Die 11,3 Millionen Tode des Rico Rodriguez: Deathmapping als Möglichkeit zur Visualisierung des hodologischen Raumes
Eine große Passagiermaschine gleitet mit mehr als 350 km/h durch die tropischen Canyons des Inselstaates Panau. Ihr Cockpit ist leer – der 'Pilot' hält sich mit einer Leine am Rücken des Kolosses fest und reitet den Passagierliner durch den wolkenfreien Himmel, vorbei an Bergen und nebligen Tropenwäldern. Dieser Akt übermenschlichen Geschicks wird jedoch jäh durch einen plötzlich aus dem Nebel brechenden Hochstrommasten unterbrochen: Die Maschine fängt Feuer und explodiert, ihr Reiter wird von der Explosionswolke in die Tiefen des Dschungels geschleudert und stirbt beim Aufschlag. Doch nach einem kurzen Augenblick der Dunkelheit findet er sich wieder auf der Landebahn des Flughafens, auf dem er seinen abenteuerlichen Flug begann.
Der auf wundersame Weise wiederauferstandene Pilot ist weder ein religiöser Fanatiker, noch ein Airlinepilot, der für seinen Übermut mit dem Leben bezahlen musste: Rico Rodríguez ist der Protagonist des Third Person Actiontitels Just Cause 2, seine augenscheinliche Wiedergeburt nur einer von unzähligen Respawns, die sich im Spielverlauf anhäufen.
Was nun geschieht, passiert ohne das Wissen des Spielers: Der Kollisionstod der Spielfigur und ihre exakte Position auf der Spielekarte werden gespeichert und anonym an die Entwickler von Avalanche Studios bzw. Eidos geschickt. Ähnliche Informationen kommen von jeder Kopie von Just Cause 2, die auf einer mit dem Internet verbundenen Konsole gespielt wird. So sammeln sich schließlich Millionen von 'Kollisionsevents' aus unzähligen Playthroughs einer Vielzahl von Spielern zu einem gewaltigen Datensatz.
Mitarbeitern von Square Enix, dem Publisher von Just Cause 2 ist es gelungen, durch den Einsatz von Point Cloud Software die bis jetzt gesammelten 11,3 Millionen Kollisionsevents aus den Datensätzen in einer Karte der Spielewelt zu visualisieren:
Jeder Punkt auf der Karte stellt den Tod eines Avatars dar. Die hellsten Stellen auf der Karte sind die mit der meisten Aktivität, beziehungsweise den meisten Todesfällen. Dies ermöglicht einen neuen Blick auf die offene Spielewelt von Just Cause 2: Unter den am besten sichtbaren Stellen sind logischerweise Städte, die oft als Missionshubs dienen (und aufgrund der vielen Hochhäuser zu einer Menge Flugunfälle führen können), jedoch auch abgelegene Stellen, die allein aufgrund ihrer Eignung als Kunstflugobjekt von Interesse sind, wie ein vereinzelter Zeppelin oder ein weit abgelegenes Hochhaus mit einer Lücke, die gerade Raum für ein kleines Flugzeug lässt.
Damit ist Just Cause 2 nicht alleine. Death Maps sind ein wertvolles Instrument in der Spieleentwicklung, mit dem wie im Fall von Half Life 2: Episode 2 oder Team Fortress der Schwierigkeitsgrad von Leveln untersucht werden kann, ohne aktiv Spieler befragen zu müssen.
Das Science Fiction MMORPG Eve Online geht dabei einen Schritt weiter und gibt die Informationen über 'Podkills' (tote Spieleravatare) in Echtzeit in der Karte des Universums wieder. Spieler können und müssen die Informationen nutzen, um sicher durch die offene Spielewelt zu reisen und nicht unversehens in einen Hinterhalt (menschlicher) Weltraumpiraten oder eine Schlacht zwischen zwei Spielerallianzen mit mehreren Hundert Teilnehmern zu landen.
Bedenkt man, dass in jeder dieser Maps jeder Tod und somit jeder Punkt auf der Karte aus einer eigenen Motivation und Todesursache resultiert, wird klar dass „Deathmaps“ wie die von Just Cause 2, Eve Online oder Half Life 2: Episode 2 eine völlig neue Möglichkeit zur Visualisierung der Spieleerfahrung einer Vielzahl von Individuen darstellen.
Zentral für diese Überlegung ist das von Kurt Lewin entwickelte und von Stephan Günzel auf das Medium der Computerspiele angewandte Konzept des hodologischen Raumes, eines primär psychologischen Erfahrungsraumes, der sich aus den vom Spieler in der Welt zurückgelegten Strecken und dabei gesammelten (subjektiven) Erfahrungen zusammensetzt. Auch wenn dieser per definitionem nicht direkt graphisch dargestellt werden kann, eröffnen death maps durch ihre statistische Arbeitsweise doch die Möglichkeit, eine annähernde Vorstellung des kollektiven Erfahrungsraumes vieler Spieler zu bekommen – unzählige Blutflecken formen die Konturen des hodologischen Raumes.
Death maps sind ein vielversprechendes neues Konzept, sowohl für Spieleentwickler wie auch Wissenschaftler. Die Speicherung und Kompilierung von Todesereignissen in Spielen hilft Entwicklern sowohl den Schwierigkeitsgrad von Levels und Missionen zu testen (und anzupassen), als auch das ungescriptete Spielerverhalten außerhalb von Missionen – paidia als freies Spielen – besser zu begreifen. Aus der Protokollierung und Verarbeitung weiterer Daten (wie der Aufenthalt in bestimmten Bereichen oder Interaktion mit bestimmten Nichtspielercharakteren) würden sich ungeahnte Möglichkeiten ergeben, die Aktion von Spielern und spielinterner Welt zu begreifen. Die Reaktion von Spielern auf Figuren, Levels und Herausforderungen wäre nicht länger nur durch sporadische Kommentare von Spieletestern, Journalisten oder Forenbenutzern zu erfahren, sondern aus dem Spiel selbst – möglicherweise (wie im Beispiel Eve Online) in Echtzeit zu kompellieren - gleichsam einer Karte des kollektiven Unterbewusstseins.
Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien
- http://i.imgur.com/ZhGuL.jpg (IGN.COM)
- http://i.imgur.com/JaLfF.jpg
- http://i.imgur.com/6CFFW.jpg
- Stephan Günzel: Bildtheoretische Analyse von Computerspielen in der Perspektive Erste Person. IMAGE 4 (Ausgabe Juli 2006). URL: http://www.bildwissenschaft.org/image/ausgaben?function=fnArticle&showArticle=89