Denkt denn niemand an die Kinder?

27. Februar 2013

In zwei relativ aktuellen Titeln stellen Kinder die für die Erzählung zentral­sten Figuren, wie dies bereits bei Heavy Rain der Fall war, auf das die nach­folgenden Thesen wohl genauso zutreffen und das wohl als Meilen­stein auch in Bezug auf die Verhandlung dieser Thematik in Computer­spielen angesehen werden kann. Die Rede sei aber hier vor allem von Dishonored und The Walking Dead. In beiden Spielen steht der Protagonist in einem engen Verhältnis zu einem Kind, für das er so etwas wie ein Ersatzvater und einzige Bezugsperson zu sein scheint. Beides sind im übrigen Mädchen und weisen dabei einerseits sehr starke Züge des Kindchenschemas auf (Clemen­tines Augen) als auch Marker für Unschuld (Emilys weißes Kleid) auf. Beides lässt darauf schließen, dass hier ganz gezielt auch mit dem Geschlecht der Spielfiguren gearbeitet wird, um wohl einen möglichst starken Beschützerinstinkt beim Spieler auszulösen.

Die Spielfigur in The Walking Dead ist die etwa neunjährige Clementine, die der Protagonist Lee durch Zufall inmitten der Zombie-Apokalypse findet und die er in Sicherheit bringen will; in Dishonored ist es die zwölfjährige Emily, Tochter der Kaiserin Jessamine Kaldwin, die der Protagonist Corvo Attano, der Leibwächter der Kaiserin, nach einem Attentat auf ihre Mutter und der Entführung der Tochter, wiederfinden will und ihr zu ihrem rechtmäßigen Platz auf dem Thron verhelfen will.

Emily Kaldwin (Dishonored)

In gewisser Weise sind also beide Plots relativ stereotyp. Man könnte sie den Damsel in Distress-Erzählungen zurechnen, doch handelt es sich eben nicht um zu rettende Frauen (zu denen man selbst Princess Peach aus Super Mario rechnen könnte), sondern eben um Kinder, die in den meisten Computer­spielen entweder gar nicht vorkommen oder aber nur weniger wichtige Rollen besetzen, dabei aber meist trotzdem eine Sonder­stellung im Ensemble der Charaktere einnehmen, weil die Interaktionen mit ihnen extra Beschränkungen unterliegen, wie zum Beispiel im sonst so offen gestalteten Skyrim, in dem Kinder als einziges weder bestohlen noch angegriffen werden können.

Das Zentralstellen von Kindern kann wohl guten Gewissens als eine Neu­e­rung im Games-Bereich angesehen werden. Hinzu kommt, dass durch den Einsatz von Kindern vor allem auch die Rolle der Protagonisten eine Ver­änderung erfährt: Sie sind eben nicht die Outsider ohne persönliche oder familiäre Bindungen, sondern sie sind Väter oder Vaterfiguren – und der Spieler wird in dieser Funktion auf einer emotionalen (und evolutionär angelegten) Ebene angesprochen. Dishonored buchstabiert diese Art des Inbezugsetzens besonders aus. Da das Spiel aus der First-Person-Ansicht gespielt wird, kann man das Gesicht der eigenen Figur nie sehen, zudem trägt sie, sobald sie auf einer Mission unterwegs ist, immer eine Maske. Es gibt eigentlich nur ein einziges Bild von ihr und das wurde von Emily gemalt und mit dem Wort „Daddy“ versehen.

Corvo Attano gemalt von Emily

Damit wird Emilys Sicht auf den Spieler-Vater-Avatar Corvo auch zu einem identitäts­stiftenden Akt, weil seine Identität entweder von keinem wahr­genommen werden kann (durch die Maske können ihn seine Gegner nicht erkennen) oder er für sie nur als Werk­zeug dient, wie für seine Verbündeten, die ihn im Spielverlauf verraten und ihn nur benutzen, um selbst an die Macht zu kommen.

In The Walking Dead lernen sich die beiden Charaktere erst im Spiel kennen und doch übernimmt Lee recht schnell die Verantwortung für Clementine, die in ihm auch ihre einzige wirkliche Bezugsperson zu sehen scheint. Schlussendlich tut Lee alles, was in seiner Macht steht, um sie in Sicherheit zu bringen und setzt dafür viele Male sein Leben aufs Spiel und je nach Spielweise und Entscheidung des Spielers auch die Leben vieler anderer.

In beiden Spielen, wie auch in Heavy Rain, nehmen also die Protagonisten die Rolle des fürsorglichen und aufopferungsvollen Vaters ein. Damit einhergehend fällt aber auch auf, dass sie beide für Computerspiele eher älterer Charaktere sind, ist ihr Alter doch eher zwischen 35 und 45 anzusiedeln als zwischen 18 und 25, wie es sonst meist der Fall ist. Ist in diesem Fakt vielleicht einer der Gründe zu finden, warum solche Rollen auf einmal in Computerspielen repräsentiert werden? Denn das Durch­schnitts­alter der Spieler ist auf jeden Fall inzwischen deutlich höher geworden, 2011 lag  es bei 31 Jahren. 1 Im Vergleich dazu lag es noch 2007 bei 25 Jahren.  2  Soll also vielleicht die Darstellung von Vätern und Kindern die Realität des Spielers wiederspiegeln? Möglich ist dies auf jeden Fall und aus einer ökonomischen Perspektive ist es sicher auch ein möglicher Kauf­anreiz.

