Doc Game oder Reenactment Game? Zur Be­wer­tung des Do­ku­men­tarischen in „do­ku­men­ta­ri­schen Computer­spielen“

6. Mai 2015
Abstract: Im Gegensatz dazu, was der Genretitel 'Doc Games' vermittelt, besitzen die dazugehörigen digitalen Spiele keine Merkmale des Dokumentarischen, aber sie können auf den ludischen Rezipienten dokumentarisch wirken. Bereits (design-)technische wie auch narrative Grundstrukturen dieser Spiele wirken dem dokumentarischen Gehalt von darin platzierten Realitätsmarker entgegen. In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, dass aufgrund der spezifischen Gemachtheit digitaler Spiele der Unterhaltungsfaktor als die Vermittlung von Information in dokumentarischem Stil im Vordergrund steht.

Die Bezeichnung „dokumentarisches Computerspiel“, „documentary game“ oder auch „Doc Game“ ist verhältnismäßig jung. Sie entstand um 2005 und wurde zunächst vor allem von Spieleentwicklern mit der Absicht gebraucht, für die eigenen Erzeugnisse ein ansprechendes, innovatives Label zu finden. Im Allgemeinen werden bestimmte Spiele aus dem Bereich der „Serious Games“, 1 d.h. der Lern- und Bildungsspiele zu den dokumentarischen Computerspielen gerechnet. Ihr besonderes Kennzeichen ist dabei ein ausgeprägter Realitäts- beziehungsweise Realweltbezug, 2 der sich – wie im Folgenden zu sehen sein wird – auf unterschiedlichen Ebenen einstellen kann.

Seit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Theoretisierung von Doc Games, die bisher nur begrenzt an Umfang gewonnen hat, 3 wurde wiederholt in Frage gestellt, ob die Bezeichnung „dokumentarisches Computerspiel“ adäquat und treffend sei. Da der Begriff zunächst von der Produzentenseite proklamiert wurde, ihm also statt eines analytisch verifizierbaren Konzepts in erster Linie eine Marketingstrategie zugrunde liegt, bezeichnet Tracy Fullerton in ihrer Auseinandersetzung mit Doc Games den Begriff auch als „aspirational pre-naming“ (Fullerton 2008), d. h. als Begriffsbildung, an die sich die Hoffnung knüpft, dass sich allein durch die Proklamation dieses Signifikanten ein zugehöriges Signifikat finden lässt oder entstehen wird. Entsprechend werten auch Bogost/Poremba 2008 Doc Games als eine „von einem frommen Wunsch geleitete Übernahme eines Genres, in der Hoffnung, dass allein die Namensgebung dieses [Genre] ins Leben rufen werde“ 4. Statt einer stärker kritischen Reflexion, die eventuell auf eine Ablehnung des Begriffs hinausliefe, wurde die Bezeichnung „dokumentarisches Computerspiel“ in der wissenschaftlichen Auseinander­setzung jedoch allgemein übernommen und es wurde implizit affirmativ nach Vergleichspunkten gesucht, die am Dokumentarfilm als Prototyp eines dokumentarischen Medienprodukts beobachtet werden können und die sich ähnlich bei bestimmten Computerspielen nachweisen lassen. 5
Der vorliegende Aufsatz geht einen anderen Weg, indem er zunächst getrennt die elementaren Charakteristika von Computerspielen einerseits und jene von dokumentarischen Kommunikationsformaten andererseits klärt, ehe eine eventuelle Kompatibilität dieser beiden Medientypen geprüft wird. Der heuristische Grundgedanke bei dieser Art des Vorgehens ist, dass Doc Games, sofern es sie gibt, genau im Schnittbereich der Merkmals­mengen des Dokumentarischen und des Computerspiels liegen müssen. Lässt sich ein solcher Schnittbereich finden, ergibt sich zugleich eine scharfe Begriffsdefinition des „dokumentarischen Computerspiels“; ist er jedoch nicht zu ermitteln beziehungsweise lassen sich Argumente finden, die eine prinzipielle Nähe des Computerspiels zum Format der Dokumentation unterminieren, so ist es geraten, den Begriff Doc Game durch einen treffenderen zu ersetzen. Die letztgenannte Option wird sich im Folgenden als die plausibler erweisen.
Um zu ermitteln, ob und inwieweit sich die Konzepte des Dokumen­tarischen und des Ludischen überhaupt verbinden lassen, werden nachfolgend zunächst Eigenschaften und Charakteristika des Computer­spiels und der Dokumentation bestimmt und im Weiteren die Frage nach Schnittpunkten beziehungsweise Unvereinbarkeiten gestellt.

1) Relevante Aspekte des Computer­spiels: Das Prinzip des Ludischen

Im Folgenden sei unter Rückgriff auf die Computerspieltheorie von Barry Atkins (Atkins 2003) konkret auf einzelne Aspekte realitätsnaher Computerspiele eingegangen, da diese in der Forschung als primäre Aspiranten auf den Titel „Doc Game“ angesehen werden.
Computerspiele zählen zu den interaktiven, audio-visuellen Kom­muni­kations­medien. Sie vermitteln über einen visuellen und einen akustischen Kanal bestimmte Inhalte und weisen zusätzlich einen Rückkanal auf, der es dem Rezipienten erlaubt, on-line auf die Kommunikationssituation und die Inhaltsvermittlung einzuwirken. Der Rezipient steuert auf diese Weise durch sein virtuelles Eingreifen in die Inhaltsvermittlung interaktiv die Entfaltung des Inhalts eines Spiels.
Die Inhalte eines Computerspiels als solche besitzen meist eine (elementare) narrative Struktur, die von einem Anfangszustand über bestimmte Zwischenstufen 6 zu einem Endzustand führt. Das Eingreifen des Rezipienten hat daher in der Regel den Charakter einer Handlung in einer virtuellen Welt, die zur Generierung von Einzelereignissen in dieser Welt führt. Auch wenn die narrative Struktur als zugrunde liegendes Schema der Geschehensabfolge invariant bleibt und immer erst eine bestimmte narrative Zwischenstufe erreicht werden muss, ehe der Weg zu einer weiteren narrativen Zwischenstufe und letztlich zum Endzustand der „Computerspielerzählung“ frei wird, ergibt sich durch das Moment der Interaktivität doch eine bestimmte Varianzbreite hinsichtlich der Hand­lungen, die der Rezipienten in der virtuellen Welt ausführen kann. 7 Der kommunikative Inhalt eines Computerspiels entfaltet sich also – ähnlich wie bei einer Textlektüre – primär nutzergesteuert, 8 so dass die Rezep­tions­geschwindigkeit im Wesentlichen durch den Rezipienten selbst festgelegt werden kann. Durch die Gegebenheit eines Rückkanals ist der Rezipient jedoch nicht auf eine einzige und stringente „Lektüre“ festgelegt, sondern er kann freier aus mehreren gleichberechtigten Handlungsmöglichkeiten 9 wählen und eine narrative Zwischenstufe meist über verschiedene, stärker oder weniger stark differierende Wege erreichen. Der Rezipient wird permanent vor bestimmte Handlungsalternativen gestellt, deren Wahl zu einer neuen Zwischenstufe und neuen Handlungsoptionen führt etc. und letztlich die Entfaltung des Spielinhalts bewirkt.
Diese Wahlfreiheit macht den Rezipienten zu einem emergenten Faktor der Computerspielnarration, denn der Rezipient steuert wortwörtlich die Entfaltung des Computerspielinhalts und bestimmt etwa durch sein Einwirken, wann genau sich ein bestimmtes Ereignis in der virtuellen Welt vollzieht – und das heißt: wann genau zu einem neuen Abschnitt in der narrativen Struktur übergegangen wird. 10 Durch sein Einwirken auf den Spielinhalt wird der Rezipient sowohl de facto zur treibenden Kraft der Spielnarration als auch selbst virtuell zum Erzähler und Helden der Geschichte. Dadurch, dass der Rezipient als Spieler bestimmt, welche Aktionen er ausführt, aktualisiert selektiv er den kommunikativen Inhalt des Computerspiels: Auch wenn er die narrative Struktur des Spiels nicht ändern und nur im Rahmen der ihm zugestandenen Handlungs­möglichkeiten agieren kann, erhält der Spielverlauf je nach den einzelnen, individuellen Handlungsschritten, den Fehlversuchen und Umwegen des Spielers einen persönlichen Zug. 11
Die Handlungsmöglichkeiten eines Computerspiels werden durch drei zentrale, durch das Spieldesign vordefinierte Aspekte festgelegt. Durch
1) das Raum-Zeit-Modul,
2) das Objektinventar und
3) das Figurenarsenal (non-player character(s)/player character).
Diese drei Aspekte definieren das Spielfeld beziehungsweise die Erzählwelt des Computerspiels, innerhalb der der Spieler virtuell, d. h. vermittels einer durch ihn steuerbaren Figur handeln kann. Zu jedem dieser drei Aspekte existiert je nach Computerspiel ein fester Satz an Regeln, die die narrative Struktur des Spiels festlegen und die Handlungsmöglichkeiten des Spielers beschränken.
Ad 1) Durch das Raum-Zeit-Modul werden die zeitlich-räumlichen Dimensionen des Spiels abgesteckt und festgelegt, welches Aussehen, welche Ausmaße und welche Form der Raum besitzt sowie ob es Zeit gibt und ob sie eine relevante Rolle in der narrativen Struktur spielt. Der Raum eines Computerspiels, der in Form des Handlungsraums 12 in aller Regel eine definitive Extension besitzt, kann realistisch, generisch oder abstrakt sein, statisch oder transformativ, er kann also eine immer gleichbleibende Form besitzen oder sich plötzlich verändern. Die Zeit eines Computerspiels kann etwa durch die Darstellung einer Sonnenbewegung oder einer Uhr wiedergegebent werden oder nicht; gleichzeitig kann sie für das Spielgeschehen relevant oder irrelevant sein oder in Form eines plötzlich einsetzenden Countdowns relevant werden.
Ad 2) Das Objektinventar kann ebenfalls realistisch, generisch oder abstrakt gestaltet und entweder transformativ oder intransformativ sein, d. h. der Spieler kann es entweder in seinem Aussehen und seiner Zusammen­setzung verändern beziehungsweise zerstören oder nicht. Gleichzeitig kann das Inventar entweder zu einem Handlungswerkzeug des Spielers werden oder nicht. Ist es völlig unveränderbar und auch nicht vom Fleck zu bewegen, ist es per Definition zum Raum zu zählen und dient lediglich der Raumdarstellung.
Ad 3) Hinsichtlich der Figuren ist zwischen der vom Spieler gesteuerten Figur, dem player character, und den nicht steuerbaren Figuren, den non-player characters, zu unterscheiden. Beide besitzen bestimmte Handlungs- und Reaktionsmuster, die im Fall des player character als Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten ausgebildet sind und durch den Spieler aktiviert werden können und die im Fall der non-player characters automatisch ablaufen. Diese Handlungs- und Reaktionsmuster können schematisch oder komplex, stationär oder ambulant, variierend oder invariant sein.
Aufbauend auf diesen drei Aspekten und ihrer Regeldetermination wird eine narrative Struktur errichtet. Zu diesem Zweck wird eine Metaregel erstellt, die ein Spielziel (und eventuell eine Reihe von Zwischenstufenregeln) definiert und damit festlegt, durch welche Aktionen eines Spielers eine narrative Zwischenstufe erreicht werden kann und wie das Spiel abzulaufen hat.
Fasst man an dieser Stelle die für das Folgende relevanten Punkte zu­sam­men, ist festzustellen, dass die von einem Computerspiel entworfene Welt von Grund auf konstruiert und durchweg regelgeleitet ist:
1) Die Welt eines Computerspiels setzt sich aus einzelnen Komponenten zusammen, die während der Programmierungsphase des Spiels nach Belieben gestaltet, variiert und kombiniert werden können. Die Gestaltung der virtuellen Welt etwa nach Aspekten der optischen Realistik ist damit ein Wahlfaktor und keine darstellungstechnische Notwendigkeit. Ebenso sind alle in der Spielwelt auftretenden Elemente Wahlfaktoren und bewusst gesetzt. 13
2) Die narrative Struktur und damit der Gestaltungsspielraum eines Spielers in der virtuellen Welt sind von vornherein festgelegt. Von Anfang an sind der Ausgangspunkt, diverse narrative Zwischenstufen und der Endpunkt einer Handlung definitiv bestimmt. Jede Handlung führt über kurz oder lang zu einem prädisponierten, unveränderlichen Abschluss.
3) Jede noch so minimale Handlung in der dargestellten Welt, gleichgültig ob sie von non-player characters oder der Figur des Spielers ausgeführt wird – basiert auf dem Prinzip und dem Zusammenwirken einzelner Regeln. 14
4) Gleichzeitig gibt es eine Reihe narrativer Variationsmöglichkeiten, also Faktoren, die dazu führen, dass eine Handlung – auch wenn sie letztlich immer denselben Abschluss nehmen muss – unterschiedliche Verläufe aufweisen und verschieden lang dauern kann. Jeder Spielverlauf ist damit in seinen Einzelheiten einzigartig.
5) Nicht zuletzt bedeutet die Gegebenheit eines Rückkanals, dass der Spieler die treibende Kraft der Computerspielnarration darstellt: Der Spieler wirkt als Katalysator der Handlung, er ruft die narrative Struktur hervor beziehungsweise entfaltet sie. Er ist das entscheidende Moment, und seine Spielhandlungen müssen immer als relevant gesetzt werden.

