„Du sollst nicht mit dem Feuer spielen!“ – Verhandlung von Normen und Werten in Harveys neue Augen und Perspektiven für den Deutschunterricht
Medien wie Bücher, Filme und Computerspiele sind Narrationen, die als Element der Organisation von Wissen funktionieren. 1 Geschichten funktionieren für Menschen als sprachlicher Weltzugang. Sie organisieren Wissen, bilden kulturelle Muster ab und bieten einen sprachlichen Gesamtzusammenhang an. Das Spiel hat dabei einen besonderen Stellenwert. Schon Johan Huizinga schrieb 1938, dass das Spiel schon vor der Kultur selbst vorhanden ist und sich diese aus dem Spiel formt. Das Spiel als „heilige Sphäre“ 2 ist demnach unabdingbar für das menschliche Leben und sinnstiftend für die Gemeinschaft 3. Über das Spiel wird also gemeinschaftliches innerhalb eines geschützten Raumes verhandelt. Genau dieser Faktor macht das Computerspiel zu einem perfekten Mittel, um gesamtgesellschaftliche Themen zu diskutieren und zu untersuchen. So auch Fragen nach der normativen Organisation des Zusammenlebens und der Rolle des Individuums in dieser Organisation. Verschiedene Normen- und Wertmuster können von Spielen übernommen werden, gleichzeitig können diese Themen innerhalb des geschützten Rahmens probehalber geändert und karikiert werden.
Genau das kann für den Deutschunterricht produktiv genutzt werden, um Werte- und Normenfragen zu untersuchen. Im Deutschunterricht geht es – nach dem Lehrplan für das bayerische Gymnasium – auch immer um wertbezogene Fragen, die zur Persönlichkeitsbildung der SchülerInnen beitragen. Des Weiteren sollen „Verständnis und Verantwortungsbereitschaft für Mensch und Welt Leitziele des Faches“ 4 sein.
Es stehen im Moment von staatlicher Seite nur ungenaue Ziele des Deutschunterrichts im Bezug auf die Vermittlung von Werten fest. Es wird nicht klar benannt, welche Werte genau auf welche Weise vermittelt werden sollen. Die Frage ist hier, ob es überhaupt nötig oder sinnvoll ist, genaue Werte vorzugeben, die vermittelt werden sollen. Die Schule, als Institution des Staates, könnte durch unreflektiertes Vermitteln von scheinbar beliebigen Werten schnell in Ideologieverdacht geraten. Sabine Anselm schlägt stattdessen vor:
Statt einer „Wertevermittlung“ werden Begründungen für Werte thematisiert und reflektiert. Die Schüler sollen lernen, die Maßstäbe, die angelegt werden, zu bewerten. 5
Sie plädiert dafür, SchülerInnen statt konkreter Werte besser eine Grundlage zu geben, mit der sie Werte selbst reflektieren, erkennen und einordnen können. So findet zwar durchaus noch Wertevermittlung statt, da diese unter anderem schon mit der Themenauswahl beginnt, doch gleichzeitig soll ein Inventar mitgegeben werden, mit dessen Hilfe SchülerInnen selbst entscheiden können, wie sie bewusst mit diesen Werten umgehen.
Dieser Artikel soll zeigen, wie das Spiel Harveys neue Augen 6 Werte und Normen verhandelt, was sich aus dieser Darstellungsform ableiten lässt und wieso es deswegen besonders gut für den Themenkomplex der Werteerziehunggeeignet ist.
Das Spiel ermöglicht durch seine Form einen einfachen Einstieg in den Umgang und die Betrachtung des Mediums Computerspiel. Durch die simple Spielmechanik ist es auch für unerfahrene SpielerInnen einfach zu erlernen und zu erfahren. Zudem ist es ein Spiel eines deutschen Entwicklers und ermöglicht so Anschluss im Hinblick auf diejenigen kulturelle Normen, die SchülerInnen aus ihrer Alltagswelt kennen und so gut mitvollziehen können. Dass die Hauptfigur eine Schülerin im Umfeld einer Klosterschule ist, bietet zudem Anschlussfähigkeit an die eigene lebensweltliche Erfahrung der SchülerInnen.
