Dear Esther - Kontingenz und Rezeption am Beispiel eines (narrativen?) Experiments
Spiel - oder etwas anderes?
Als das unabhängige Entwicklerstudio thechineseroom im Februar 2012 ihre Überarbeitung der Source-Mod Dear Esther als Standalone-Spiel auf den Markt brachte, fand direkt im Anschluss an dessen Veröffentlichung eine weitläufige Debatte innerhalb der Kreise von Spielern und Spielepresse statt. Hierbei lag das Augenmerk weitestgehend auf den Eigenschaften und Konventionen von Videospielen selbst. So schreibt eurogamer in ihrer Rezension zum Spiel.
Is it a game? I can't say I know the answer, but I do know that unless you're an IGF judge or a prissy dogmatist who sets out to pedantically define the boundaries of an extremely fluid medium, then you shouldn't really care. All that matters is that Dear Esther is worth your time - and that its two-hour long chill will remain in your bones for a long while after. 1
Dear Esther versteht es, Spielekonventionen zu irritieren. Grundlegende Prinzipien (fast) aller Videospiele sehen sich hier verletzt: "What, no high-score table? Where are the guns? Dialogue trees? How do I level up? Surely there's some sort of keycard puzzle?" 2 Die Problematik, mit der sich viele Rezensenten beschäftigen, ist nicht nur der Verstoß gegen die spielerische Norm, sondern darüber hinaus auch die Notwendigkeit diese neue Erfahrung über eine gemeinsame Basis zu verhandeln.
Handlungs-Fragmente oder Fragmenthandlung
Hierbei tritt die Problematik nicht nur im Zusammenhang mit den generellen Spielprinzipien Dear Esthers auf. Selbst auf der Basis, sich zunehmend mit einem originellen Gegenstand zu beschäftigen und diesen mehr über Interpretation und Beobachtung zu erschließen, stößt ein gemeinsamer Verhandlungsraum schnell an seine Grenzen. Der Grund dafür ist oberflächlich simpel: Dear Esther bietet ein ungewohntes Maß an Varianz innerhalb einer ungewohnt restriktiven Interaktionsstruktur.
"You're more of an observer than a participant in Dear Esther, walking and listening and doing little else." 3 Trotz dieser Beschneidung der sonst so gewohnten Spielerfreiheit, ist es doch schwer zwei Personen exakt dasselbe Spielerlebnis erfahren zu lassen. Grund dafür sind die unterschiedlichen Versatzstücke der Narration, welche dem Spieler durch den Erzähler als Textfragmente auf seinem Weg über die Insel vorgetragen werden. Hinzu kommen eine zufällige Anzahl an Schemen und schattenhaften Figuren, denen der Spieler begegnen kann, aber nicht muss.
Dear Esther ist deswegen eine andere: Das Spiel bietet auf der Ebene der Handlungsmöglichkeit nur minimale Varianz. Der Spieler bewegt sich auf der Insel in einer vergleichsweise eingeschränkten Umgebung. Es gibt keine unterschiedlichen Wege zum Ziel, keine Auswahlmöglichkeiten und keine Interaktionsmöglichkeiten mit Objekten in der Umgebung. Die Insel ist gewissermaßen für den Spieler unerreichbar, während sich dieser in ihr bewegt. Der Zugriff ist indirekt. Der des reinen Beobachters, dem nur die Möglichkeit der Interpretation einen Zugriff auf das ihm Dargebotene eröffnet.
Hat sich der Spieler auf diese Tatsache eingestellt und sucht nach dem (Durch)-Spielen einen Zugriff auf die Geschichte, fällt eines besonders auf: Das innerhalb der Spielerhandlung (oder auch zwischen verschiedenen Spieldurchläufen) Erlebte unterscheidet sich zwischen verschiedenen Spielern frappierend. 4 Unterschiedliche visuelle Eindrücke und vor allem die zufällige Zusammensetzung der Geschichte aus einer Vielzahl von Textausschnitten betten die Wanderung über die Insel in einen jeweils unterschiedlichen Kontext. Die gemeinsame Interpretation wird aufgrund der individuell unterschiedlichen Erfahrung schwierig. Im Extremfall finden wir bei einzelnen Spieldurchläufen kaum Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Fragmenten der im Spiel vorgetragenen Textpassagen.