 2) Das Prinzip des Dokumentarischen:

Fragt man nach den generischen Voraussetzungen des Dokumentarischen, lassen sich zwei Antwortmöglichkeiten unterscheiden, die sich aus zwei verschiedenen theoretischen Grundannahmen ergeben. Die semiotisch-strenge Theorie liefert einen immanenten Erklärungsansatz, die semiopragmatische Theorie liefert einen kritischen Erklärungsansatz.

 2.1) Die semiotisch-strenge Theorie des Dokumentarischen:

Grundannahme der semiotisch-strengen Theorie des Dokumentarischen ist, dass es sich bei einem dokumentarisch wirksamen Objekt um ein Objekt handelt, das – entsprechend der Wortbedeutung des lateinischen „documentum“ für Beweis, Probe – einen historischen Sachverhalt durch seine schiere Gegebenheit belegen kann. Die semiotisch-strenge Theorie – und das ist wichtig zu bemerken – konzentriert sich auf die semiotische Qualität und den Geltungsanspruch eines Dokumentes als solches, ohne den Kommunikationszusammenhang in die Betrachtung miteinzubeziehen, in den ein dokumentarisch wirksames Objekt gestellt werden kann. Unter diesem Blickwinkel geht die semiotisch-strenge Theorie davon aus, dass das Dokumentarische unmittelbar mit dem Indexikalischen im Sinne der modernen Semiotik zusammenhängt und von diesem bedingt wird. 15 Damit etwas zu einem Dokument, d. h. zu einem Beleg für einen historischen Sachverhalt werden kann, muss es Produkt dieses historischen Sachverhalts, also durch einen kausalen Zusammenhang mit selbigem verbunden sein. Beispiele für dokumentarisch wirksame Objekte sind entsprechend historische Artefakte, Ruinen, Narben, ein Vulkankrater, Fußabdrücke, Fossilien, Photogramme etc., denn sie alle weisen auf ein Gewesensein hin, dem sie ihre Entstehung unmittelbar verdanken, und können aufgrund dieses kausalen Zusammenhangs als Belege für dieses Gewesensein fungieren.
Seit dem Aufkommen der fotografischen Aufnahmetechnik werden auch und vor allem fotografische sowie filmische Produkte als indexikalische und damit dokumentarisch wirksame Objekte angesehen. 16 Der Umstand, dass „die Fotografie mittels der Linse die Aufnahme eines wahrhaftigen leuch­tenden Lichtabdrucks, eines Abgusses erzeugt“ 17 , legitimiert es, sie in gleicher Weise als dokumentarisch wirksames Verfahren zur indexi­kalischen „Beglaubigung von Präsenz“ 18 zu betrachten. Durch ihren Abbildungsautomatismus, der darauf „abgestellt [ist], die Natur in den Dienst zu nehmen“ 19 , muss ein Foto zwangsläufig attestativ wirken, denn wenn

 die Fotografie tatsächlich der physische Abdruck eines ein­maligen Referenten ist, so bedeutet dies, daß [...] ein Foto, das einem vorliegt, immer nur auf die Existenz des Objekts verweisen kann, dem es sich verdankt. Es ist mehr als evident: die Foto­grafie legt durch ihre Entstehung zwangsläufig Zeugnis ab. Sie beweist ontologisch die Existenz dessen, was sie abbildet. [...] Das Foto bestätigt, beglaubigt, bescheinigt. 20

Dasselbe gilt in ähnlichem Umfang übrigens auch für Originaltonaufnahmen, bei denen akustische Schwingungen in mechanische oder elektrische Signale umgewandelt und in dieser Form auf einem Speichermedium aufgezeichnet werden.
Das Besondere der Fotografie gegenüber den bereits genannten Beispielen von dokumentarisch wirksamen Objekten ist darin zu sehen, dass es sich bei der Fotografie um ein indexikalisches Medium handelt, das sich zu meta­indexikalischen Kommunikationsverfahren eignet. Metaindexikalisch bedeutet, dass beispielsweise eine Fotografie einer Tierspur im Schnee oder einer Schramme im Autolack als indexikalisches Objekt selbst ein indexi­kalisches Objekt sekundär repräsentieren kann. Ein solches Foto bestätigt, beglaubigt und bescheinigt dann die Existenz der Tierspur im Schnee, die ihrerseits die mit diesem Ort verknüpfte Existenz des hier vorübergegangenen Tieres bestätigt, beglaubigt und bescheinigt. Diese Fähigkeit zur Metaindexikalität ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass die Fotografie mittlerweile zu dem dokumentarischen Medium schlechthin avancierte und besonders im Verwendungszusammenhang des Dokumentarfilms für die authentische Wiedergabe von Aspekten der Wirklichkeit funktionalisiert wird.
Diese semiotisch-technischen und kommunikationspragmatischen Implikationen, die der Herstellung von Fotografien zweifelslos zugrunde liegen und deren Wirkprinzip inzwischen Allgemeinwissen ist, bringen es mit sich, dass Fotografien rezeptionspragmatisch als „technische Re­pro­duktionen der Wirklichkeit“ 21 angesehen werden, die für die Authentizität und den Wirklichkeitsgehalt des mit ihnen kommunizierten Inhaltes garantierten. Deswegen sieht man gemeinhin im „Dokumentarfilm [...] eine Form des Films, die auf die bloße Reproduktion von Ereignissen konzentriert ist“ und die aus Gründen der Authentizitätspostulierung auf einen „‚kreativen Umgang‘ mit der Realität“ 22 bewusst verzichtet. Authentizität und Wirklichkeitstreue werden in filmfotografischem Material eines Dokumentarfilms also insbesondere dadurch garantiert, dass das Dargestellte so, wie es vorgefunden wurde, fotografisch oder filmisch aufgenommen werden muss, damit es als wahrheitsgetreu wiedergegeben erscheinen kann. Der Verzicht auf eine vor- oder nachfotografische beziehungsweise vor- oder nachfilmische Manipulation der Realität in Form einer künstlichen Arrangierung oder Inszenierung bringt es daher mit sich, dass das Dokumentarische im Sinne der semiotisch-strengen Theorie immer den Charakter eines zufällig Aufgeschnappten besitzt. 23 Deshalb ist der Dokumentarfilm unter diesem Blickwinkel auch „definiert als eine Wirklichkeit, die dem afilmischen Universum entnommen ist (wohingegen der realistische Film nur global als dessen Ausdruck gelten kann, während er im Detail der schöpferischen Eingebung Raum läßt).“ 24
Diese Aspekte der Indexikalität, der Metaindexikalität und der zufälligen Erfassung verschaffen dem Film und der Fotografie im alltäglichen Rezeptionskontext eine Aura der objektiven Wirklichkeitsrepräsentation und Zeugenschaft, die Film und Fotografie trotz diverser, immer verfeinerter Möglichkeiten der Bearbeitung und Fotomanipulation bis heute kaum eingebüßt haben. Die semiotisch-strenge Theorie nährt daher – zumindest was das gewöhnliche Nutzerverhalten gegenüber Film und Fotografie anbelangt – einen immanenten Erklärungsansatz des Dokumentarischen. Demnach stimuliert jede bildliche Darstellung, die einen Detailgrad, eine abbildliche Genauigkeit und weitere Oberflächenaspekte aufweist, die sich optisch als fotografisch bezeichnen lassen, beim Rezipienten in gewissem Umfang die Tendenz, diese Darstellung als indexikalisches – und damit: als dokumentarisches Material anzusehen.

 2.2) Dokumentarisches Potential?

Fragt man an dieser Stelle nach dem dokumentarischen Potential von Computerspielen, indem man die semiotisch-strenge Auffassung des Dokumentarischen zugrunde legt und auf diese die relevanten Aspekte des Computerspiels bezieht, dürfte leicht ersichtlich sein, dass Computerspiele in dieser Hinsicht keinesfalls zu dokumentarischen Leistungen fähig sind. Computerspiele bilden zwar ähnlich wie Film und Fotografie primär visuell ab; was sie allerdings abbilden, ist durchweg künstlich erzeugt und besitzt keine kausale Beziehung zu einem bestimmten historischen Sachverhalt oder – in Form einer indexikalischen Relation zweiter Stufe – zu einem bestimmten historischen Dokument. Computerspiele werden in einem langwierigen, planvollen und arbeitsteiligen Prozess der Programmierung auf Grundlage bestimmter Hardware nach der Vorlage einer frei gewählten narrativen Struktur erzeugt. Die virtuelle Spielwelt in ihrer raum-zeitlichen Ausdehnung und samt ihrer narrativen Komponenten wie Figuren und Objekte ist frei konstruiert, und es besteht zu keinem Zeitpunkt eine zwingende Notwendigkeit für deren Zusammensetzung und Existenz. Alles Dargestellte beruht nicht auf einer indexikalischen Beziehung zur Wirklichkeit, sondern verweist – wenn überhaupt – auf diese nur auf Grundlage optischer Ähnlichkeit, also durch eine lose ikonische Beziehung. 25 Die Gegebenheit einer definitiven narrativen Struktur, der Umstand, dass überhaupt nur im Rahmen bestimmter Regeln gehandelt werden kann, sowie der Faktor der Interaktivität, der dazu führt, dass Handlung nur entsteht sofern der Spieler handelt, erweisen zusätzlich den von Grund auf konstruierten Charakter der dargestellten Welt eines Computerspiels und belegen damit deren nichtdokumentarischen Stellenwert im Sinne der semiotisch-strengen Theorie.