Am Beispiel von Harveys neue Augen lassen sich drei Erkenntnisziele ausmachen, die für die Entwicklung einer Wertereflexionskompetenz entscheidend sind:
- Normen können als Ordnungsprinzip unserer Welt funktionieren und sind notwendig, um gesellschaftliches Zusammenleben zu organisieren.
- Werte dienen als Individualisierungsprinzip zur Selbstreflexion und zur eigenen Positionierung innerhalb einer Gemeinschaft.
- Das Verständnis von Werten und Normen und dafür, dass sie immer wieder gegeneinder abgewogen werden müssen, ermöglicht einen analytischen Blick auf die Welt und bietet das Potential, sich selbst zu verwirklichen.
Als Normen lässt sich ein System von festgeschriebenen oder unausgesprochenen Regeln fassen, die sich in der Regel aus mehrheitlicher Übereinstimmung von Werten einer Gruppe ergeben. Normen sind also konstruiert und können sich im Lauf der Zeit verändern, wenn sich das Wertesystem der Gruppe oder die Machtverhältnisse verschieben. Normen äußern sich individuell durch ein Gefühl von Normalität und gesellschaftlich durch Gesetze. Verfehlungen gegen das Normensystem werden gesellschaftlich sanktioniert.
Werte werden auf Grundlage eines gesellschaftlichen Normensystems individuell ausgebildet. 7 Sie können die Normen dieses Systems entweder bestätigen oder ihnen widersprechen. Insbesondere dort, wo Werte nicht mit gesellschaftlichen Normen übereinstimmen, bieten sie Potential zur Individualisierung. Durch Zustimmung oder Ablehnung gesellschaftlicher Normen dienen sie der Positionierung des Einzelnen in der Gesellschaft. Verfehlungen gegen das eigene Wertsystem werden durch das Gewissen individuell sanktioniert.
Beide Systeme beeinflussen sich in einem ständigen Kreislauf gegenseitig. Die wechselseitige Abhängigkeit von Werten und Normen macht dabei deutlich, wie entscheidend eine Reflexion zum Verständnis der Übergangsprozesse beiträgt. Um die Begriffe vermitteln zu können und auch um einen beispielhaften Zugang zur Thematik für den Deutschunterricht zu eröffnen, empfiehlt sich die Vermittlung mithilfe eines Beispiels. Warum sich gerade das Computerspiel Harveys neue Augen dazu eignet, soll im Folgenden erörtert werden.
Werte und Normen in Harveys neue Augen
Harveys neue Augen ist ein Point-and-Click-Adventure, in dem die SpielerInnen die Schülerin Lilli durch eine comichafte Welt steuern. Die spielerische Herausforderung besteht im Wesentlichen aus kausal nachvollziehbaren Logik- und Itemrätseln, die kognitiv gelöst werden müssen, um die erzählte Geschichte voranzubringen 8. Diese steht demnach klar im Vordergrund.
Die Handlung des Spiels dreht sich explizit um das Verhältnis von Werten und Normen. Lilli steht einem von Erwachsenen aufgestellten Katalog von Regeln gegenüber, die sie im Verlauf des Spiels umgehen oder re-interpretieren muss, indem sie wiederholt die Absurdität von verallgemeinernden Normen beweist. Dabei wird von den Figuren, die Lilli umgeben, immer wieder die Notwendigkeit persönlicher Freiheit und individueller Wertereflexion thematisiert.
Inhaltlich spielen Gewalt und Tod eine zentrale Rolle, da Lilli im Verlauf des ersten Aktes zahlreiche Mitschüler durch Naivität und mangelnde Voraussicht umbringt. Die Folgen ihres Handelns scheint sie dabei überhaupt nicht wahrzunehmen. Erst im Spielfortschritt lernt sie die Auswirkungen ihrer eigenen Handlungen kennen und erlangt dadurch gewissermaßen innerhalb ihrer Charakterentwicklung eine Handlungs- und Wertereflexionskompetenz.
