Dienst ist Schnaps, und Spiel ist Dienst – UrgenTedium und ludische Subjektivierung im Kontext von globaler Arbeit, Computerspielen und postmoderner Erschöpfung
Schichtbeginn
Die Verbindungen zwischen dem Komplex der Langeweile und dem des Spielens – seien sie semantisch, konzeptionell, philosophisch oder anderweitig geartet – sind, das mag diesem Aufsatz als Ausgangspunkt dienen, mannigfaltig und geradezu schizoid in ihrer widersprüchlichen Notwendigkeit. Spiele und das Spielen stehen mit Langeweile in erster Linie in einem therapeutischen Zusammenhang: das Spielen vertreibt die Langeweile, beugt ihr vor oder begegnet ihr zumindest auf eine antagonistische Weise. Mithin lässt sich sagen, dass die Abwesenheit deutlich spürbarer Langeweile ein sine qua non eines ,guten‘, ,gelungenen‘ Spieles bzw. einer als positiv empfundenen Spielerfahrung ist. Ein langweiliges Spiel – auch und insbesondere ein langweiliges Computerspiel – ist für den Großteil der Spielenden schlicht ein schlechtes Spiel. In diesem Kontext ist Langeweile ganz deutlich als ludische (und, wenn man möchte, narrative) Dysfunktion identifizierbar, die keinerlei wünschenswerten bzw. produktiven Effekt erzielt. Wie auch Dienst und Schnaps im Titel dieses Aufsatzes, sind Langeweile und Spiel für das intuitive Verständnis streng voneinander zu trennen.
Diese strukturelle Sonderstellung, dieses negative sine qua non, zu der die Langeweile im Kontext des Spielens avanciert, 1 verleiht ihr dementsprechend im Rezeptionskontext notwendigerweise ein ästhetisches Moment – aus dem einfachen Grund, dass es sich beim Spielen um die interaktive Rezeption eines gleichzeitig sozial rezipierten Unterhaltungsmediums handelt. Die ludische bzw. narrative Dysfunktion entwickelt sich auf übergeordneter Ebene in eine ästhetische Dysfunktion, oder anders formuliert: Spiele, denen ich schlechte Konstruktion unterstelle, gefallen mir nicht, weil sie mich langweilen.
So überrascht es auch nicht, dass die Spieleindustrie sowie die Spielenden längst damit begonnen haben, sich produktiv und kreativ mit der Problematik der Langeweile, die untrennbar mit ihrem Thema verbunden ist, auseinanderzusetzen. Im Laufe des vergangenen Jahrzehntes erblickten eine Reihe erfolgreicher und beliebter Spiele das Licht der digitalen Welt, die guten Gewissens als langweilig bezeichnet werden können und deren spezifische Vermittlung der Langeweile bzw. des Langweiligen nicht die Form der Dysfunktion, sondern vielmehr der produktiven ästhetischen und interaktiven Funktion annimmt. Mit diesen Spielen und dieser ästhetischen Funktion möchte dieser Aufsatz sich analytisch auseinandersetzen.
Im Folgenden möchte ich eine übersichtliche Auswahl an Beispielen präsentieren, bei denen Langeweile eine ästhetische Funktion erfüllt und deren Betrachtung es mir erlaubt, im Weiteren eine Untersuchung der Langeweile als ästhetischer Funktion vorzunehmen. Dies soll auf Grundlage allgemeiner ästhetischer Theorie und Phänomenologie geschehen, da es sich bei der Langeweile schlechterdings nach wie vor um ein recht nebulöses Konzept handelt. Auf Basis dieser ästhetischen Vorüberlegungen möchte ich die Perspektive der game studies auf das Phänomen der Langeweile nachvollziehen, um diese als Aspekt einer interaktiven Subjektivierungsprozedur zu etablieren, die untrennbar mit den Konzepten des Spielens und des Arbeitens verbunden ist. Auf Basis dieses Subjektivierungskonzeptes und der ihm zugrundeliegenden Interaktivität soll schließlich der Themenkomplex ästhetischer Langeweile im Computerspiel ausblickend historisiert, kontextualisiert und mit (post-)postmodernistischer Ethik in Verbindung gebracht werden. So eröffnet sich auf phänomenologischem Weg der Zugang zu einem neuen Aspekt des Spielens, in dem sich Spiel und Arbeit, Langeweile und Immersion, Unentscheidbarkeit und Entscheidungszwang produktiv miteinander verbinden und somit auch neue medien- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen aufwerfen. Ich schlage im Folgenden zur Beschreibung dieses Komplexes das neologistische portmanteau ,UrgenTedium‘ vor – denn dieser Begriff wird es mir erlauben, die Vielschichtigkeit meines Untersuchungsgegenstandes zu demonstrieren, ohne dabei dessen grundlegende ästhetische Eigenschaften (mithin einer Art dringlicher Langeweile) aus den Augen zu verlieren.