 2.3) Die semiopragmatische Theorie des Dokumentarischen

Die semiopragmatische Theorie des Dokumentarischen, die sich speziell mit dem dokumentarischen Film befasst, setzt genau am Objektivitätsglauben an, der bei einem unbedarften Rezipienten durch filmfotografische Bilder erzeugt wird, und stellt ihn in Frage, indem sie den Kommunikationskontext in ihre Überlegungen miteinbezieht. Betrachtet wird also nicht mehr nur das dokumentarisch wirksame Objekt als solches, sondern auch die Art seiner Präsentation, die mit ihm verfolgte Argumentationsabsicht, die Rezipi­enten­erwartung etc. Ein solcher Blickwinkel führt unmittelbar zu einer kritischen Beurteilung des Dokumentarischen, denn dadurch, dass sich das Dokumentarische immer nur mit einem Ausschnitt, einem ausgewählten Objekt der Wirklichkeit verbindet, hat es unvermeidbar einen selektiven und unweigerlich tendenziösen Charakter. Dieser Aspekt zeigt sich insbesondere am Dokumentarfilm. Bereits John Grierson, der Pionier des Dokumentarfilms, der den Begriff „documentary“ prägte und damit zur Etablierung des Dokumentarfilms als Genre beitrug, äußerte sich skeptisch gegenüber der Objektivität filmischer Aufzeichnungen: „Man fotografiert das natürliche Leben, aber gleichzeitig erzeugt man [...] eine Interpretation davon.“ 26
Jeder Film zwingt dem Zuschauer also bereits durch die Wahl eines bestimmten Einstellungswinkels eine bestimmte Perspektive auf, unter der er das Gezeigte zu betrachten hat. 27 Gleichzeitig unterminiert die Arrangierung verschiedener Einstellungen und Sequenzen zu einem Filmsyntagma eine völlig objektive Darstellung, denn „[j]ede Form der Organisation des Materials ist [...] auch eine Manipulation“ 28 . Diese und ähnliche Aspekte laufen aber letztlich darauf hinaus, dass der doku­men­tarische, d.h. der bezeugende, beglaubigende und bestätigende Charakter eines Dokumentarfilms fundamental in Zweifel gezogen wird. Damit der Zuschauer das ihm Gezeigte nicht von vornherein für un­glaubw­ürdig befindet, bedarf es deshalb eines „contrat de veridiction“ 29 zwischen Filmautor und Zuschauer, d.h. einer impliziten Übereinkunft, dass das Gezeigte der Wahrheit entspricht und durch den Rezipierten auf eine solche hin überprüft werden kann. Das Dokumentarische verliert damit aber den Stellenwert einer Qualität und reduziert sich auf einen bloßen Effekt: „Die (semio-)pragmatische Theorie des Nichtfiktionalen läuft letztlich auf die tautologische Feststellung hinaus, daß der Zuschauer einen Film dann als dokumentarisch auffasst, wenn oder solange er an dessen doku­men­tarischen Charakter glaubt.“ 30 Ein Dokumentarfilm hat damit kein attestatives Potential an sich, sondern er bietet durch seine besondere Gestaltung und seine Erzählverfahren dem Zuschauer lediglich in hohem Maße die Gelegenheit zu einer „dokumentarisierenden Lektüre“ 31 , d.h. zu der Option, das Gezeigte für authentisch, wahrheitsgetreu etc. zu befinden. „Die Gründe, weshalb man einen Film als dokumentarisch ‚liest‘, liegen also nicht in der normativen Kraft eines Films, sondern sind vielmehr das Resultat eines Kommunikationsprozesses zwischen Autoren, Film und Zuschauern.“ 32.
Ob etwas dokumentarischen Wert oder Charakter besitzt, wird daher – so die Argumentation der semiopragmatischen Theorie – nicht so sehr durch die Verwendung eines bestimmten dokumentarisch wirksamen Materials bedingt, sondern es wird durch Kommunikationskonventionen und bestimmte Verfahren dokumentarischen Erzählens geregelt. 33 Der Faktor der Indexikalität, der für den immanenten Erklärungsansatz des Dokumen­tarischen entscheidend ist, spielt im kritischen Erklärungsansatz der semiopragmatischen Theorie also keine größere Rolle mehr. Das bedeutet allerdings auch, dass sich die Suggestion von Authentizität, die ein Dokumentarfilm beim Zuschauer erreichen kann, auch durch bearbeitete, manipulierte und damit falsche Bilder erreichen lässt:

„Wie die Indexikalität des photographischen Bildes die dokumentarisierende Lektüre nicht begründen kann, steht das manipulierte und manipulierbare elektronische Bild ihr nicht notwendig entgegen. Entscheidend ist der Status, den der Zuschauer dem Diskurs zuschreibt.“ 34

Dieser Umstand hat besondere Relevanz für eine Simulation des Dokumentarischen, und das ist auch der Grund, weswegen der semiopragmatische Ansatz gerade durch die Theoretiker der Doc Games herangezogen wird, um entsprechende Spiele als dokumentarisch zu klassifizieren. Daher ist es sinnvoll, sich mit den Grundlagen der Simulation des Dokumentarischen zu befassen, wie sie im Film gegeben sind und die in gewissem Umfang auch im Medium des Computerspiels realisiert werden können.
Interessanter Weise wird gerade bei der Simulation des Doku­mentarischen in gleichem Maße auf Implikationen der semiotisch-strengen sowie auf Implikationen der semio­pragmatischen Theorie des Dokumentarischen zurückgegriffen.

 3) Grundlagen der Dokumentations­simulation entsprechend der semio­pragmatischen Theorie

Folgt man den Annahmen der semiopragmatischen Theorie des Doku­mentarischen muss es das vornehmliche Ziel einer Simulation des Dokumentarischen sein, den Zuschauer eines Dokumentarfilms zu einer dokumentarisierenden Lektüre im Sinne Roger Odins zu bewegen. Damit ein Zuschauer glaubt, bei dem Gezeigten handle es sich um einen authen­tischen und wahrheitsgetreuen Ausschnitt der Wirklichkeit, müssen ihm mit dem Gezeigten Indizien präsentiert werden, die ihn zu einer vertrauensseligen Wahrnehmungshaltung gegenüber dem Gezeigten bewegen. In der Theorie der Doc Games wird diese Hypothese über­nom­men und gesagt, dass ein Computerspiel dann dokumentarischen Charakter besitzt, wenn es quasi-dokumentarische Rezeptionseffekte erzeugen kann. 35 Im Folgenden seien deshalb ausgehend vom Dokumentarfilm die wichtigsten „Stilmittel“ für die Simulation des Dokumentarischen aufgeführt und Überlegungen dahingehend angestellt, wie diese im Medium des Computerspiels genutzt werden.
Laut Frank Kessler „ergibt sich der Effekt des Dokumentarischen aus einem Lektüremodus, der im Prinzip auf jeden Film angewandt“ und „durch Institutionen stimuliert bzw. programmiert werden“ kann, wobei „textuelle oder paratextuelle Anweisungen [den Zuschauer dazu bewegen], zu einer dokumentarisierenden Lektüre überzugehen“. 36 Zentralen Stellenwert hat dabei seiner Ansicht nach gerade die Indexikalität des filmischen Materials. Damit für den Zuschauer etwas in den Rang des Dokumentarischen gelangen kann, muss es also auch aus Sicht der semiopragmatischen Filmtheorie zu dem, dessen wirkliche Existenz es verbürgt beziehungsweise zu verbürgen scheint, in einer indexikalischen Beziehung stehen.
Für das auf audio-visuellem Wege kommunizierende Medium des Computerspiels bedeutet das, dass es, um dokumentarisch zu wirken, sowohl auf optischer als auch akustischer Ebene so gestaltet sein muss wie ein indexikalisches Bild- und Tonmedium – in einem Wort: es muss die spezifische akustische und visuelle Oberflächenerscheinung des doku­mentarischen Films imitieren. Unter anderem in der semiop­ragmatischen und kritischen Auseinandersetzung mit dem dokumentarischen Film wurden mehrere entsprechende Realis­mus­marker 37 ausgemacht, die den Rezipienten dazu verleiten, das Gezeigte für eine authentische Aufnahme zu halten, und die sich prinzipiell auch manipulativ für die gezielte Simulation dokumentarischer Echtheit nutzen lassen. Zu Systematisierungszwecken kann zwischen inhaltlichen und formalen Realismusmarkern unterschieden werden.
Grob gesagt bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dokumentarischen Filmens ein Geschehen, das vor dem Hintergrund realweltlicher Ereignisse als erwartbar, plausibel oder zumindest als prinzipiell möglich und inner­halb seines narrativen Ereigniskontexts als wahrscheinlich erscheint. „Indem er behauptet, vom Studio- und Star-System unabhängig zu sein, widmet sich der Dokumentarfilm [...] realen Menschen und realen Problemen in der realen Welt und behandelt diese.“ 38 Damit sind für das Dokumentarische vor allem drei unterschiedliche Formen inhaltlicher Realistik relevant:
● Eine „soziale Realistik39, die dadurch entsteht, dass der Dokumentarfilm ein Milieu abbildet, das dem Betrachter aus seinem näheren oder weiteren Umfeld selbst bekannt ist und das dem Betrachter deshalb in der Wieder­gabe durch den Dokumentarfilm als authentisch erscheinen kann.
● Eine narrative oder handlungslogische Realistik, die darin besteht, dass die dargestellten Ereignisse in einem gewissen kausalen Zusammenhang stehen, bestimmte einsehbare Ursachen haben und zu bestimmten absehbaren Ergebnissen führen.
● Eine physikalische Realistik, die besagt, dass sich die Ereignisse im Rahmen der Naturgesetze vollziehen und auf Basis grundlegender natur­wissen­schaftlicher Modelle erklären lassen. 40
Was die formalen Realismusmarker anbelangt, so nennt vor allem Trinh Minh-ha in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Dokumentarfilm 41 eine ganze Reihe relevanter Faktoren. Der formale Ausgangspunkt, der besonders für nicht-fotografische, künstlich erzeugte Bildmedien wie das Computerspiel Relevanz besitzt, ist dabei mit einer Wiedergabeform gegeben, bei der ein Geschehen so präsentiert beziehungsweise aufbereitet wird, dass es visuell eine derart hohe Bilddetailliertheit besitzt, wie sie für filmfotografische Aufnahmen typisch ist. Spezielle Oberflächenaspekte steigern den Charakter des Authentischen weiter, wobei sich besonders in Hinblick auf die Optik des Computerspiels abermals drei Kategorien formaler Realistik unterscheiden lassen.
Eine optische Realistik, die dann gegeben ist, wenn die dargestellten Objekte und Personen ein Aussehen besitzen, wie es der alltäglichen unvermittelten Wirklichkeitswahrnehmung entspricht, so dass sie sich prinzipiell als filmische Aufnahmen realer Objekte und Personen ansehen lassen.
Eine perspektivische Realistik, die sich sozusagen an der Blickhöhe, am Wahrnehmungswinkel und der Distanz orientiert, die das normale menschliche Wahrnehmungsverhältnis aufweist. Typisch für den Dokumentarfilm ist in dieser Hinsicht auch gerade die Vermeidung von Nah- und Detailaufnahmen. 42
Eine mediative Realistik, bei der entweder so verfahren wird, dass „[d]ie medialisierte Repräsentation von Wirklichkeit [...] als nicht medialisierte, als authentische Wirklichkeit erschein[t]“ 43 , das Bild also völlig „transparent“ 44 wirkt; oder im Gegenteil so, dass das Bild Störungen zeigt, die auf bestimmte Aufnahmebedingungen verweisen, die wiederum für die Echtheit und Originalität der Aufnahme sprechen. Während sich ein transparent gehaltenes Bild wie ein Fenster in die ungefilterte Realität gibt und seine Künstlichkeit und sein Gemachtsein verschweigt, offenbart ein mit Störungen (wie z. B. Tropfen auf der Kameralinse) durchsetztes Bild seine filmische Natur und Herkunft bewusst und argumentiert implizit, dass diese Störungen als Begleiterscheinungen einer unverfälschten filmfotografischen Augenzeugenschaft zu interpretieren sind. Diese gezielte, gewissermaßen selbstreflexive Darlegung ihrer Künstlichkeit verleiht den mediativ gestörten Bildern einen höheren Grad an formaler Authentizität als den transparenten, da sie nicht etwas vorzugeben versuchen, was sie nicht sind, nämlich ungefilterte, unmedialisierte Realität.
Der Dokumentarfilm „legt Wert auf intime Beobachtungen und veranschlagt seinen Wert je nachdem wie gut es ihm gelingt, ‚ohne wesentliche Eingriffe, ohne Vermittlung‘ die flüchtige Realität einzufangen. Starke lebendige Geschichten, unendlich authentische Situationen. Es gibt keinen erneuten Dreh der Szene.“ 45 Nicht nur, dass die mediativ gestörten Bilder dadurch für ihre Glaubwürdigkeit werben, dass sie sich als Bilder kenntlich machen – gerade dadurch, dass zufällig aufgeschnappt wirkende Begebenheiten landläufig und spontan als dokumentarischer Filminhalt im Sinne einer Beglaubigung gesehen werden, wird von solchen Filmen in gewissem Umfang erwartet, dass ihre Bilder Störungen und Aufnahmefehler aufweisen, die für die Spontanität und Einmaligkeit des festgehaltenen Geschehens garantieren: Der besondere Augenblick wurde spontan eingefangen und die Unvollkommenheit des Bildmaterials suggeriert gerade, dass das Aufgezeichnete nicht geplant, nicht inszeniert und in seinem Verlauf nicht durchkomponiert wurde. Deshalb auch die schlechte Bildqualität, weil das einmalig Echte gezeigt wird, das nicht noch einmal fehlerfrei gedreht werden kann. 46
Als Realismusmarker mustergültig ist in dieser Hinsicht das Verwackeln der Bilder durch den Gebrauch einer Handkamera. 47 Entsprechend zählen auch „[v]erschwommen[e], bewegt[e], verwackelte Travellings, zögernde Panoramaschwenks, abrupte Zooms, brutale Schnitte im Ablauf der Szenenfolge, lange Plansequenzen, mangelhafte Ausleuchtung, grobkörniger Film“ 48 und eine „minimale oder fehlende Filmbearbeitung“ 49 zu den Realismusmarkern auf der Bildebene des Dokumentarfilms.