Dennoch wäre dies als alleinige Begründung wohl  kaum zufriedenstellend. Es wäre auch möglich, dass man nicht nur vom Erwachsenwerden der Spieler, sondern auch vom Erwachsenwerden der Spiele selbst sprechen kann, was wiederum im Umkehrschluss natürlich bedeutet, dass zuvor Spiele selbst auch immer noch Kinder waren, also ihr Potential noch bei weitem nicht ausgereizt hatten. Dies überschneidet sich auch mit der Einschätzung Janet Murrays der Spiele der Neunziger Jahre als Incunabula, also als noch nicht ausgereifte Medien. 3

Zu diesem Erwachsenwerden zählt auch die Wahrnehmung von Kindern als Kinder, zu denen man ein elterliches oder erzieherisches Verhältnis auf­bauen kann. Dazu dürfte es im Normalfall einen Erwachsenen brauchen, da man sonst ja selbst zum Wahrzunehmenden gehört und wohl die eigent­liche Position als Normalzustand annimmt, damit aber auch schnell selbst zum blinden Fleck der eigenen Wahrnehmung wird. Die Differenz scheint hier also nötig zu sein. Das Verhältnis von Gleichaltrigen ist dabei meist ein anderes und birgt auch ganz andere Problemfelder, wie zum Beispiel Bully 4 oder auch Legend of Zelda: The Skyward Sword 5 zeigen.

Corvo und Emily

Das Erwachsenwerden des Mediums könnte sich also darin zeigen, dass man den Spieler nicht nur durch Unterhaltung ansprechen möchte, sondern auch durch eine emotionale Bindung an die Charaktere und damit natürlich auch an die erzählte Geschichte, etwas, das Janet Murray bereits 1997 vorausgesagt hatte: „[T]here is no reason why more sophisticated developers could not make stories that have more dramatic resonance and human import to them, stories that […] mean something.” 6 Vielleicht beobachten wir ja gerade diese Entwicklung in den letzten Jahren und vielleicht können wir dem Phänomen ganz in kulturwissenschaftlicher Tradition auch einen passenden Namen geben. Erleben wir also gerade den narrative turn der Computerspiele?

Verzeichnis verwendeter Texte und Medien

Spiele:

Rockstar Vancouver: Bully. Rockstar Games. 2006.
Arkane Studios: Dishonored. Bethesda Softworks 2012.
Quantic Dream: Heavy Rain. Sony Computer Entertainment 2010.
Bethesda Game Studios: The Elder Scrolls V: Skyrim. Bethesda Softworks 2011.
Telltale Games: The Walking Dead. Telltale Games 2012.
Nintendo EAD: Legend of Zelda: The Skyward Sword. Nintendo 2011.

Texte:

Eckoldt, Matthias: Intelligente Studie über Computerspiele. Deutschlandradio 2007. <http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/619500/> [24.03.2016].
Murray, Janet: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. New York: Free Press 1997.
Thöing, Sebastian: Gaming Studien - Jeder Dritte Deutsche ist ein Spieler, Durchschnittsalter liegt bei 31 Jahren. PC Games Online 2011. <http://www.pcgames.de/Studie-Thema-208650/News/Gaming-Studien-Jeder-Dritte-Deutsche-ist-ein-Spieler-Durchschnittsalter-liegt-bei-31-Jahren-841769/> [24.03.2016].

Bilder:

Clementine: <http://kotaku.com/5975065/if-you-didnt-make-this-choice-in-the-walking-dead-clementine-would-make-it-for-you>
Emily Kaldwin: <http://dishonored.wikia.com/wiki/Emily_Kaldwin>
Corvo Attano: <http://dishonored.wikia.com/wiki/Corvo_Attano>
Corvo und Emily: <http://images.wikia.com/dishonoredvideogame/images/9/92/Dishonored-E3-Trailer.jpg>

  1. Vgl.  Thöing, Sebastian: Gaming Studien - Jeder Dritte Deutsche ist ein Spieler, Durchschnittsalter liegt bei 31 Jahren.PC Games Online 2011. < http://www.pcgames.de/Studie-Thema-208650/News/Gaming-Studien-Jeder-Dritte-Deutsche-ist-ein-Spieler-Durchschnittsalter-liegt-bei-31-Jahren-841769/ >  []
  2. Vgl. Eckoldt, Matthias: Intelligente Studie über Computerspiele. 2007. <http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/619500/> []
  3. Vgl. Murray, Janet: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. New York: Free Press 1997. S. 28. []
  4. Rockstar Vancouver: Bully. Rockstar Games. 2006.[]
  5. Nintendo EAD: Legend of Zelda: The Skyward Sword. Nintendo 2011. []
  6. Murray, Janet: Hamlet on the Holodeck. S. 54. []

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Unterhuber, Tobias: "Denkt denn niemand an die Kinder?". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 27.02.2013, https://paidia.de/denkt-denn-niemand-an-die-kinder/. [21.11.2024 - 12:44]

Autor*innen:

Tobias Unterhuber

Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft an der LMU München und der University of California, Berkeley. 2018 promovierte er bei Prof. Dr. Oliver Jahraus mit einer Arbeit zum Thema "Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht". Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Zu seinen Forschungsinteressen zählt neben Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie und Gender Studies auch die kulturwissenschaftliche Computerspielforschung.