Die visuelle Darstellung des Spiels zeichnet sich durch eine bunte und simplifizierte Charakter- und Hintergrundgrafik aus. Gewalt wird nicht direkt gezeigt, sondern ereignet sich Off-Screen. Kehrt Lilli in die entsprechenden Bildräume zurück, sind diejenigen Figuren, die im Verlauf der Handlung gestorben sind, von fröhlichen Fantasiewesen mit rosa Farbe übermalt. Sie sind damit einerseits für Lilli unkenntlich gemacht, für die SpielerInnen jedoch hervorgehoben. 9 Lillis Charakter wird maßgeblich durch ihre Interaktionen mit der Umwelt und den anderen Figuren gekennzeichnet. Sie erscheint als brave, gehorsame Schülerin, deren oberste Priorität das Erfüllen ihrer aktuellen Aufgabe ist. Als Kontrastfigur dazu wirkt Edna rebellisch und abenteuerlustig. Die Oberin Mutter
Ignatz wird als Antagonistin vorgestellt. Sie hält an einem unverrückbaren Wertesystem fest und nutzt ihre Autorität, um SchülerInnen zu bestrafen, die ihr nicht darin folgen.
Das narrative Sujet der Gewalt widerspricht der visuellen Darstellung. Die Thematik von Gefahr, Verletzung, Tod und psychischen Störungen wird bereits im Tutorial angesprochen und kontrastiert die fröhliche Comicwelt. Insbesondere der Erzähler, der sich bei der Schilderung der Todesfälle vorwiegend über Lillis Naivität lustig macht, verkörpert die Ambivalenz zwischen inhaltlicher Gewaltthematik und dem für das Spiel charakteristischen Humor. Vor dem Hintergrund dieses Erwartungsbruches verhandelt das Spiel das Verhältnis von Normen und Werten. Erst indem hinterfragt wird, in welchen Situationen es legitim oder sogar notwendig ist, feststehende Verbote zu überwinden, entwickelt sich bei Lilli eine Reflexionsfähigkeit, die sich durch Interpretation auf die SpielerInnen des Computerspiels übertragen lässt. Insbesondere durch eine mediale Dopplung im letzten Akt von Harveys neue Augen wird dies deutlich: Lillis Handlungsreflexion wird erst durch den Eintritt in ein Spiel im Spiel angestoßen. Indem Lilli in eine Spielwelt eintaucht und dort zur Erkenntnis ihrer Situation gelangt, stellt sich schließlich ein Fortschritt in ihrer Realität ein. Da sie als Protagonistin des Spiels primäre Identifikationsfigur für die SpielerInnen ist, 10 wird auch diesen ermöglicht, durch Reflexion des Spiels Harveys neue Augen Konsequenzen für ihre eigene Lebenswelt zu ziehen. Indem die SpielerInnen außerdem selbst aktiv die Handlung bestimmen, ergibt sich über das Spiel ein noch direkterer Zugriff auf die Welt. 11 Das Spiel regt somit auf inhaltlicher, visueller und persönlicher Ebene zur Interpretation an, mithilfe derer ein Normbewusstsein geschaffen und eine Wertereflexion eingeleitet wird..
Normen als Ordnungsprinzipen: Warum wir über tote Kinder lachen
Trotz der inhaltlichen Verhandlung von Tod, Unfällen und Gewalt in Harveys neue Augen wirkt das Spiel komisch. Die Tatsache, dass insbesondere Kinder ums Leben kommen, wirkt nicht etwa verstörend, sondern lustig. Um den Ursprung dieses auf den ersten Blick fragwürdigen Humors zu untersuchen, soll im Folgenden der Begriff der Komik mit Normalität in Verbindung gebracht werden.
Komisch wirkt etwas immer dann, wenn z.B. Erwartungen durchbrochen werden. Also etwas Anderes passiert, als es die Norm vorgeben würde.