Die Belegschaft
Ich möchte im Folgenden eine Reihe von Spielen besprechen, die meines Erachtens mehr als geeignet dafür sind, Langeweile als ästhetische Funktion im Computerspielkontext zu verorten und zu diskutieren. Bei den von mir untersuchten Spielen handelt es sich um Cart Life (2011), Papers, Please (2013), Depression Quest (2013) sowie This War of Mine (2014). Diese Auswahl ist nicht auf Vollständigkeit ausgerichtet, vielmehr soll sie zur Erweiterung und Vervollständigung einladen.
Beispiel Nummer 1 ist das 2011 erschienene Cart Life, entwickelt von Richard Hofmeier. Es lässt sich mangels einer besseren Genrekonvention als Kiosk-Simulator bezeichnen, in dem man eine von drei Figuren auf ihrem alltäglichen Weg durch den Einzelhandel und das sozioökonomische Existenzminimum begleitet. So besitzt der Immigrant Andrus Poder nichts außer einem Feuerzeug, einer Schachtel Zigaretten und seinem Kater Mr. Glembovski, als er im amerikanischen Georgetown seinen Zeitungskiosk in Betrieb nimmt. Sein Ziel – und damit das Ziel des Spieles – ist nicht mehr und nicht weniger, als nach Ablauf einer Woche noch ein Dach über dem Kopf zu haben. Zu diesem Zweck haushaltet man mit den geringen Einnahmen, erneuert seinen Vertrag mit dem Zeitungsverlag, kauft Nahrung für sich selbst und Mr. Glembovski – und fürchtet täglich, dass letztendlich nicht genug für die Miete übrig bleiben könnte.
Beispiel Nummer 2 ist das 2013 erschienene Papers, Please, entwickelt von Lucas Pope. In diesem selbstbetitelten ‚dystopischen Personalienthriller‘ schlüpft man beim Spielen in die Haut eines Grenzbeamten, der an der Grenzstation eines fiktionalen Sowjetstaates seinen Dienst verrichtet. Man verlangt Ausweise und Visa zu sehen, prüft Einreiseformulare, stempelt Pässe und weist letztendlich Einreisewillige ab oder gewährt ihnen Zutritt ins Land, gemäß sich entwickelnder Einreisebestimmungen, auf die man ebenso wenig Einfluss hat wie auf das Schicksal der Menschen, die man wie am Fließband abfertigt. Das Ziel dieser immergleichen Mühe ist so einfach wie düster: seine Arbeit korrekt zu erledigen. Denn nur wenn man möglichst wenige Fehler als Grenzbeamter macht, hat man am Ende der Schicht genug Geld verdient, um Ehefrau, Kinder und Eltern mit Nahrung, Obdach und Medizin zu versorgen. Soviel jedenfalls zur Theorie – in der Spielpraxis erweist es sich als nahezu unmöglich, kontinuierlich Lebensstandard und Leben der Familie zu gewährleisten.
Beispiel Nummer 3 ist Depression Quest aus dem Jahr 2013, entwickelt von Zoë Quinn. In diesem Spiel gilt es, eine an schwerer klinischer Depression leidende Figur durch das alltägliche Leben zu steuern, inklusive Erwerbsarbeit, sozialen Aktivitäten und amourösen Unternehmungen. Das Spiel konfrontiert die Spielenden dabei in einer gegebenen Situation mit einer gewissen Anzahl von Wahlmöglichkeiten, wobei die getroffene Wahl jeweils das weitere Vorgehen determiniert und im Endeffekt eines von fünf verschiedenen Spielresultaten zur Folge hat. Abhängig vom psychopathologischen und emotionalen Zustand der Spielfigur – der abhängig davon ist, ob sie sich zu einem gegebenen Zeitpunkt in Therapie befindet, Medikamente einnimmt, etc. – reduzieren sich die Wahlmöglichkeiten der Spielenden. Die Folge dessen ist fatal: je depressiver die Figur, desto geringer die Handlungsmöglichkeiten; je geringer die Handlungsmöglichkeiten, desto wahrscheinlicher wird ein Erstarken der Depression.