Mediative Realistik - Gegenlichtreflexe in Crysis 3

Weitere formale Realismusmarker sind eine scheinbare Überbelichtung, eine auffällige Blendennutzung, Staub, Flusen, Beschlag, Tropfen etc. auf der Kameralinse sowie Blendenflecken oder Reflexionen im Linsensystem der Kamera, die von einem extremen Gegenlichteinfall hervorgerufen werden, wenn die Kamera ihr Objekt nicht unter optimalen Beleuchtungs­verhältnissen, wie sie in freier Natur selten gegeben sind, aufnehmen kann. Auf der Tonebene dienen außerdem der „[s]pezifische[...] Klang des Direkttons (gegenüber dem Studioton: Fehlen der Resonanz), Lärm, linguistische Strukturen der ‚lebendigen‘ Rede“ 50 und der Verzicht auf nachträglich unterschnittenen, „asynchronen Ton“ 51demselben Zweck.

 4) Inhaltliche und formale Realismus­marker im Computerspiel

Durch die Verwendung der genannten inhaltlichen und formalen Realismusmarker lässt sich prinzipiell auch für das Computerspiel ein Realismus und Authentizität suggerierender Bildcharakter im Sinne der semiopragmatischen Theorie und – nach der Überzeugung der Mehrzahl der Doc-Game-Theoretiker – sogar ein dokumentarischer Rezeptionsmodus erreichen. 52 Die einzelnen Formen inhaltlicher und formaler Realistik seien kurz am Computerspiel konkretisiert, ehe sie in einem abschließenden Resümee kritisch beurteilt werden.
Alexander Galloway versteht unter dem von ihm in die Computerspiel­theorie eingebrachten Begriff der sozialen Realistik weniger – wie zunächst zu vermuten – die authentische Darstellung eines bestimmten sozialen Milieus. Vielmehr weist er darauf hin, dass,

 wenn man ein realistischer Spieledesigner ist, die Herausforderung nicht nur darauf liegt, die soziale Wirklichkeit [beispielsweise] der Entrechteten zu erfassen, sondern auch darauf, das Spiel wieder zurück in das richtige soziale Milieu verfügbarer Spieler einzuspeisen, wo es passend erscheint. 53

Infolge dessen und seiner problematischen Vermischung der Begriffe „realistisch“ und „dokumentarisch“ besitzt ein Spiel seiner Ansicht nach gemäß der Maßgaben sozialer Realistik genau dann eine „dokumentarische Qualität“ 54 , wenn die im Spiel geschilderte Wirklichkeit eine größtmögliche Deckungsgleichheit mit der sozialen Wirklichkeit des Spieles besitzt. Galloway geht in seiner Argumentation so weit, zu sagen, dass „ein typisch amerikanischer Jugendlicher, während er Special Force [2004, Dragonfly GF Co.] spielt, höchstwahrscheinlich keinen Realismus erlebt, wohingegen Realismus in der Tat für einen jungen palästinensischen Spieler möglich ist, während er Special Force in den besetzten Gebieten spielt“ 55 . Ian Bogost und Kollegen, die den Begriff von Galloway übernehmen, sind in ihrer Auffassung sozialer Realistik weniger streng. Ihrer Meinung nach kann sich diese auch bereits durch die authentische Gestaltung des Raumes in einem Spiel einstellen, wenn also „ein Raum auf geringerem technischen Niveau mit sinnvollen, natürlich angeordneten Gegenständen“ 56 gefüllt wird. Während es für Galloway essentiell ist, dass das gesamte Milieu samt seinen Handlungsnormen und Handlungswirklichkeiten mit dem sozialen Umfeld eines Spielers übereinstimmt, begnügen sich Bogost und Kollegen damit, dass die Raumgestaltung eines Spiels auf einem recht allgemeinen Level, nämlich hinsichtlich ihrer Einrichtung und Funktionalität, mit dem gewohnten Umfeld des Spielers korrespondieren sollte. Als Beispiel nennen sie Berlin Wall (2008, Team Garry), ein Spiel, in dem der Spieler den Todesstreifen der Berliner Mauer zu überwinden hat. Zweifellos entspricht das soziale Milieu mit seinen Implikationen von staatlicher Repression, Freiheitsberaubung, kaltem Krieg etc. kaum jenem eines Durchschnittsspielers; die adäquate Nachbildung dieses historischen Zeitausschnitts reicht für Bogost und Kollegen jedoch aus, dem Spiel das Prädikat „sozial realistisch“ zuzusprechen.
Eine narrative Realistik lässt sich in Computerspielen dadurch erreichen, dass die Geschehnisse der Spieldiegese in eine logische Handlungsstruktur gebracht werden, der Spieler auf Basis der narrativen Struktur plausible Erklärungen für Spielereignisse finden kann und die einzelnen Spielstufen schlüssig ineinander übergehen. Zu Letzterem zählt auch, dass eventuelle Unterbrechungen im Spielverlauf nach dem Erreichen einer bestimmten Spielstufe narrativ motiviert sein sollten. 57 Der Groß­teil der Unter­such­ungen, die sich mit Doc Games befassen, sehen gerade in der narrativen Realistik das Kernkriterium dafür, dass ein Spiel als dokumentarisch angesehen werden kann, wobei meist zusätzlich zu einer rein kohärenten Spielerzählung gefordert wird, dass sich das Spiel an historischen Ereignisverläufen zu orientieren hat. Bogost et al. 2010 sprechen dann, wenn ausgewiesene historische Ereignisse zur narrativen Strukturgrundlage gemacht werden, auch von „operationaler Realität“ 58. Sobald historische Daten in die narrative Struktur des Spiels integriert werden, so die Argumentation, kann das Spiel, das dann eine geschichtliche Faktenbasis besitzt, als dokumentarisch bezeichnet werden. So ist es für Ian Bogost „nur natürlich“, Spiele, die „bestimmte historische Ereignisse aufgreifen [...,] mit anderen Medienformaten wie Dokumentarfilmen zu vergleichen“ 59und als dokumentarische Spiele solche zu bezeichnen, die „reale Personen, Orte und Ereignisse als Bezugsgrößen verwenden“ 60 . Andere Kommentatoren sehen die Bezugnahme auf reale Ereignisse jedoch nicht als zwingend an; ihnen genügt es, wenn Doc Games auf einer abstrakten Ebene „eine strukturelle Logik des Spiels“ besitzen, „die darauf ausgelegt ist, politische Prozesse – und Möglichkeiten für politische Interventionen nachzubilden“ 61 oder „die Dynamiken und Unge­recht­ig­keiten eines Wirtschaftssystems“ 62 freizulegen. 63 Auf der Ebene narrativer Realistik können Computerspiele also einen dokumentarischen Charakter entwickeln, wenn sie streng handlungslogisch aufgebaut sind, historische Fakten in ihre narrative Struktur integrieren und/oder ihre narrative Struktur entsprechend der Gesetzmäßigkeiten und abstrakten Strukturen politischer Ereignisse gestalten.
Physikalische Realistik lässt sich im Computerspiel durch eine möglichst wirklichkeitsnahe Gestaltung der Spielwelt sowie der Handlungen und ihrer Folgen erzielen (etwa durch die Simulation von Verletzungen infolge von Stürzen etc.). Physikalische Realistik ist somit eine Frage des Spieldesigns, der physikalisch korrekten Gestaltung des Raum-Zeit-Moduls, der Objekte und der Figuren einer virtuellen Welt. Sie setzt bereits auf der Erscheinungs­ebene bei der reinen Oberflächengestaltung an, so dass beispielsweise Wasser und andere spiegelnde Oberflächen zu bestimmten Lichtreflexionen führen und sich diese Reflexionen je nach Lichteinfall und Wahrnehmungsstandpunkt verändern müssen. 64 Objekte vor Lichtquellen müssen Schatten werfen und die Sicht des Spielers, wenn er aus dem Licht in den Schatten tritt, muss sich eindunkeln. Auf offenen freien Flächen kann es Wind geben, der zu entsprechenden Bewegungen von im Raum befindlichen Pflanzen führt etc. 65 Der Spielraum muss zudem plastisch ausgebildet 66 und überall zugänglich sein, außer es existieren quasi-natürliche Hindernisse, die den Weg des Spielers blockieren. Die Zeit muss linear und ununterbrochen verlaufen und gleichzeitig müssen quasi-natürliche Indikatoren für dieses Vergehen der Zeit gegeben sein (Sonnen­bewegung, Zeigerbewegung von Armbanduhren etc.). 67 Die Objekte müssen bewegt und unter Gewalteinwirkung auf glaubwürdige Weise – das heißt nach dem Prinzip der „procedural destruction“ zerstört werden können. 68 Figuren müssen sich realistisch und abwechslungsreich bewegen und etwa, wenn sie beschossen werden, bei einem Treffer nach dem Prinzip des „instant death“ schwere Verletzungen davontragen oder direkt sterben. 69 Explosionen in unmittelbarer Nähe müssen zu Benommenheits­zuständen und einer eingeschränkten Sensorik führen. 70 Es muss eine persistente Akustik geben, d. h. ein Geräusch muss in Relation zur Entfernung zwischen player character und Geräuschquelle leiser oder lauter werden etc. 71