Die Zuschreibung des Prädikats ‚komisch‘ ist eine Funktion von sozialisatorisch erworbenen Erwartungen, die durch Wissen, Werte, Gefühle und Zielsetzungen bestimmt sind. 12
Wird unser Weltwissen um vorherrschende Normen von gegenteiliger Handlung gestört, kann das also lustig auf uns wirken. Wer zusammen über etwas lacht, hat auch ähnliche Erwartungen an das als normal zu erwartende Geschehen. Harveys neue Augen lebt vor allem von einem Humor, der sich genau diesen Mechanismus zu eigen macht. Erwarten wir beispielsweise, dass Lilli einem Schüler, der in einen Brunnen gefallen ist, hilft und damit unseren sozialisierten Handlungsnormen nachkommt, wird unsere Erwartung stark gebrochen. Denn sie kümmert sich gar nicht um den Schüler, der ihre Hilfe benötigt, sondern führt stur ihren Auftrag aus und tötet den betroffenen Schüler dabei sogar. Ihre persönliche Handlungsprämisse ist die Ausführung des Auftrags der Oberin. Sie ist außerdem so sehr mit ihren Aufgaben beschäftigt, dass sie den Tod gar nicht bemerkt bzw. verkennt. Hier treffen Grundnormen der Gesellschaft wie „unterstütze einen Hilfsbedürftigen“ auf individuelle Handlungspriorisierung.
Am Brunnen-Beispiel lässt sich auch ableiten, dass wichtige soziale Normen, wie „hilf deinem Nächsten“ durchaus positive regelnde Eigenschaften besitzen, die eine freie Persönlichkeitsentfaltung und ein friedliches Zusammenleben erst möglich machen. Dies betrifft SchülerInnen direkt, die sich jeden Tag in von Eltern, Schule und sonstigen Instanzen vorgegebene Normen einfügen müssen. Wenn Normen jedoch unreflektiert in Handlungen umgesetzt werden, wie bei Lilli, zeigen sich Irritationen und Erwartungsbrüche. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass nur ein reflektiertes Normensystem zur sinnvollen Organisation gesellschaftlichen Zusammenlebens führt.
Erst, wenn die Sinnhaftigkeit einzelner Normen oder Verbote hinterfragt wird, kann mit Bezug auf persönliche Werte eine mündige Individualisierung innerhalb des konventionalisierten Normensystems erfolgen.
Werte als Individualisierungsprinzip zur eigenen Selbstreflexion
Die Spielfigur Lilli versucht, sich anhand der vorgebenden Normen in das dargestellte soziale Gefüge zu integrieren und scheitert dabei zunächst. Dieses Scheitern liegt dem fehlenden Reflexionsprozess über ihre Handlungen zugrunde. Nicht nur die Oberin Ignatz, auch deren Musterschülerin Birgit macht Lilli darauf aufmerksam: „Dir fehlen scheinbar ein paar wichtige Lektionen in Sachen Werte und Normen.“ In Lillis Handlungen zeigt sich, dass Vorgehen nach unreflektierten Normen negative Folgen haben kann und somit die individuelle Wertereflexion und die Ausbildung eigener Wertvorstellungen sowohl für die eigene Persönlichkeitsentwicklung als auch für die Mündigkeit in der Gesellschaft erforderlich sind.
Die Normen, die Lilli schließlich durch die Hypnosepuppe Harvey vorgeschrieben bekommt, sind explizite Verbote, die Lillis Handlungsmacht (agency) 13 bedeutend einschränken. Um diese zurückzugewinnen, muss sie die Normen hinterfragen bzw. die Sinnlosigkeit von Generalisierungen offenlegen. Das Verbot „Du sollst nicht mit dem Feuer spielen“ mag zwar zum Schutz von Kindern sinnvoll erscheinen, eine Durchsetzung der Regel ohne Ausnahmen beschränkt jedoch einerseits das Verständnis für die Regel selbst, andererseits verhindert sie, dass der verantwortungsvolle Umgang damit gelernt wird.
Lilli gelingt es, die Norm zu durchbrechen und sie erfährt das produktive Potential von Feuer. Sie lernt, dass Feuer Licht und Wärme bedeutet und auch, dass seine Zerstörungsmacht zum Positiven genutzt werden kann. Dieses zweckorientierte Handeln schließlich ist es, dass die Reflexion ermöglicht: Indem Lilli eigene Werte ausbildet, ist sie in der Lage, Normen zu beurteilen und sich gegenüber dem vorgegebenen System zu individualisieren.
Wertereflexionskompetenz ermöglicht Zugriff auf die Welt
Ich drücke mich nur vor meiner Verantwortung. Der Verantwortung vor mir selber, das Angebot, das mir die Welt da draußen unterbreitet hat, auch anzunehmen. (Bienenmann, Harveys neue Augen, Akt III.)