Beispiel Nummer 4 schließlich ist das im Jahr 2014 erschienene This War of Mine, entwickelt von 11 bit studios. Dieses Spiel versetzt die Spielenden in den Kontext eines Bürgerkrieges im fiktionalen Balkanstaat Graznavia. Hier kontrolliert man eine Gruppe Zivilisten, die in der zertrümmerten Stadt Pogoren ein prekäres und riskantes Dasein führen und von Tag zu Tag zu überleben versuchen. Es gilt, mit Ressourcen (Nahrung, Werkzeug, Waffen, Medizin) zu haushalten, Expeditionen in umkämpfte Stadtgebiete zu unternehmen, Auseinandersetzungen mit anderen Überlebenden zu meistern sowie kontinuierlich verschiedene Übel gegeneinander abzuwiegen, die diese prekäre Situation beinahe ausschließlich definieren.
Die Langeweile, von der ich eingangs gesprochen habe, präsentiert sich in diesen Spielen in erster Linie in Form der alltäglichen Charakteristiken der Protagonistinnen und Protagonisten. Der namenlose Grenzbeamte in Papers, Please, die drei ökonomischer Prekarität ausgesetzten Figuren in Cart Life, die depressive Person in Depression Quest, die Gruppe Zivilisten in This War of Mine – sie alle sind weder aufgrund ihres Charakters noch ihrer Entscheidungen bzw. Ziele in irgendeiner klassischen Form heroisch oder mit irgendwelchen übermenschlichen Fähigkeiten oder Ressourcen ausgestattet. Es handelt sich um dezidiert ,normale‘ Menschen, die sich in ihrem gegebenen Kontext ,normal‘ verhalten müssen. Das heißt, sie müssen unter Aufrechterhaltung ihrer existentiellen Grundbedürfnisse den status quo perpetuieren, in dem sie ursprünglich eingeführt wurden. Der Grenzbeamte muss mit seiner Arbeit seine Familie am Leben erhalten, die drei Hauptfiguren in Cart Life müssen sich selbst eine Woche lang in Obdach halten, genug Geld verdienen, um das Sorgerecht für die Tochter zu erhalten bzw. eine einigermaßen stabile sozioökonomische Existenz etablieren. Auch in This War of Mine gilt es trotz der abnormalen Situation des Bürgerkrieges im Endeffekt, Tag für Tag den Alltag zu navigieren, und dasselbe gilt für Depression Quest.
Hier wird auch eine weitere Gemeinsamkeit der Spiele offenbar: Diese profanen, prosaischen Kontexte erscheinen in enger Konjunktion mit deutlicher ökonomischer bzw. sozialer Dringlichkeit. Die Aufgaben, die die Spielenden in diesen Kontexten zu erfüllen haben, sind beinahe ausschließlich darauf ausgerichtet, ein gewisses Existenzminimum zu erhalten. Die Qualität dessen ist eine Frage der individuellen Interpretation, vom Kampf um das Überleben in This War of Mine bis zu seelischer Gesundheit in Depression Quest. Diese sozioökonomische Dringlichkeit, die Aufgabe, die schiere Existenz der Spielfiguren aufrecht zu erhalten, geht hierbei mit dem Thema der ethischen Ambiguität bzw. logischer double binds einher. So muss der Grenzbeamte beispielsweise die Entscheidung treffen, entweder eine Zwangsprostituierte ins Land zu lassen, die sich im Besitz adäquater Papiere besitzt, und infolgedessen in Kauf nehmen, dass sie wenige Tage später im Zuge ihrer Zwangsbeschäftigung umgebracht wird – oder aber dem Wunsch der Prostituierten Folge zu leisten, sie an der Grenze abzuweisen; letztere Entscheidung jedoch stellt aufgrund der korrekten Papiere eine Dienstvernachlässigung dar und hat zur Folge, dass er weniger Geld verdient und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass seine Familie darben muss. This War of Mine verlangt von den Spielenden unter anderem, Kranke oder Verhungernde zu vernachlässigen und sterben zu lassen, um die Ressourcen für den Rest der Zivilisten nicht zu gefährden, oder eine andere Gruppe von Zivilisten ihrer Ressourcen zu berauben. Ähnliche Szenarien präsentieren sich auch in den anderen Spielen, und vielen weiteren mehr, mit einer Deutlichkeit und Häufigkeit, die sowohl ethische Ambiguität als auch existentielle Prekarität in den Vordergrund stellen.
