch, etwas was ihnen automatisch zusteht, verstandene Macht über Spiel­figuren, Handlung und Dialog in Computer­spielen teilweise genommen wird. Nur so, können Computerspiele sich aus der Betrachtung als lustige Ablenkung und dem Status des „nur ein Spiel“ bewegen und als Medien agieren, die aktuelle Diskurse be­arbeiten und be­einflussen.

Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien

Spiele

Variable Stable: Virginia (PC). 505 Games 2016.

Texte

bluehawke auf Steam, <http://steamcommunity.com/profiles/76561198053565444/recommended/374030/> [12.10.2016].
Budgor, Zach: Virginia needs to go back to Film School. <https://killscreen.com/articles/virginia-vague-jumble-ideas/> [21.10.2016].
Kelly, Andy: „Virginia Review“, in: PCGamer. September 2016. <http://www.pcgamer.com/virginia-review/> [12.10.2016].
Lexikon der Filmbegriffe. Uni Kiel. <http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=217 > [ 12.10.2016].
Pommes auf Steam, <http://steamcommunity.com/id/tpommer/recommended/374030/> [12.10.2016].
PsychoticRabbit auf Steam. <http://steamcommunity.com/app/374030/reviews/?browsefilter=toprated&snr=1_5_reviews_&filterLanguage=all> [19.10.2016].
Unterhuber, Tobias: The Art of Congruency – PAIDIA in conversation with Karla Zimonja. 2015. <https://www.paidia.de/?p=6448>.  [19.10.2016].

  1. Variable Stable: Virginia. 2016. []
  2. Budgor: Virginia needs to go back to Film School. 2016. <https://killscreen.com/articles/virginia-vague-jumble-ideas/> [21.10.2016]. []
  3. Lexikon der Filmbegriffe. Uni Kiel. <http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=217> [ 12.10.2016.] []
  4. Kelly: Virginia Review. September 2016. <http://www.pcgamer.com/virginia-review/> [12.10.2016]. []
  5. Pommes auf Steam, <http://steamcommunity.com/id/tpommer/recommended/374030/> [12.10.2016]. []
  6. Unterhuber: The Art of Congruency – PAIDIA in conversation with Karla Zimonja. 2015. <https://www.paidia.de/?p=6448>.  [19.10.2016]. []
  7. bluehawke auf Steam, <http://steamcommunity.com/profiles/76561198053565444/recommended/374030/> [12.10.2016]. []
  8. PsychoticRabbit auf Steam. <http://steamcommunity.com/app/374030/reviews/?browsefilter=toprated&snr=1_5_reviews_&filterLanguage=all> [19.10.2016]. []

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Lindner, Johanna: "Durch die Leinwand - Eine Rezension zu Virginia". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 27.10.2016, https://paidia.de/durch-die-leinwand-eine-rezension-zu-viginia/. [21.11.2024 - 09:39]

Autor*innen:

Johanna Lindner

Johanna Lindner studierte Germanistik und Geographie an der LMU München.