Das Beispiel Harveys neue Augen zeigt, dass das unreflektierte Ableiten von Handlungsprämissen aus einem gefestigten Normensystem eine Einschränkung der Handlungsmacht und damit die Aufgabe individueller Freiheit bedeuten kann. Erst durch Reflexion des vorherrschenden Normensystems und der eigenen Werte kann die Handlungsfreiheit zurückgewonnen werden. So wie der Bienenmann im dritten Akt des Computerspiels in einer existentialistischen Epiphanie aus seiner neu gewonnenen Freiheit eine Verantwortung für die Welt ableitet 14 , kann auch im Rahmen des Deutschunterrichtes aus der Wertereflexion eine Verbindung zur Lebenswelt der SchülerInnen hergestellt werden.
Das pflichtbewusste Erfüllen von Aufgaben ist zunächst Selbstzweck der gehorsamen Schülerin Lilli. Erst als sie nicht mehr unter der unmittelbaren Obhut der Oberin als normgebender Autorität steht, ist sie gefordert, eigene Entscheidungen zu treffen. Dafür muss sie eigene Ziele b. Die Normen, die sonst klare Verbote bedeuten, werden hinterfragt und weil sie eher als Hinweise erkannt werden, denn als legitime Verhaltensanweisungen, werden sie als sinnlos entlarvt und umgangen. Ihr Handeln wird fortan von dem Ziel bestimmt, Edna zu helfen. Das Unterstützen einer Freundin in Not ist dabei ein Wert, den Lilli wie bereits gezeigt zu Beginn der Erzählung noch vermissen ließ. Erst durch Wertreflexion lernt sie, Verantwortung zu übernehmen.
Im weiteren Verlauf der Spielhandlung gelangt Lilli schließlich an einen Punkt, an dem sie in der Lage ist, auch ihre eigenen Handlungen zu erkennen. Im „Tal der unbequemen Erinnerungen“ folgt auf die Reflexion ihrer Handlungsnormen auch noch die Reflexion ihrer Handlungen selbst. Lilli ist ab diesem Moment in der Lage, klarer zu sehen, also ein besseres Verständnis ihrer Welt zu erlangen.
Am Beispiel des vorliegenden Computerspiels lässt sich zeigen, welche Bedeutung der Vermittlung einer Normen- und Wertereflexionskompetenz zukommt. Regeln und Normen organisieren zwar das menschliche Zusammenleben, ein unreflektiertes Befolgen dieser beschränkt jedoch die individuelle Freiheit. Erst wenn das Handeln auf eigene Werte zurückgeführt wird, ergibt sich die Möglichkeit einer Individualisierung und der selbstbestimmten Verortung innerhalb einer Gemeinschaft. Das Erlangen von Wertereflexionskompetenz und individueller Freiheit wiederum ermöglicht einen analytischen Zugriff auf die Welt und erlaubt es, sich selbstständig zu entwickeln.
Das Leitziel des Faches Deutsch, Verständnis für die Welt zu entwickeln, kann demnach durchaus ohne die konkrete Vorgabe spezifischer zu vermittelnder Werte erreicht werden. Das Verstehen der Bedeutung von Normen und Werten und der reflektierte Umgang damit schaffen bereits einen gewichtigen Beitrag zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung.
Computerspiele wie Harveys neue Augen zeigen zudem, wie sich kulturelle Ordnungsprinzipien in allen medialen Formen wiederfinden lassen und wie sowohl auf inhaltlicher als auch auf stilistischer Ebene Werte vorgestellt sowie verhandelt werden können. Dabei entstammt die Nutzung von Computerspielen dem lebensweltlichen Alltag der SchülerInnen. Die Reflexion der Ergebnisse wiederum wirkt sich unmittelbar auf diese Lebenswelt aus. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht nur sinnvoll, sondern geradezu notwendig, Computerspiele als Zugang zu weltorganisierenden Themen zu nutzen.