Die Art und Weise, wie die Spielenden diese Prekarität und Ambiguität navigieren müssen, führt wiederum zurück in den Komplex der Langeweile, die hier nicht mehr lediglich thematisch gegeben ist, sondern auf der Praxisseite ludische und zugleich auf beiden Seiten der Diegese performative Züge annimmt. In Cart Life muss beispielsweise der Kioskbetreiber Andrus Poder zu Beginn jeden Tages die Tageszeitung auslegen. Dies unternehmen die Spielenden durch das beständig wiederholte Eingeben von Textbefehlen, wie: „Cut the banding; fold the papers; stock the bins.“ Viele dutzend Male wiederholt wird diese Mechanik zur performativen Verkörperung von Langeweile und Repetition schlechthin – erst recht vor dem Hintergrund des Umstandes, dass das tatsächliche Verkaufen der Zeitungen ebenfalls in demselben nur geringfügig variierten Verkaufsgespräch und Wechselgeldauszählen resultiert, das sich unzählige Male im Laufe eines Tages ergibt. Falls erfolgreich, gewinnen die Spielenden lediglich das Recht, am nächsten Tag von vorne zu beginnen in der dringlichen Hoffnung, dass am Ende der Woche genug Zeitungen verkauft sind. Die Spielmechanik all dieser Beispiele und vieler weiterer ist gleichzeitig konzeptionell minimalistisch und technisch anstrengend sowie repetitiv. Arbeit, Überleben und soziale Prekarität, so suggerieren die Spiele, sind anstrengend, entnervend und gleichzeitig derart langweilig, repetitiv und anspruchslos, dass sie von ihrer eigenen nervenaufreibenden und erschöpfenden Qualität nicht abzulenken in der Lage sind.
Eine vorerst letzte Gemeinsamkeit der vorgestellten Spiele ist, dass sie alle (und viele weitere ihrer Art) in Independent-Kontexten produziert wurden, 2 was sich auch in einem gewissen technischen und graphischen Minimalismus sowie relativ geringem Kaufpreis zeigt. Alle Beispiele wurden von jeweils einer Person produziert, nur bei den Machern von This War of Mine, 11 bit studios, handelt es sich um eine kleine Gruppe ehemaliger Entwickler der Firma CD Projekt. Depression Quest wird unter einem freiwilligen pay-what-you-want-Konzept vertrieben, und Cart Life war ursprünglich teilweise und ist mittlerweile komplett als freeware erhältlich.
Hierbei können weder technischer Minimalismus noch Langeweile noch Independent-Kontext davon ablenken, dass diese Spiele großen Erfolg und hohe Beliebtheit genießen. Dies zeigt sich nicht nur in den Verkaufszahlen und dem Feedback der Spielenden, sondern auch der Beliebtheit dieser Spiele in Let’s Play- bzw. vidding-Kontexten. Nicht zuletzt zeigt es sich auch in ihrem kritischen Erfolg: Cart Life gewann 2013 drei der Preise des Independent Games Festival, im Jahr darauf gewann Papers, Please zwei dieser Preise, war für den dritten nominiert und gewann zahlreiche weitere Auszeichnungen – darüber hinaus verkaufte es sich über 500.000 mal zum vollen Preis, 3 This War of Mine verkaufte sich gut genug, um innerhalb von zwei Tagen Profit zu generieren, 4 und Depression Quest erlangte nach überwältigendem kritischen Erfolg Berühmtheit durch die von ihm angestoßene ,GamerGate‘-Diskussion um die Rolle und Behandlung von Frauen in der Computerspielindustrie.
Minimalistische Produktion und überdurchschnittliche Beliebtheit dieser Spiele stehen zueinander in einem äußerst asymmetrischen Verhältnis. Beachtet man gleichzeitig den gemeinsamen Fokus dieser Spiele auf figurale und thematische Langeweile 5, technische Eintönigkeit und spielmechanische Repetition sowie die Betonung existentieller Prekarität und Dringlichkeit, so drängt sich der Verdacht auf, dass es sich hier um mehr handelt als eine zufällige Unregelmäßigkeit oder einen kurzlebigen Hype. Hinzu kommt, dass der Erfolg der besprochenen Spiele in krassem Widerspruch zu der intuitiven Eingangshypothese dieses Aufsatzes steht, dass Langeweile in Spielen schlechte Spiele mache. Bedenkt man weiterhin den Umstand, dass diese vier Beispiele lediglich eine erheblich größere Menge ähnlicher Spiele repräsentieren, 6 so drängt sich wiederum die Notwendigkeit auf, dieses Phänomen zumindest vorläufig als distinkt und signifikant zu betrachten und in seiner Ästhetik sowie seiner Faktur zu untersuchen, um dieser Signifikanz auf den Grund zu gehen.