Physikalische Realistik Instant Death - Spielschwierigkeitsoption Realistic in Medal of Honor Pacific Assault

Was die formalen Realismusmarker betrifft, so verlangt eine optische Realistik, dass die verwendeten Figuren und Gegenstände der Spielwelt in ihrer äußerlichen Gestaltung einen hohen, an der Erscheinung der Wirklichkeit oder von Realfilmaufnahmen orientierten Detailgrad, reiche Texturen und eine wirklichkeitsnahe Bewegungsdynamik zeigen. Der Spieler muss tendenziell das Gefühl haben, die computergrafisch erzeugten Objekte seien in Wahrheit echte Objekte der Wirklichkeit, die höchstens filmisch aufgezeichnet wurden. Das stellt natürlich immense Anforderungen an die Spielprogrammierung und wird inzwischen meist durch die Überarbeitung und Integration von zuvor aufwändig erstellten Realfilmaufnahmen in die Spielstruktur sowie durch das Verfahren des Motion Capturing bewältigt. 72
Perspektivische Realistik kann im Computerspiel relativ leicht dadurch erreicht werden, dass eine First-Person- beziehungsweise Ego-Perspektive gewählt wird, denn diese deckt sich weitgehend mit der normalen Blickhöhe, dem Wahrnehmungswinkel und der Wahrnehmungsdistanz eines Spielers in der Realität. Das Blickfeld öffnet sich unmittelbar vor dem Spieler und besitzt keinen eher illusionsstörenden Repoussoireffekt, wie er sich etwa bei einer Third-Person-Perspektive ergibt. Dadurch, dass meist nur die Unterarme und Hände des player character zu sehen sind, fungiert dieser wie eine virtuelle Erweiterung des Spielers in die Spielwelt hinein. Zusätzlich hat die Ego-Perspektive den Vorteil, dass sie jene Perzeptions­störungen aufweisen kann, die in semiopragmatischer Hinsicht als Indizien für eine authentische Wahrnehmung zu werten sind, sprich: Tinitus, Schwindel, Erschütterungen und Verwackeln bei Sprüngen, Stürzen oder Schlägen (Handkamera-Paradigma), je nach diegetischer Wahrnehmungssituation mangelhafte oder überstarke Ausleuchtungen (Paradigma des zufällig Vorgefundenen) und vor allem auch lange, kontinuierliche Wahrnehmungsfolgen (Plansequenz-Paradigma), die der Wahrnehmung in der Wirklichkeit entsprechen. Falls diegetisch entsprechende Instrumente vorgesehen sind, etwa in Form von Ferngläsern oder Scharfschützengewehren, ist auch die Möglichkeit von abrupten Zooms in der Ego-Perspektive gegeben. Ansonsten ist die Wahrnehmungsdistanz meist eine, die der Großeinstellung des Films entspricht und damit für maximale Objektivität steht.

Mediative Realistik - Kugeleinschlag im Gesichtsfeld in Medal of Honor 2010

Mediative Realistik ergibt sich im Computerspiel dann, wenn eine unmittelbare, unmedialisierte Wahrnehmungssituation simuliert wird (Präsenzsimulation) 73 oder wenn die Vermitteltheit der Bilder selbst auf eine Weise thematisiert wird, dass der Aspekt der Vermitteltheit den Eindruck der Authentizität des Bildgeschehens noch steigert. 74 Das ist besonders dann der Fall, wenn es etwa zu Lichtreflexionen im Blick des player character kommt. Besonders eindrücklich sind auch Situationen, in denen das Blickfeld des Spielers durch Handlungsaspekte der Spielwelt penetriert wird, 75 wenn also beispielsweise Blut an die „Kameralinse“ spritzt, Krallen eines Gegners Kratzer durch die Wahrnehmungsoberfläche ziehen oder Gewehrkugeln ins Gesichtsfeld des Spielers einschlagen. 76

Mediative Realistik - Kugeleinschlag im Gesichtsfeld in Doom 2

5) Rekapitulation und kritisches Resümee

Der Begriff des dokumentarischen Computerspiels, wie er ab circa 2005 Verwendung findet, ist hinsichtlich seines Extensionsrahmens nicht klar begrenzt. Vor allem dadurch, dass er zunächst und in erster Linie eingeführt wurde, um marketingstrategisch ein neues Label für eine – womöglich thematisch oder formal nicht einmal stärker distinguierte – Richtung im Bereich des Computerspiels auszubilden, ist ihm skeptisch zu begegnen. Wenn man nach seiner Legitimität beziehungsweise nach seiner Adäquat­heit fragt, ist es sinnvoll, objektive Kriterien dafür zu finden, was als dokumentarisch gelten kann, und im Weiteren, welchen Aspekten eines Computerspiels auf dieser Grundlage ein dokumentarischer Charakter zukommen kann.
Um solche Kriterien auszumachen, kann der Begriff des Dokumentarischen in semiotisch-strenger sowie in semiopragmatischer Hinsicht ausgelegt werden. Im Sinne der semiotisch-strengen Theorie liegt dem Dokumen­tarischen immer eine indexikalische Beziehung zwischen einem historischen Sachverhalt und dem diesen Sachverhalt belegenden Dokument zugrunde. Infolge seiner völlig künstlich-freien Konstruiertheit nach Prinzipien der optischen Ähnlichkeit (Ikonizität), statt nach dem Prinzip einer kausalen Verknüpfung (Indexikalität) geht dem Computerspiel jede Fähigkeit zu einer dokumentarischen Wiedergabe in diesem strengen Sinne ab. Es ist eben nicht durch eine kausale Entstehungsbeziehung mit einem bestimmten Aspekt der Wirklichkeit verbunden, den es darstellt.
Die semiopragmatische Theorie hingegen geht davon aus, dass das Do­ku­mentarische in erster Linie eine Rezeptionswirkung ist, die darin besteht, dass der Zuschauer durch bestimmte inhaltliche und formale Realismusmarker eines Films dazu veranlasst wird, das Gezeigte für eine authentische Repräsentation eines Wirklichkeitsausschnitts zu halten. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die semiopragmatische Theorie eine feine Unterscheidung trifft, indem sie sagt, dass ein Film aufgrund des Einsatzes bestimmter Realismusmarker auf den Rezipienten dokumen­tarisch wirken kann, nicht aber, dass ein solcher Film tatsächlich dokumentarisch ist. Die Theorie der Doc Games lehnt sich an die semio­pragmatische Theorie des Dokumentarischen an, löst deren Thesen aus dem Kontext des Filmischen und überträgt sie auf das Computerspiel. Dabei beachtet sie jedoch nicht die Differenzierung zwischen dokumentarischer Wirkung und echter dokumentarischer Qualität. Da ein Computerspiel prinzipiell dazu in der Lage ist, entsprechende Realismusmarker, wie sie der Film besitzt, in seine narrative Struktur und seine Oberflächenerscheinung aufzunehmen, halten Theoretiker wie Fullerton oder Bogost es jedoch für Computerspiele prinzipiell für möglich, zumindest im semiopragmatischen Sinne dokumentarisch zu sein. Tatsächlich ist die Übernahme der semiopragmatischen Realismusmarker als Kriterium des Dokumentarischen jedoch problematisch.
Das Hauptproblem ist, dass die angesprochenen inhaltlichen und formalen Realismusmarker nur im Rahmen eines Mediums dazu geeignet sind, eine dokumentarische Qualität zu suggerieren, das grundsätzlich indexikalischer Natur ist. Die Möglichkeit, dass ein Film bei einem bestimmten Rezipient überhaupt den Eindruck erwecken kann, er sei dokumentarisch, setzt „die indexikalische Dimension des photographischen Bildes als implizite Garantie [voraus]. Mit anderen Worten: Filme können sich auf zwei Arten auf die Wirklichkeit beziehen – als getreue Rekonstruktion oder vermittels der Indexikalität und ihres Effekts des ‚Das-ist-da-gewesen‘ –, doch nur letztere führt zu einer dokumentarisierenden Lektüre.“ 77 Nur dadurch, dass der Betrachter eines Dokumentarfilms weiß, dass das, was er sieht, aufgrund der filmischen Herstellungstechnik indexikalisch ist, lässt er sich in der Regel durch geeignete Realismusmarker dazu bewegen, den Film tatsächlich als dokumentarisch anzusehen. Ein Medium wie das Computerspiel, das – wie allgemein bekannt – seine Spielwelten von Grund auf konstruiert, ist allerdings nicht indexikalisch. Gleichgültig, wie viele Realismusmarker ein Computerspiel deshalb auch einsetzt, es wird dadurch im besten Fall in gewissem Umfang realistisch erscheinen, jedoch nie das vom Kriterium der Indexikalität bedingte Merkmal des Dokumentarischen besitzen können – und das nicht einmal in Hinblick auf die Rezipientenwirkung. Aus diesem Grund sind die verschiedenen Marker formaler und inhaltlicher Realistik, die im Dokumentarfilm als wirksame Indizien für eine dokumentarische Ereignispräsentation verwendet werden können, im Bereich des Computerspiels letztlich attestativ wirkungslos: Sie können Realistik erzeugen, nicht aber das Dokumentarische.
Trotzdem sollen sie im Folgenden einzeln besprochen werden, um die verschiedenen in der Doc Game Theorie vertretenen Positionen zu widerlegen, dass Computerspiele durch den Einsatz der Realismusmarker von den Spielern als dokumentarisch aufgefasst werden. Das Haupt­augen­merk liegt im Folgenden daher auf der Rezipientenwirkung von Doc Games.
Die inhaltlichen Realismusmarker – soziale, physikalische und narrative Realistik – sind im Kontext des Computerspiels als Kriterium einer dokumentarischen Rezipientenwirkung unzureichend. Da ein Spiel zwar beispielsweise ein bestimmtes Milieu wirklichkeitsnah nachbilden, gleichzeitig aber in diesem Umfeld jedoch nach Belieben auch fiktive Elemente wie zum Beispiel Zombies als non-player characters platzieren kann, ist eine dokumentarische Einordnung des Spiels seitens des Spielers ausgeschlossen. Die Sachlage bleibt grundsätzlich dieselbe, wenn statt der Zombies fiktive Figuren in der sozial realistisch gestalteten Spielwelt angesiedelt sind. Und selbst wenn historische Personen als Vorlage für den Figurenbestand eines Spiels genutzt werden, ist kein dokumentarischer Wert solcher Spiele gegeben, da nicht die realen Personen selbst auftreten, sondern lediglich regelgesteuerte und in gewissem Umfang immer generisch agierende Darstellungen dieser Personen. Da das Computerspiel völlig künstlich konstruiert ist, gilt für dessen Figuren damit letztlich immer im Wesentlichen dasselbe wie für Animationsfilme: „Die handelnden Figuren [...] sind nun einmal ‚erfundene Personen‘, selbst wenn sie reale historische Persönlichkeiten illustrieren sollen.“ 78 Jeder Zuschauer weiß das und begreift ein Spiel entsprechend nicht als dokumentarisch im Sinne einer historiografischen Aufzeichnung, 79 sondern höchstens als spielerische Nachbildung eines historischen Kontexts.
Das Wirkungspotential der physikalischen Realistik erfährt vor allem spielerseitig erhebliche Einschränkungen, da der Modus der simulierten Echtzeitdokumentation 80 eines Spiels wie etwa Medal of Honor: Rising Sun (2003, EA Games) durch die Rahmenbedingungen des Spiels stark begrenzt ist. Der Spieler rezipiert das Geschehen lediglich audiovisuell. Sämtliche weiteren Eindrücke, die entsprechende Handlungen in der Realität mit sich bringen würden, inklusive der rezeptiven Folgewirkungen wie Trauma­tisier­un­gen etc., fallen weg. Der Spieler weiß daher nur zu gut, dass er weder aktuell wirklich handelt noch historisch wirklich handelt – andernfalls würde er sich überhaupt wohl kaum auf eine solche Handlung einlassen, die das Spiel simuliert. „Die Kugel im Kopf wird zu nicht mehr als der Notwendigkeit, das Spiel neu zu beginnen.“ 81 An diesem Bewusstsein zerbricht jede auf physikalische Realistik abgestellte, pseudodokumentarische Rezipientenwirkung.