Ein Großteil der Vorarbeiten dieses Artikels entstand in Zusammenarbeit mit Bernhard Pleintinger im Rahmen des Projekts Brückensteine der LMU München, das die fachwissenschaftliche und fachdidaktische Ausbildung von Lehrern mit der Praxiserfahrung zusammenführt.
Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien
Spiele
Daedalic Entertainment: Harveys neue Augen. Mönchengladbach: Rondomedia 2011.
Texte
Anselm, Sabine: Ethische Bildung durch Wertreflexionskompetenz. Überlegungen zur Werteerziehung (nicht nur im Deutschunterricht). In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. 4/2012. Göttingen: V&R unipress 2012, S. 401-415.
Backe, Hans-Joachim: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.
Bordwell, David; Thompson, Kristin: Film Art. An introduction. Ninth Edition. New York: McGraw-Hill 2010.
Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1938). Hamburg: Rowohlt 2013.
Joas, Hans: Die Entstehung der Werte. Berlin: Suhrkamp 1999.
Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main: Fischer 2012.
Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint (1948). In: Ders.: Schriften I. Weinheim: Quadriga 1986, S. 61-70.
Marschall, Susanne: Farbe im Kino. Marburg: Schüren 2009.
Murray, Janet H.: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. Cambridge, MA: The Mit Press 1998.
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts (1943). Hamburg: Rowohlt 2006.
Schmidt, Siegfried: Inszenierung der Beobachtung von Humor. In: Block, Friedrich; Kotthoff, Helga; Pape, Walter (Hg.): Komik – Medien – Gender. Kulturen des Komischen. Band 3. Bielefeld 2006, S. 19-52.
Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München, Fachprofil Deutsch. 2004. <http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26358> [06.12.2015].
Venus, Jochen: Erlebtes Handeln in Computerspielen. In: GamesCoop: Theorien des Computerspiels. Hamburg: Junius 2012, S. 104-127.
- vgl. Koschorke: Wahrheit und Erfindung. 2012, S. 329. [↩]
- Huizinga: Homo Ludens (1938). 2013, S. 18. [↩]
- ebd. S. 17. [↩]
- Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München, Fachprofil Deutsch. 2004. <http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26358> [06.12.2015] [↩]
- Anselm: Ethische Bildung durch Wertreflexionskompetenz. Überlegungen zur Werteerziehung. 2012, S. 407. [↩]
- Daedalic Entertainment: Harveys neue Augen. Rondomedia 2011. [↩]
- Vgl. Joas: Die Entstehung der Werte. 1999. Die in diesem Artikel verwendeten Definitionen von Werten und Normen gehen weitgehend auf Joas zurück. [↩]
- Vgl. Backe: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. 2008. S. 366. Die Handlung in Harveys neue Augen entspricht demnach der Makrostruktur des Spiels, die die Motivation weiterzuspielen bestimmt. [↩]
- Zur Bedeutung von Farbe in der medialen Rezeption vgl. bspw. Bordwell; Thompson: Film Art. 2010, S. 59. Vgl. außerdem Marschall: Farbe im Kino. 2009, S. 37. [↩]
- Die SpielerIn konstituiert sich immer wieder durch ihre Spiegelung selbst. Im Falle des Spiels spiegelt sie sich in der Protagonistin und setzt sich so demnach zusammen. Vgl. Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (1948), 1986. S. 64. [↩]
- Vgl. Venus: Erlebtes Handeln in Computerspielen. 2012, S. 106. [↩]
- Schmidt: Inszenierung der Beobachtung von Humor. 2006, S. 23. [↩]
- Murray definiert den Begriff der agency 1998 in Hamlet and the Holodeck als „the satisfying power to take meaningful action and see the results of our decisions and choice“. S.324. Bei Büchern und Filmen ist die RezipientIn vor allem dem Erwarten und Erfüllen oder Nichterfüllen ausgeliefert. In Spielen erhält sie mehr agency, kann also in bestimmten Grenzen mitbestimmen, welche ihrer Erwartungen erfüllt werden sollen und welche nicht. Dies lässt sich grob mit Handlungsmacht über das Geschehen und die Figur übersetzen. [↩]
- Der gleiche Schluss lässt sich bspw. bei Sartre finden. Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts (1943). 2006, S. 950. [↩]