Zusammen (miss)verstehen
Einen Bestandteil dieser Problematik finden wir in den Bestrebungen gemeinschaftlicher Konsolidierungsprojekte, welche darauf ausgelegt sind, in einer Linie die gesamte in Dear Esther vorhandene potentielle Textmenge - also alle möglichen Geschichtsfragmente - zu katalogisieren. 5 Die Loslösung der einzelnen Textfragmente aus dem Kontext ihrer eigentlichen Rezeption, als Versatzstücke einer auch in ihrer Gesamtheit, fragmentarisch bleibenden Erzählung führt jedoch an der Spielpraxis vollständig vorbei.
Der Versuch eines "absoluten" Textverständnisses im Sinne der Interpretierbarkeit des gesamten Spiels in allen seinen möglichen Iterationen ist nicht nur ein anderer Zugriff auf das Objekt selbst, welcher die konkrete Spielsituation ausblendet. Darüber hinaus ignoriert er auch, freilich eher aus Hilflosigkeit, welches Potential sich in der Zufälligkeit des einzelnen Spieldurchlaufs verbirgt. Die Grundfrage sollte sich deswegen weniger auf den gesamten Zusammenhang aller möglichen Text und Erfahrungsbestanteile beziehen, sondern gerade die Kontingenz und den fragmentarischen Charakter der Erzählung und des Geschehens viel stärker in den Fokus rücken.
Fasst man es konkreter, dann liefert Dear Esther einen narrativen Rahmen, innerhalb dessen eine Vielzahl potentieller Erzählungen möglich ist, aber nicht jede einzelne wird automatisch realisiert. Textverständnis entsteht nicht nur in der Gesamtbeschäftigung mit dem totalen Textvolumen, welches das Spiel theoretisch anbietet, sondern Interpretation findet bereits schon nach dem ersten Durchspielen statt. Dass diese Zugriffe auf den Text deswegen höchst unterschiedlich sein können, liegt auf der Hand. Spielen wir noch dasselbe Spiel? Zwei oder mehr verschiedene Spieler Dear Esthers gewinnen eine nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv andere Sicht auf den Spielinhalt, je nach der Varianz innerhalb der ihnen dargebotenen Erzählung. So ist es beispielsweise möglich in einem Durchlauf des Spiels einen Großteil der Geschichte um Esthers Unfall erzählt zu bekommen, in einem anderen fokussiert sich die Geschichte auf Donnelly und den Schäfer Jakobson.
Fassen wir diese Varianz als wie auch immer intendiertes Spielelement auf, werden an dieser Stelle neue Fragestellungen möglich. Wie untersuchen wir diese Form von Kontingenz innerhalb des Spiels? Gibt es einen Ansatz zur produktiven Untersuchung unterschiedlicher Spielvarianten, jenseits des Zusammenfassens aller potentieller Möglichkeiten? Muss also der Spieler erst alle Varianten des Spiels kennen, was teilweise das dutzendfache Durchspielen eines einzelnen Spiels erfordern würde, ehe er interpretatorisch tätig werden kann? Während auf der Ebene der Spielerhandlung bereits Konzepte zur Einordnung der Varianz innerhalb des unterschiedlichen Spielerlebnisses diskutiert werden, 6 ist die Problematik im Zusammenhang mit inhaltlichen und auch interpretatorischen Zugriffen eine deutlich schwierigere.
Veränderungen innerhalb der grundlegenden Spielhandlung, sowohl ausgehend vom Einfluss des Spielers als auch unabhängig von diesem, haben damit zur Folge, dass unterschiedliche Spieler auch grundlegend unterschiedliche Zugänge auf ein Spiel gewinnen. Synthetisierungsversuche oder Kanonisierungsbestrebungen waren bisher die häufigste Antwort aus Spielerkreisen auf derartige Phänomene, gehen aber im letzten Schritt an der eigentlichen Problematik vorbei.
Während das Problem also im Grunde genommen kein Neues ist, lässt es sich innerhalb von Dear Esther als herausragendes Phänomen beobachten. Dass verschiedene Spieler innerhalb desselben Spieles verschiedene Pfade verfolgen, verschiedene Dialogoptionen wählen und sogar unterschiedliche Enden der Geschichte präsentiert bekommen, ist bereits gewöhnlich geworden. Dass hingegen diese Varianzen innerhalb des Spieles auch so starken Einfluss auf die Interpretation des Spiels nehmen, ist in diesem Ausmaß bisher beispiellos. Der Rückschluss, den wir über diesen Exkurs ziehen können macht die Beobachtung hiermit vielleicht fruchtbar: Es gilt, nicht allein bei Dear Esther, sondern auch in anderen Spielen ein deutlicheres Augenmerk auf Elemente des Unterschiedes zu werfen. Wo auch immer sich Spiel durch Spielerhandlung oder einfach nur durch intendierte Kontingenz objektiv anders präsentiert, geraten wir mit klassischen Zugriffen in Schwierigkeiten.