Die Spielstruktur ist es auch, die den übrigen Realismusmarkern in ihrem dokumentarischen Wirkvermögen entgegenarbeitet. Das trifft besonders auf den in der Hauptsache für Doc Games angeführten Fall narrativer Realistik zu, wenn also ein Computerspiel einen historischen Sachverhalt in seine narrative Struktur integriert. Nur dadurch, dass historische Daten genutzt werden, d. h. konkret: nur dadurch, dass Red Baron (1990, Dynamix) den Luftkrieg des Ersten Weltkriegs thematisiert, Close Combat (1996, Atomic Games) oder Medal of Honor: Rising Sun (2003, EA Games) 82 den Zweiten Weltkrieg als Handlungshintergrund nehmen, Under Ash (2001, Dar al-Fikr) und Under Siege (2005, Afkar Media) 83 auf aktuelle politische Zustände, nämlich den Israelisch-Palästinensischen Konflikt referieren, oder Kuma\War John Kerry’s Silver Star (2005, Kuma Reality Games) eine Episode aus der militärischen Vergangenheit des US-amerikanischen Präsidentschafts­kandidaten von 2004 verhandelt, können diese Spiele nicht automatisch als Belege für die mit ihnen geschilderten Situationen wirken. Computerspiele sind nicht historiografisch im Sinne einer Aneinander­reihung historischer Fakten. Die Rezeptionshaltung des Spielers ist in der Folge nicht eine der passiven Auseinandersetzung mit vordefiniert vorgefundenen Fakten, sondern der Spieler verhält sich explorativ und durch seine Rolle als „Erzähler“ auch produktiv. Zugleich bietet die Spielstruktur dem Spieler von einer narrativen Zwischenstufe zur nächsten eine Vielzahl von alternativen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten. Dieser Umstand ist besonders im Computerspiel augenfällig, wo die narrative Struktur in aller Regel eine multioptionale Zieldefinition aufweist, d. h. die Möglichkeit, dass ein Spieler je nach den Entscheidungen, die er trifft, auf unterschiedlichen Wegen zum Spielziel gelangen beziehungsweise sogar alternative Enden hervorbringen kann. Eine multioptionale Zieldefinition räumt dem Spieler eine allzu große Handlungsfreiheit gegenüber den historischen Fakten ein. Diese Fakten werden dann offensichtlich nicht dokumentarisch – ja, oft noch nicht einmal historiografisch korrekt wiedergegeben.

Das wird besonders in Spielen wie etwa JFK Reloaded (2004, Traffic Games) oder in Super Columbine Massacre RPG! (2005, Daniel Ledonne) augenfällig, in denen – in einem recht willkürlichen (und pietätslosen) Umgang mit den historischen Ereignissen – das Attentat auf Kennedy beziehungsweise der Amoklauf von Littleton nachgespielt wird. 84 Die historischen Sachverhalte werden in solchen Fällen auf ihren rein emotionalen Gehalt reduziert und zum Ausgangspunkt einer recht willkürlichen, pseudoauthentischen „Ereignisrekonstruktion“. Gleichzeitig ist sich der Spieler zweifellos sowohl über diese Ausbeutung des Affektwerts des historischen Ereignisses im Klaren als auch darüber, dass er lediglich – in einer Art Versuchsaufbau – dieses Ereignis mit ungewisser Wahrheitstreue nachstellt. Werden in einem Spiel auch Handlungsziele ermöglicht, die offensichtlich nicht mit historischen Fakten übereinstimmen, verliert das Spiel für den Zuschauer selbst seinen „historisch-rekonstruktiven“ Charakter und wird historische Fiktion. 85

Willkürlicher Umgang mit historischen Ereignissen in Super Columbine Massacre RPG

Hinzu kommt, dass eine Flexibilität der Handlungsstränge, d. h. eine gewisse Varianzbreite im Handlungsverlauf eines Spiels – und damit eine Abweichung von einer eventuellen historisch korrekten Handlungsabfolge – aufgrund der Regelparameter und der interaktiven Spielbeeinflussung durch den Zuschauer immer unvermeidbar ist. 86 Die Computerspielhandlung ähnelt daher insgesamt eher einem Reenactment der historischen Situation als einer validen Rekonstruktion eines vergangenen Ereignisses. Das hat mit zur Folge, dass das Kerncharakteristikum des Dokumentarischen im semiopragmatischen Sinne, nämlich das Postulat der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des medial vermittelten historischen Ereignisses verloren geht. Durch Laden bestimmter Spielstände kann ein bestimmtes Ereignis in einem Computerspiel nicht nur immer und immer wiederholt werden, es kann auch in gewissem Umfang immer und immer neu und anders wiederholt werden. Damit entspricht die Spielhandlung in ihrem Verlauf insgesamt keinesfalls mehr dem einzigartigen, spontanen und unmittelbaren Charakter des historischen Ereignisses, wie Handlungen und Ereignisabfolgen in einem Dokumentarfilm es tun, sondern sie wird beliebig, variabel und planbar.
Ob Spiele, die lediglich die abstrakten Strukturen von politischen oder wirtschaftlichen Prozessen nachempfinden, eine dokumentarisierende Lektüre beim Rezipienten erzeugen können, erscheint im Weiteren noch viel fragwürdiger, da dann ja nicht einmal mehr konkrete Ereignisse und Fakten spielerisch rekonstruiert werden, sondern bestenfalls Interpre­ta­tionen von Fakten oder theoretische Modelle auf Basis historischer Daten narrativ aufbereitet rezipiert werden.
Fasst man zusammen, so ist es auch unter Verwendung des Doku­mentationsverständnisses des semiopragmatischen Ansatzes unzulässig, Computerspiele als dokumentarisch klassifizieren zu wollen. Selbst in dem Fall, dass ein Computerspiel möglichst alle narrativen und formalen Realismusmarker einsetzt, wird es nicht indexikalisch, so dass ihm die Bewertung „dokumentarisch“ zu verwehren ist. Jedes Computerspiel, so detailreich es einen historisch korrekt recherchierten Sachverhalt auch darstellt, bleibt ein Spiel, ein Konstrukt, eine Simulation.
Dieser letzte Punkt besitzt weiter reichende Implikationen, die es geraten erscheinen lassen, auch den theoretischen Diskurs um das „dokumen­tarische Computerspiel“ kritisch zu sehen. Jedes Computerspiel folgt einer definitiven narrativen Struktur. Diese narrativ-strukturelle Festlegung zusammen mit der Regelgeleitetheit des Spiels stellt jedoch eine Interpretation des tatsächlichen historischen Sachverhalts dar und zwar nach dem Muster der Determination. Die Spiele zeigen nicht historio­grafisch, wie es zu einem bestimmten Ereignis gekommen ist, welche Faktoren mit zu einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung geführt haben etc. Sie zeigen vielmehr, dass es quasi unvermeidlich zu diesem Ergebnis, zu dieser Entwicklung hat kommen müssen: Die Invasion der Normandie musste glücken 87 , das Attentat auf Kennedy musste geschehen, und es war unzweifelhaft Lee Harvey Oswald, der es verübte (JFK Reloaded), der iranische Premierminister Mohammad Mossadegh musste durch ein CIA-Komplott gestürzt werden (The Cat and the Coup), 88 der israelisch-palästinensische Konflikt erfordert Waffengewalt ohne zu einer wirklichen Lösung führen zu können (Under Ash) 89 etc.
Diese determinative Ideologie ist im zielorientierten Spieldesign begründet. Da die historischen Geschehnisse zu einer narrativen Grundstruktur ver­arbeitet werden, werden sie jedoch zu unumgänglichen Aspekten einer planvoll verlaufenden historischen Entwicklung hypostasiert und Geschichte insgesamt als ein zielgerichteter Prozess dargestellt. 90 Das aber ist weniger ein dokumentarisch-neutraler als ein prädestinativ-tendenziöser Umgang mit historischen Daten, was im Diskurs um das „dokumentarische Computerspiel“ allgemein übersehen wird. Aus diesem Grund und vor dem Hintergrund der genannten Argumente scheint es angeraten, den Begriff des „dokumentarischen Computer­spiels“ insgesamt abzulehnen und auf­zu­geben. Computerspiele sind im Wesentlichen Unterhaltungsmedien, 91 keine Informationsmedien, wohingegen Dokumentationen im Kern auf die Vermittlung von Informationen ausgelegt sind und nur teilweise den Aspekt der Unterhaltung mit aufweisen können. Statt auf einen Begriff wie „do­ku­mentarisches Computerspiel“, sollte daher besser auf Bezeichnungen wie historisches Computerspiel (Historical Game) oder Reenactment Game ausgewichen werden.