Dementsprechend schlage ich als ersten Schritt die Nomenklatur des Phänomens vor, und entscheide mich tentativ für den Begriff ,UrgenTedium‘, ein Portmanteau der englischen Wörter urgency (,Dringlichkeit‘) und tedium (,Langeweile‘). Meines Erachtens bietet dieser Neologismus genug Raum, um das von mir betrachtete Phänomen semantisch nicht zu beschränken, aber gleichzeitig den Fokus auf die Konjunktion von Eintönigkeit und existentieller Notwendigkeit hinreichend zu betonen. 7
In den folgenden zwei Abschnitten möchte ich das Konzept von UrgenTedium und, allgemeiner, Langeweile als ästhetischer Funktion, vor dem Hintergrund der vorgestellten Beispiele nun ästhetisch und ludologisch näher untersuchen.
Frühschicht: Phänomenologie des Langweiligen
Fragen nach Langeweile im Spiel machen es notwendig, sich zuvorderst mit der Frage zu beschäftigen, was Langeweile eigentlich ist. Hierbei präsentiert sich das erste Problem bereits in dem Dilemma, dass die Beschäftigung mit der Langeweile selbst langweilig ist, wie auch David Foster Wallace in seinem Roman The Pale King bemerkt 8 – einem Roman über Langeweile und selbst jüngeren Erscheinungsdatums. Wenn dies der Fall ist, stellt die Langeweile ein nicht zu unterschätzendes metaphysisches Problem dar – eine Befürchtung, die sich bestätigt, wenn man Martin Heideggers Bemerkungen zur Langeweile betrachtet.
Dieser nämlich findet die Langeweile bei der phänomenologischen Suche nach dem Nichts, und beschreibt sie als „die Verneinung der Allheit des Seienden, das schlechthin Nicht-Seiende“. 9 Denn die Suche nach dem Nichts, so Heidegger, führt eben aufgrund dieser totalnegierenden Struktur gleichzeitig zur „Grunderfahrung des Nichts in seiner Rechtmäßigkeit“ 10 und zum „Erfassen des Ganzen des Seienden an sich“. 11 Diese Gleichzeitigkeit der Allheit des Seienden und des totalen Nichts ist für Heidegger am deutlichsten „in der eigentlichen Langeweile“ 12 beheimatet und zu spüren:
[Die eigentliche Langeweile] bricht auf, wenn ‚es einem langweilig ist‘. Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichzeitigkeit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen. 13
In dieser existenziellen Fokusposition ist Langeweile zugleich Sein und Nichts und entzieht sich rationaler Betrachtung. Doch zusätzlich und darüber hinaus – und das ist uns allen sehr bekannt – meiden wir die Langeweile, als wäre sie eine Gefahr. Es ist, so Heidegger weiter, gerade dieses „Gestimmtsein, in dem [man] vor das Nichts selbst gebracht wird“, 14 das in uns tiefste Angst weckt – nicht einfach die Furcht vor etwas Spezifischem, sondern grundlegende, existenzielle Angst, die nach Heidegger für uns der Impuls ist, die Langeweile zu meiden wie den Tod:
>Die Angst verschlägt uns das Wort. Weil das Seiende im Ganzen entgleitet und so gerade das Nichts andrängt, schweigt im Angesicht seiner jedes ‚Ist‘-Sagen. Daß wir in der Unheimlichkeit der Angst oft die leere Stille gerade durch ein wahlloses Reden zu brechen suchen, ist nur der Beweis für die Gegenwart des Nichts. 15
Und David Foster Wallace findet ähnliche Worte für das düstere Mysterium der Langeweile in The Pale King:
To me, [...] the really interesting question is why dullness proves to be such a powerful impediment to attention. Why we recoil from the dull. Maybe it’s because dullness is intrinsically painful; maybe that’s where phrases like ‚deadly dull‘ or ‚excrutiatingly dull‘ come from. But there might be more to it. Maybe dullness is associated with psychic pain because something that’s dull or opaque fails to provide enough stimulation to distract people from some other, deeper type of pain that is always there, if only in an ambient low-level way, and which most of us spend nearly all our time and energy trying to distract ourselves from feeling, or at least from feeling directly or with our full attention. 16