Der gemeinsame Unterschied
Welche Konsequenz lässt sich aus dieser Beobachtung ziehen? Festzustellen, dass sich Spiele unterschiedlichen Spielern jeweils unterschiedlich präsentieren, heißt nicht, dass sich diese Spiele nicht außerhalb der inviduellen Spielerfahrung untersuchen lassen. Eine derartige Festlegung wäre nicht nur für die Games Studies über alle Maßen unfruchtbar und unbefriedigend, sie ist auch weitestgehend falsch. Immerhin gelingt es einzelnen Spielern, sich über dasselbe Spiel trotz (oder gerade wegen?) ihrer individuellen Erfahrung auszutauschen. 7
Dennoch zeigen Beispiele wie gerade Dear Esther, in welchem Ausmaß sich individuelle Spielerfahrung und damit der Zugriff auf einen Textschlüssel und die Interpretation des Gesamtspiels so eindeutig voneinander unterscheiden können, dass eine Untersuchung diese Varianzmöglichkeiten nicht einfach ausblenden kann. Für die Betrachtung des gesamten Spiels ist es wichtig, im Auge zu behalten, welche Voraussetzungen sich aus der spezifischen Medialität von Computerspielen ergeben. Was leistet das Computerspiel, was kein anderes Medium außer ihm leistet oder leisten kann? Es gilt deswegen gerade innerhalb einer wissenschaftlichen Computerspielphilologie produktive Ansätze zur Untersuchung der gesamten Potentialität eines Computerspiels zu finden, die dabei nicht außer Acht lassen, dass die konkrete Spielerfahrung für den einzelnen Spieler eine vollständig andere sein muss.
Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien
Spiele
The Chinese Room. Dear Esther (Microsoft Windows). The Chinese Room/ Curve Digital 2012.
Texte
Davies, Marsh: Dear Esther Review. 14.02.2012. <http://www.eurogamer.net/articles/2012-02-14-dear-esther-review> [30.12.2012].
Dear Esther Wikia. Dear Esther Script. <http://dearesther.wikia.com/wiki/Dear_Esther_Script> [30.12.2912].
Günzel, Stephan: Raum, Karte und Weg im Computerspiel. In: Jan Distelmeyer et al . (Hg.): Game over?! Perspektiven des Computerspiels. Bielefeld; transcript 2008.
McGee, Maxwell: Dear Esther Review. 13.02.2012. <https://web.archive.org/web/20121025013707/http://www.gamespot.com/dear-esther/reviews/dear-esther-review-6349936> [12.10.2016].
Neitzel, Britta: Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen. Weimar; Univ. Diss. 2000.
- http://www.eurogamer.net/articles/2012-02-14-dear-esther-review[↩]
- ebd.[↩]
- https://web.archive.org/web/20121025013707/http://www.gamespot.com/dear-esther/reviews/dear-esther-review-6349936[↩]
- Britta Neitzel behauptet ähnliches für alle Formen von Spiel. Während diese Perspektive durchaus produktiv genutzt werden kann, soll der Fokus speziell auf Dear Esther stark gemacht werden, da diese Perspektive gerade hier so massiv zu offensichtlichen Unterscheidungen führt. Vgl. Britta Neitzel: Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen. 2000.[↩]
- siehe auch das Dear Esther script auf http://dearesther.wikia.com/wiki/Dear_Esther_Script [↩]
- siehe Stephan Günzels von Kurt Lewin abgeleitetes Konzept des Hodologischen Raumes. Vgl. Stephan Günzel: Raum, Karte und Weg im Computerspiel. In: Jan Distelmeyer et al . (Hg.): Game over?! Perspektiven des Computerspiels. 2008. [↩]
- Hier sei nur kurz auf die Lage in der Literaturwissenschaft verwiesen, in der man sich, um das Problem der individuellen Leseerfahung zu umschiffen, zum Beispiel um das Konzept des "idealen Lesers" bemüht, der einen Text in vollem Umfang verstehen kann, während dies der "reale Leser" nicht kann. Dieses Konstrukt löst natürlich dennoch nicht das Problem, dass kein Interpret ein idealer Leser sein kann. Vielmehr lässt sich daran ablesen, dass die Fokussion auf den einzelnen Leser jegliche verallgemeinernde Interpretation gefährden würde.[↩]