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Wiemeyer, Josef: Gesundheit auf dem Spiel? – Serious Games in Prävention und Rehabilitation. S. 252-257. In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 61/11, 2010.
Zehle, Soenke: Play the News. Serious Games Between Casual Play and the Work of Reportage. S. 137-151. In: Jörg von Brincken, Horst Konietzny (Hrsg.): Emotional Gaming. Gefühlsdimensionen des Computerspielens. München: epodium 2012.
Zyda, Michael; Hiles, John; Mayberry, Alex; Wardynski, Casey; Capps, Michael; Osborn, Brian; Shilling, Russell; Robaszewski, Martin; Davis, Margaret: Entertainment R&D for Defense. S. 28–36. In: IEEE Computer Graphics and Applications, 23/1, 2003.
Zyda, Michael: From Visual Simulation to Virtual Reality to Games. S. 25-32. In: Computer, 38/9, 2005.

Internetquellen

Ghattas, Kim (2002): Syria launches Arab war game. In: BBC News World Edition, 31.05.2002. http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/2019677.stm (18.03.15)
De Sa, Pedro Paulo Viegas (2004): Iraq War Shouldn’t Be A Video Game – But It Is. In: Albion Monitor, 15.10.2004. http://www.monitor.net/monitor/0412a/copyright/kumawar.html (01.04.15)