Damit haben wir mithin die grundsätzliche ästhetische und phänomenologische Erfahrung des Langweiligen abgesteckt, und intuitiv decken sich diese Erkenntnisse mit unserem Eindruck des Verhältnisses von Langeweile und Spielen. Die Langeweile ist eine dezidiert negative, ja bedrohliche Erfahrung, die es zu meiden gilt und die dementsprechend dysfunktional in Hinsicht auf angenehme/produktive Spielerfahrungen ist. Wir wissen aber auch, dass diese Dysfunktionalität auf das, was ich als UrgenTedium bezeichnet habe und sich in einer großen Zahl aktueller Spielerfolge präsentiert, nicht zutrifft. Ich suche dementsprechend nun nach einem theoretischen Konzept, das gleichzeitig die Erfahrung von Langeweile und die Erfüllung ästhetischer Grundvoraussetzungen bedient – denn diese Grundvoraussetzungen sind angesichts des Erfolges meiner Beispiele zweifellos gegeben. Das Problem hierbei ist, dass die Langeweile keine ästhetische Kategorie ist, sondern bestenfalls ein Epiphänomen anderer ästhetischer Dynamiken (oder, vielleicht besser gesagt, von deren Abwesenheit). Es gibt allerdings einen ästhetischen Grundbegriff, der im Kontext der Langeweile besonders relevant ist, nämlich den der Intensität, die im Sinne ästhetischer Theorie sekundären ästhetischen Faktoren entgegensteht. Theodor Adorno fasst die Erfahrung von Intensität im Zusammenhang mit Kunstwerken wie folgt zusammen:
Intensität ist die durch Einheit bewerkstelligte Mimesis, vom Vielen an die Totalität zediert, obwohl diese nicht derart unmittelbar gegenwärtig ist, daß sie als intensive Größe wahrgenommen werden könnte; die in ihr gestaute Kraft wird von ihr gleichsam ans Detail zurückerstattet. Daß in manchen seiner Momente das Kunstwerk sich intensiviert, schürzt, entlädt, wirkt in erheblichem Maß als sein eigener Zweck; die großen Einheiten von Komposition und Konstruktion scheinen nur um solcher Intensität willen zu existieren. 17
Insbesondere verweist Adorno auf die Grundunterscheidung von Intensivem und Sekundärem, die seines Erachtens traditionell Kunstwerke strukturiert. 18 Alles dysfunktional Langweilige an einem Kunstwerk fällt in den Bereich des Sekundären – zumindest traditionell-intuitiv, in all denen Rezeptionskontexten, in denen das Langweilige als Indikator geringer Qualität verstanden wird. In den von mir besprochenen Spielen ist dies allerdings nicht der Fall – stattdessen wird das Langweilige, ohne dass es seiner Funktion phänomenologischer Verunsicherung beraubt würde, in den entsprechenden Spielen mit einer bisher ungekannten Intensität vermittelt. So betrachtet handelt es sich um eine Situation, in der etwas Langweiliges nichtsdestoweniger ästhetische Wirkung entfaltet, um eine ästhetische Einheit von Intensität und Sekundärem.
Diese Vermischung von Intensität und Sekundärem wiederum ist äquivalent mit der Vermischung von genuiner Empfindung und Phantasma, wie Edmund Husserl diese Konzepte beschreibt:
Der Hauptsache nach sind es [die Unterschiede zwischen Empfindungen und Phantasmen] Intensitätsunterschiede: Die Phantasmen sind sinnliche Inhalte von ausserordentlich niedriger Intensität im Vergleich mit den normalen Empfindungen. 19
Husserl stellt allerdings in Sonderfällen wie der Erinnerung oder der Immersion in ein Kunstwerk (wobei letzteres Phänomen für mich besonders relevant ist) eine Verbindung der beiden Formen fest, die an den oben erwähnten Gedanken der Einheit von Intensivem und Sekundärem erinnert:
Denke ich mir, was dagegen spricht, weg, modifiziert, so dass es nicht mehr dagegen spricht, so phantasiere ich um und bilde eine fiktive Annahme, und dann würde ich glauben.
Insofern ist also das Als-ob wie jedes Erinnerungs-Als-ob nah verwandt mit dem der Phantasie (blosser Phantasie) und andererseits doch verschieden. Es ist nicht „blosse“, reine Phantasie, aber eventuell doch eine Art Umfiktion dabei, wenn ich, was ich jederzeit kann, jene „Abstraktion“ vollziehe. 20
Weitergedacht auf die Situation fiktionaler Immersion formuliert Husserl dementsprechend weiter:
Ebenso in einer Erzählung, einer Novelle und dergleichen. Ich kann über die Erzählung insofern hinausgehen, als ich mich weiter vertiefe, mir das Erzählte als solches, die Landschaft, die Personen usw. näher bringe. 21
Die Verbindung von ästhetischer Intensität mit alltäglicher automatisierter Wahrnehmung führt also zu etwas, das in Husserls Diktion als intensives Phantasma bezeichnet werden könnte – mithin einer ästhetischen Situation in einem Rezeptionskontext, in dem die diesem Kontext ohnehin schon eigene ‚Umfiktion‘ bzw. ‚Abstraktion‘ seine eigenen ästhetischen Grundstrukturen (hier die Sonderstellung und phänomenlogische Funktion des Langweiligen) intensiv sichtbar, spürbar, spielbar und verhandelbar macht.
Der Begriff des Phantasmas soll an dieser Stelle nicht davon ablenken, dass es sich bei Cart Life und Papers, Please um echte, real wahrnehmbare Langeweile handelt. Das jeweils Ganze in Form der Summe aller verkauften Zeitungen, abgefertigten Einreisenden und aller immergleichen, monotonen spielinternen Tage vermengt sich zu einer qualvollen, kaum erträglichen Erfahrung, in der das Besondere aufscheint, als ein Element, das über die Summe dieser Teile hinausgeht – der Mehrwert der Langeweile speist sich aus diesem Kontinuum selbst und hält die Spielenden im Spiel, ohne sie unterhalten zu müssen. So füllt Papers, Please, nicht unähnlich dem Konzept industrieller Arbeitseffizienz, nahezu jeden Moment der Spielaktivität mit distinkten – und distinkt monotonen – Arbeitsschritten: die Revision täglicher Memos, das Inspizieren der Ausweisdokumente, die Anordnung diverser Prüfungen, das Stempeln der Pässe und schließlich die Verteilung der knappen Ressourcen entsprechend der Bedürfnisse der Familie. Minimale Variation der täglichen Prozesse wirkt einer Dysfunktionalität der Monotonie entgegen und produziert Herausforderungsmomente – aber die Wirkung des Spieles ergibt sich weder aus der Monotonie selbst, noch lediglich aus ihrer minimalen Variation oder dem stetigen Verweis auf die tumbe existentielle Not und Wiederholung der Situation an sich. Es ist das aus all diesen Faktoren resultierende Kontinuum, aus dem sich die ‚Besonderheit‘, der Mehrwert der Spielerfahrung speist.
Dies ist ein Effekt, der sich auch in Wallaces Pale King zeigt, als in einem grandios monotonen Kapitel eine Szene aus dem Arbeitsalltag des amerikanischen Finanzamtes gezeigt wird:
Ed Shackleford turns a page. Elpidia Carter turns a page. Ken Wax attaches a Memo 20 to a file. Anand Singh turns a page. Jay Landauer and Ann Williams turn a page almost precisely in sync although they are in different rows and cannot see each other. Boris Kratz bobs with a slight Hassidic motion as he crosschecks a page with a column of figures. Ken Wax turns a page. Harriet Candelaria turns a page. Matt Redgate turns a page. 22
Das Kapitel hält diese Form für drei Seiten. Und die grausame Monotonie dieser Szene führt zu der Empfindung, dass zwischen dem eintönigen Umblättern von Seiten Momente von Intensität durchscheinen, die dem Nichts dieser Erzähleinheit einen scheinbaren Sinn, irgendeine Verbindung zur Allheit des Seins geben.
Spätschicht: Das spielende und schuftende Subjekt
In der Spielerfahrung wiederholt sich diese ästhetisch-phänomenologisch kartographierte, schizoid anmutende Thematik der Langeweile in Form intensiver phantasmatischer Rezeption auf verschiedenen Ebenen. Bereits erwähnt wurde der Zusammenhang zwischen repetitiven Spielmechaniken, alltäglichen Settings und Figuren sowie existentieller sozioökonomischer Not bzw. Dringlichkeit. Insbesondere aber stellt sich dieser ästhetische Komplex in Verbindung mit dem Thema der Arbeit, spezifisch der Lohnarbeit im kapitalistischen Kontext, dar.