  1. Zyda 2005 definiert Serious Games als „a mental contest, played with a computer in accordance with specific rules, which uses entertainment to further government or corporate training, education, health, public policy, and strategic communication objectives“ (S. 26). Wiemeyer 2010 definiert Serious Games allgemein als „digitale Spiele für ernsthafte Einsatzzwecke“ (S. 252). Speziell zu medizinischen Serious Games und deren Taxonomie siehe Rego/Moreira/Reis 2010.[]
  2. Vgl. besonders Bogost/Poremba 2008, die zu den Doc Games jedes Computerspiel zählen, „that makes reference (however tenuously) to ‚the real world‘“.[]
  3. Zu nennen sind: Raessens 2006, Bogost 2007, Fullerton 2008, Bogost/Poremba 2008, Poremba 2009 und Poremba 2011, Bogost/Ferrari/Schweizer 2010, Zehle 2012, Brinson/ValaNejad 2012 und Sørensen/Thorhauge 2013.[]
  4. Bogost/Poremba 2008: 13 (Übersetzung MCH).[]
  5. Vgl. besonders Fullerton 2008, Bogost/Poremba 2008 und Bogost/Ferrari/Schweizer 2010.[]
  6. Narrative Zwischenstufen haben meist die Gestalt von einzelnen Leveln oder Einzelhandlungsendstufen, zu denen der Spieler nach dem Erreichen bestimmter quantitativer oder qualitativer Levelziele gelangt und an denen die Einflussmöglichkeit des Spielers kurz geblockt und etwa eine Videosequenz eingespielt wird.[]
  7. Siehe dazu insgesamt auch Atkins 2003: „Narration emerges out of the tripartite human–text–machine interface where there is a physical encounter with technology, and cannot be simply fixed solely in some exterior figure of a narrator, but in the reader who also functions as narrator.“ (S. 74.) []
  8. Vgl. dazu Atkins 2003, der in seiner Computerspieltheorie daher auch davon ausgeht, dass Computerspiele „gelesen“ werden.[]
  9. Diese haben gewissermaßen den Stellenwert von zu unterschiedlichen Handlungssträngen führenden Optionen.
    []
  10. Vgl. auch Atkins 2003: „The artificial intelligence might be unpredictable, but it responds both to the already written script, and to the actions of the reader.“ (S. 74.) []
  11. Vgl. auch Atkins 2003: „In effect, the player [...] is telling himself or herself the story in a fashion that is inevitably unique to that individual, and to that moment, and the lack of predictability guarantees an individual and unique experience.“ (S. 74.) []
  12. Zu unterscheiden ist zwischen dem aktiven Handlungsraum, in dem sich der Spieler überall bewegen kann, und dem inaktiven Rahmenraum, der entweder durch eine als Videosequenz dargebotene Rahmenerzählung (Headquarters etc.) entworfen oder durch sichtbare, jedoch nicht begehbare Abschnitte im Handlungsraum gestaltet wird.[]
  13. Das gilt nicht nur für Figuren und Inventar, sondern auch für den raumzeitlichen Komplex: Der dargestellte Raum dient der Entfaltung der narrativen Struktur. Er ist künstlich nach Prinzipien der optischen Projektion erzeugt, besitzt endliche Ausmaße, limitiert die Bewegungsfreiheit des Spielers und definiert dessen Weg durch die Spielwelt. Die dargestellte Zeit verläuft aufgrund der interaktiven Dependenz von Spielwelt und Spielerwirklichkeit in aller Regel parallel zur realen Zeit. Dabei ist sie in aller Regel – außer es handelt sich um ein persistentes Spiel – ebenfalls künstlich, da sie unter anderem durch eine Spielunterbrechung pausiert oder durch Laden alter Spielstände quasi zurückgedreht werden kann.[]
  14. Der Aspekt der Regelgeleitetheit wird von einigen Theoretikern des Computerspiels als zentral angesehen; vgl. etwa Adams/Dormans 2012: „There are many different definitions of what a game is, but most of them agree that rules are an essential feature of games.“ (S. 1.) – Vgl. auch Juul 2005: „Games are rule-based. [...] A game is a rule-based system with a variable and quantifiable outcome“ (S. 36). – Vgl. auch Salen/Zimmerman 2004: „A game is a system in which players engage in artificial conflict, defined by rules, that results in a quantifiable outcome.“ (S. 81.) []
  15. Siehe dazu auch Pietraß 2003: 90-93.
    []
  16. Vgl. bereits Peirce, CP 2.320: „A better example is a photograph. The mere print does not, in itself, convey any information. But the fact, that it is virtually a section of rays projected from an object otherwise known, renders it a Dicisign.“ Dabei gilt, dass „a Dicisign is a sign which is understood to represent its object in respect to actual existence“ (Peirce, CP 2.252). []
  17. Bazin 1967: 96 (Übersetzung MCH).[]
  18. Barthes 1985: 97.[]
  19. Berg 2001: 40.[]
  20. Dubois 1998: 75.[]
  21. Nies 2013: 300.[]
  22. Arriens 1999: 10.[]
  23. Vgl. auch Renov 1993: „[T]he documentary sign may be considered as a piece of the world plucked from its everyday context rather than fabricated for the screen.“ (S. 7.)
    []
  24. Souriau 1997: 146. Die „afilmische Wirklichkeit“ ist nach Souriau die Gesamtheit der „wirklichen und gewöhnlichen Welt, die unabhängig vom Film existiert, die Welt, in der Sie und ich tagtäglich leben und die bereits da war, bevor es Filme gab [...,] unabhängig von jeder kinematographischen Aktivität“ (ebd.).[]
  25. Vgl. dazu Peirce: CP 2.247.[]
  26. Grierson 1976: 23 (Übersetzung MCH).[]
  27. Vgl. dazu ausführlich Grimm 1996.[]
  28. Kessler 1998: 71.[]
  29. Greimas/Courtés 1979: 417f.[]
  30. Kessler 1998: 66.[]
  31. Vgl. dazu insgesamt Odin 1998.
    []
  32. Kull 2006: 18. – Vgl. auch Heller 1990: „Dokumentarisches Filmen zielt nicht darauf, die Wirklichkeit um ihrer selbst willen filmisch zu reproduzieren. Dokumentarischem Filmen liegt vielmehr das Motiv zugrunde, in konkreten historischen Zusammenhängen Ausschnitte der Realität dem tatsächlichen oder imaginierten Zuschauer in einem für ihn bedeutungsvollen Licht erscheinen zu lassen. Und umgekehrt bemisst sich das Interesse des Zuschauers an dokumentarischen Filmen daran, inwieweit er Wirklichkeit in einer für ihn bedeutsamen Perspektive in den Bildern erkennen kann. Es ist dieses konstruktivistische Prinzip, zugeschnitten auf den Zuschauer: auf seine jeweiligen historisch-sozialen Erfahrungen, Wünsche, Phantasien und vor allem eingefahrenen Wahrnehmungsmuster, mit denen der Dokumentarfilm operiert“ (S. 21).[]
  33. Vgl. auch Heller 1990: „Das Dokumentarische – als unmittelbarer, selbstevidenter Ausdruck von Wirklichkeit im Bild – stellt keine wesensmäßige Qualität des Films an sich dar, sondern das Resultat von Medienkonventionen, in denen Filmemacher und Publikum übereinkommen: nämlich dem apparativ erstellten Filmbild ein besonderes Moment von Wahrheit und Authentizität zuzuschreiben.“ (S. 19.) []
  34. Kessler 1998: 77.[]
  35. Diese Tendenz in der Computerspieltheorie nahm ihren Ausgangspunkt bei Fullerton 2008, die theoretisch davon ausgeht, dass Computersimulationen „not only visually model, but behaviorally model aspects of history“.[]
  36. Kessler 1998: 67.[]
  37. Vgl. dazu auch den Komplex des „reality effect“ bei Dijck 2006. []
  38. Minh-ha 1993: 94 (Übersetzung MCH; Hervorhebungen des Originals aufgehoben). []
  39. Zum Begriff des sozialen Realismus und seiner Bedeutung im Computerspiel vgl. besonders Galloway 2006; siehe ebd. auch: „So it is because games are an active medium that realism in gaming requires a special congruence between the social reality depicted in the game and the social reality known and lived by the player.“ (S. 83.) []
  40. Siehe zu den beiden letzten Punkten besonders Wünsch 1998, die auf Basis der „quantitative[n] Realitätsinkompatibilität“ und der „qualitative[n| Realitätsinkompatibilität“ (S. 25-43) belastbare Konzepte entwickelt hat, die eine klare Unterscheidung von realistischen und fantastischen Sujets ermöglichen.[]
  41. Vgl. Minh-ha 1993.[]
  42. Vgl. Minh-ha 1993: „[T]he close-up is condemned for its partiality, whereas the wide angle is claimed to be more objective because it includes more in the frame, hence it can mirror more faithfully the event-in-context. (The more, the larger, the truer – as if wider framing is less a framing than tighter shots.)“ (S. 95.) []
  43. Luginbühl 2009: 68. – Vgl. auch Lünenborg 2005: „[D]er spezifische Modus der Repräsentation von Wirklichkeit im Journalismus besteht darin, die Mittel der Repräsentation unsichtbar zu machen. Dem Zuschauer soll damit der Eindruck möglichst authentischer Wiedergabe von Wirklichkeit vermittelt werden.“ (S. 176.) []
  44. Sachs-Hombach 2005: 38.[]
  45. Minh-ha 1993: 94 (Übersetzung MCH; Hervorhebungen des Originals aufgehoben).[]
  46. Dieser Gedankengang spielt auch im um Authentizität bemühten modernen Spielfilm eine große Rolle; vgl. etwa die Dogma-Filme oder auch das Blair Witch Project (1999). Vgl. dazu auch schon den Hinweis von Deleuze 1989 auf „die Bedeutsamkeit des ‚falsch wirkenden‘ Details“, das als „Zeichen der Realität im Gegensatz zum Realismus beziehungsweise [als] ein Zeichen der Wahrheit im Gegensatz zum Verismus“ (S. 321) fungiert.[]
  47. Vgl. auch Minh-ha 1993: „The lightweight, handheld camera, with its independence of the tripod – the fixed observation post – is extolled for its ability ‚to go unnoticed,‘ because it must be at once mobile and invisible, integrated into the milieu so as to change as little as possible, but also able to put its intrusion to use and provoke people into uttering the ‚truth‘ that they would not otherwise unveil in ordinary situations.“ (S. 95.) []
  48. Odin 1998.[]
  49. Minh-ha 1993: S. 95 (Übersetzung MCH); vgl. ebd.: „[C]hange at the cutting stage is ‚trickery,‘ as if montage did not happen at the stages of conception and shooting“.[]
  50. Odin 1998.[]
  51. Minh-ha 1993: „Lip-synchronous sound is validated as the norm; it is a ‚must‘; not so much in replicating reality (this much has been acknowledged among the fact-makers) as in ‚showing real people in real locations at real tasks.‘ Even nonsync sounds that are recorded in-context are considered ‚less authentic‘ because the technique of sound synchronization and its institutionalized use have become ‚nature‘ within film culture.)“ (S. 94.) []
  52. Die Rezeptionswirkung ist deshalb auch der zentrale Aspekt in der Argumentation für den Begriff des „dokumentarischen Computerspiels“. Deren Theoretiker verweisen daher besonders auf „the persuasiveness of the simulation“ (Fullerton 2008) der „Persuasive Games“ (Bogost 2007) und beziehen sich oft auch explizit auf die Konzepte der semiopragmatischen Theorie des Dokumentarischen (Raessens 2006).[]
  53. Galloway 2006: 84 (Übersetzung MCH). []
  54. Galloway 2006: 81 (Übersetzung MCH). []
  55. Galloway 2006: 84 (Übersetzung MCH).[]
  56. Bogost et al. 2010: 66 (Übersetzung MCH). []
  57. Die Tarawa-D-Day-Episode in Medal of Honor: Pacific Assault (2004, EA Games) etwa wird dadurch beendet, dass der Spieler infolge von suggerierten Geschossverletzungen das Bewusstsein verliert. Der Übergang aus dem aktiven Spiel in die anschließende Videosequenz und damit der rezeptive Übergang von Handeln zu Betrachten erhält so eine plausible narrative Motivation.[]
  58. Vgl. auch ebd.: „By allowing the player to enact the role of a specific figure during an actual historical moment, these games avoid accusations of bias or fiction. It creates an operational reality, one that allows players to enact specific events, rather than explore them haphazardly.“ (S. 66.) []
  59. Bogost 2007: 128 (Übersetzung MCH). – An anderer Stelle spricht Bogost 2007 auch von „re-creations of real-world events“ (S. 130). []
  60. Bogost/Poremba 2008: 12 (Übersetzung MCH).[]
  61. Zehle 2012: S. 144f. (Übersetzung MCH).[]
  62. Bogost/Ferrari/Schweizer 2010: S. 9f. (Übersetzung MCH).
    []
  63. Vgl. auch Bogost 2007: „Beyond an embodied experience of the procedural interactions between plane, building, and worker, 9-11 Survivor [2003, Kinematic] depicts the strange new logic of security and terror in our post-9/11 world.“ (S. 129.) – Bogost et al. 2010 unterscheiden hier stärker und sprechen dann von einer „prozessualen Realität“: „But procedural documentary games use rules to model the behaviors underlying a situation, rather than merely telling stories of their effects.“ (S. 69.) []
  64. Vgl. auch besonders die extrem differenzierte Beleuchtungsdynamik in Tom Clancy’s The Division (2013, Ubisoft). []
  65. Mustergültig dafür ist sicher die Naturdarstellung in Crysis (2007, Crytek Frankfurt). []
  66. Wie experimentelle Forschungen gezeigt haben, besitzt das Computerspiel – noch vor anderen audio-visuellen Darstellungsmedien wie Fernsehen, Kino aber auch Großkino – per se ein großes Potential, beim Rezipienten einen hohen Grad an physikalischer Raumempfindung hervorzurufen, „because it is interactive“ (Lessiter/Freeman 2001: 26). []
  67. Vgl. besonders die beeindruckenden, fließenden Nacht-Tag-Wechsel in Crysis (2007, Crytek Frankfurt). []
  68. Vgl. dazu Battlefield 3 (2011, Digital Illusions) und auch Tom Clancy’s The Division (2013, Ubisoft). []
  69. Dieses Prinzip wird etwa in Under Ash (2001, Dar al-Fikr) und Under Siege (2005, Afkar Media) rigoros verfolgt. Vgl. zu erstgenanntem Spiel auch den Kommentar von Ghattas 2002: „The game is surprisingly real. If Ahmad gets shot, he dies.“ – In Medal of Honor: Pacific Assault (2004, EA Games) etwa ist das Prinzip optional und tritt dann auf, wenn der Spieler zu Spielbeginn unter den vier Schwierigkeitsgraden die Option „Realistic“ wählt. []
  70. Zu Beginn der Tarawa-D-Day-Episode in Medal of Honor: Pacific Assault (2004, EA Games) explodiert beispielsweise das Landungsboot. Der Spieler wird dabei aus dem Boot geschleudert, seine visuelle Wahrnehmung trübt sich Momente lang ein und ein Tinnituspfeifen blockt den akustischen Kanal aus. []
  71. Vgl. auch die Angaben von Zyda et al. 2003: „For added realism, footsteps, bullet impacts, particle effects, grenades, and shell casings are accorded texture-specific impact noises. A flying shell casing clinks differently on concrete, wood, or metal, for instance, and the distinction is clearly heard in the game. Likewise, footsteps on dirt, mud, wood, concrete, grass, and metal are sounded correctly.“ (S. 29.) []
  72. Siehe dazu etwa Menache 2000. []
  73. Das in der Computerspieltheorie entwickelte „concept of presence (the user’s perceptual illusion of non-mediation“ (Larsson et al. 2010: 145) deckt sich interessanterweise unmittelbar mit dem in der Dokumentarfilmtheorie gängigen Konzept der unmedialisierten Wahrnehmungssituation. []
  74. Letzteres ist besonders in The Typing of the Dead: Overkill (2013, SEGA) derart realisiert, dass die gesamte Wahrnehmungsoberfläche des Bildschirms von Alterungserscheinungen („Bindfäden“, „Fliegen“ etc.) überzogen ist, wie sie typischer Weise an altem Filmmaterial auftreten. []
  75. Dieser Realismusmarker wird auch im Animationsfilm verwendet; vgl. dazu auch die Anmerkungen von Dijck 2006: 13. []
  76. Dieses Prinzip findet sich bereits in Doom 2 (1994, id Software), wurde in die meisten Ego-Shooter übernommen und in Spielen wie etwa der House of the Dead-Serie (1996-2013, SEGA) ins Extrem getrieben. []
  77. Kessler 1998: 70. []
  78. Linda 1984: 40. []
  79. Problematischer Weise sprechen unter anderem Bogost/Ferrari/Schweizer 2010 dagegen ausdrücklich davon, dass Doc Games historische „Aufzeichnungen“ seien, wenn sie diese als Spiele beschreiben, die darauf angelegt sind, „to record an event, its space, and its stakeholders for posterity“ (S. 61; Hervorhebung MCH). []
  80. Atkins 2003 spricht etwa von „History in real-time“ (S. 90). []
  81. De Sa 2004 (Übersetzung MCH).[]
  82. Fullerton 2008 lässt sich in ihrer Besprechung dieses Spiels zu der Bemerkung hinreißen: „In this game, you are a witness to history.“ []
  83. Sisler 2008 schreibt zu diesem Spiel: „[T]he game introduces real events to the virtual world“. []
  84. Dennoch werden diese Spiele unter anderem von Raessens 2006, Bogost 2007, Fullerton 2008 und Bogost/Poremba 2008 zu den „documentary games“ gezählt. []
  85. Das wird besonders auch an Spielen wie The Cat and the Coup (2011) deutlich. Dessen Entwickler zählen das Spiel dennoch zu den „nonfiction games“ zu und bezeichnen es als „documentary videogame“ (Brinson/ValaNejad 2012), weil es den Sturz des iranischen Premierministers Mohammad Mossadeghs thematisiert – obwohl der Spieler eine Katze als player character steuert, der historische Ereignisse in metaphorischer Form präsentiert werden (vgl. auch Brinson/ValaNejad 2012: „[T]he game is ostensibly an allegory“.) und die Grafik des Spiels extrem reduziert ist und als Bildbasis „persische Miniaturen [nutzt], ein Malstil, der aus der Zeit vom 13. bis zum 16. Jahrhundert herrührt“ (ebd., Übersetzung MCH).[]
  86. Greeff 2001 nennt mit den Regeloptionen „Limiting the interactivity“, „Not taking the user’s readiness for the climax into consideration“ und „Advancing the plot along with the user’s advances“ (S. 123) drei Möglichkeiten, den Faktor der Interaktivität zur Wahrung einer historisch korrekteren Ereignisabfolge stärker zu kontrollieren, allerdings können diese teils durch ein „unkooperatives“ Spielverhalten ausgehebelt werden. Ähnliches ist zu den drei Optionen zu sagen, die Fullerton 2008 nennt: „[T]he player’s role was made generic, so that their actions, while having local effects, did not globally affect the outcome of history“. „The player’s goal is to re-enact history exactly, and only by doing so can they “win” the game.“ „[E]xploring the ideology surrounding an event rather than a specific timeline of events“. []
  87. Medal of Honor: Allied Assault (2002, EA Games[]
  88. Vgl. dazu auch Brinson/ValaNejad, 2012: „Mossadegh’s downfall is inevitable unless the player literally stops playing.“[]
  89. Das Spiel endet ohne eigentliches Abschlussergebnis. Vgl. dazu auch die Aussage von Radwan Qasmiyya, eines Mitentwicklers des Spiels: „Under Ash is about history. So in our modern history there is no solution for the conflicts and the game is some kind of a mirror. [...] There is no solution for Ahmad's case. At the last level of the game, there will be no major victory or reclaiming lands.“ []
  90. Vgl. auch Bogost 2007: „Games like Waco Resurrection [2003, C-Level] and JFK Reloaded [2004, Traffic Games] are procedurally expressive; they embody their commentary in their rules.“ (S. 135.) []
  91. In letzter Hinsicht muss deshalb auch die Anmerkung von Raessens 2006 unbedingt kritisch gesehen werden: „The public will only accept the documentary computer game if it creates something that could be described by the neologism ‚faction‘: the combination of ‚facticity‘ or ‚documentarity‘ with the pleasure derived from playing fictional computer games.“ (S. 223.) []

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Hänselmann, Matthias: "Doc Game oder Reenactment Game? Zur Be­wer­tung des Do­ku­men­tarischen in „do­ku­men­ta­ri­schen Computer­spielen“". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 06.05.2015, https://paidia.de/doc-game-oder-reenactment-game-zur-bewertung-des-dokumentarischen-in-dokumentarischen-computerspielen/. [13.12.2024 - 03:29]

Autor*innen:

Matthias Hänselmann

Matthias Hänselmann studierte an der Universität Passau Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte und befasste sich in seiner als interdisziplinäre Grundlagenarbeit angelegten Dissertation mit der Semiotik und Narratologie der Bildanimation (Zeichentrickfilm, Cut-out-Animation, Computeranimationsfilm etc.). Er ist Lehrbeauftragter der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Gründungsmitglied des Virtuellen Zentrums für kultursemiotische Forschung (VZKF) und Mitglied der AG Animation.