Im spezifisch ästhetischen Kontext des UrgenTedium der von mir besprochenen Spiele bringt der thematische Fokus auf Lohnarbeit, triviale Erwerbsbeschäftigung, repetitive Tätigkeiten und alltägliche Lebenserhaltung in allen möglichen Kontexten einen ästhetischen Fokus mit sich und wirft die weitere Frage auf, wieso es viabel und beliebt zu sein scheint, diese Langeweile des Arbeitens ausgerechnet im Medium des Computerspiels zu verhandeln und zu transportieren. Bereits im Jahr 1970 legt Clark C. Abt in seiner Abhandlung Serious Games nahe, dass technologisch weit entwickelte Gesellschaften sich notwendigerweise komplexer Abstraktionen bedienen, um zu funktionieren, 23 was auch zur Folge hat, dass in entsprechenden Gesellschaften sozioökonomische Prozesse in abstrahierter Form auch als Spiele präsent sind. So sei der Titel der Abhandlung selbst, Serious Games, gewissermaßen ein produktives Oxymoron. 24 In Hinsicht auf einen kapitalistischen Gesellschaftsentwurf wie dem, in dem meine Beispiele existieren, lassen sich durchaus strukturelle Analogien zwischen ökonomischer Organisation und sozialem Spiel ziehen – als Beispiel sei lediglich das Familien- oder Kaufladenspielen kleiner Kinder genannt. Das Spiel reflektiert die wirtschaftliche Gesellschaftsorientierung:
Games also include a no-nonsense operational ethic that allows no real excuse for losing. It has respect for „the money ball-player“ who delivers despite obstacles and knows there is no justification – in game terms – for not doing so. This is an ethic of personal responsibility, in which there are no real excuses except „bad luck,“ which is a viable excuse only once in a while. 25
Das Gleiche gilt auch für die Spiele, die mir als Beispiel dienen: denn Gewinnmöglichkeiten sind in ihrem Fall oft nur sehr nebulös definiert, falls überhaupt vorhanden. Die Spielenden treffen Entscheidungen zwischen oft gleichermaßen unbefriedigenden Optionen, das Gewinnen wird in erster Linie dadurch definiert, dass das Spiel kontinuierlich fortgeführt und nicht abgebrochen wird, bzw. dass die Spielvoraussetzungen (Andrus Poders Obdach, das Überleben der Familie des Grenzbeamten) weiterhin gegeben bleiben. Und wie in einem real gegebenen Kontext drehen sich die zu treffenden Entscheidungen und die daraus resultierenden Ereignisse weniger um ein konkretes Gewinnziel, sondern vielmehr um die Etablierung einer sozioökonomischen Identität bzw. Position. Das spielende Subjekt und das gesellschaftliche Subjekt sind nicht miteinander identisch, aber untrennbar miteinander verbunden, inklusive der intrinsischen Ambiguität der Entscheidungen: „The exciting uncertainty is that of identity rather than conflict outcome, Who am I? Rather than Who will win?“ 26
Betrachtet man Spielende als gleichzeitig spielende und sozioökonomische Subjekte, so fällt es leichter, die Zwiespältigkeit des Langweiligen im Spiel zu verstehen. Es ist gleichzeitig funktional und dysfunktional, da es auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig agiert. Diese Gleichzeitigkeit führt zu einer Ausdifferenzierung des Konzeptes der Langeweile an sich, bzw. einer Ausdifferenzierung der Konzepte von Immersion (die wir bereits bei Husserl und Adorno vorgefunden haben) und Engagement, wie Garry Crawford argumentiert: „Sometimes video gamers can be ‚engaged‘ with an activity, but not necessarily immersed in the game, such as when a video gamer has to repeat a task to complete a game goal.“ 27 Und auch Jane McGonigal stellt fest, dass die vermeintliche Totalopposition von Arbeit und Spiel genauer Untersuchung nicht standhält:
Games make us happy because they are hard work that we choose for ourselves, and it turns out that almost nothing makes us happier than good, hard work. We don’t normally think of games as hard work. After all, we play games, and we’ve been taught to think of play as the very opposite of work. But nothing could be further from the truth. In fact, as Brian Sutton-Smith, a leading psychologist of play, once said: „The opposite of play isn’t work. It’s depression.“ 28
Spiel, Langeweile, Dringlichkeit, Arbeit, existentielle Not, ja sogar Depression, so die Annahme, stehen nicht in ausschließenden Verhältnissen oder Dichotomien miteinander in Verbindung, sondern formen vielmehr polykontexturale Verbindungen. Aus dieser Perspektive betont und potenziert der thematisch-ästhetische Kontext der Langeweile und ihre intensive Performativität im Zusammenhang mit gespieltem UrgenTedium lediglich einen komplexen Zusammenhang, den die individuellen Erfahrungen von Arbeit, Langeweile und Spiel für sich genommen nur schwer vermitteln können. Die Erkenntnis hieraus wäre, dass all diese Erfahrungen Teil einer äußerst differenzierten sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Subjektivierungsprozedur sind, aus der Individuen resultieren – im Spiel und in der Gesellschaft, ja in beidem gleichzeitig. Eine soziale Realität redupliziert sich hierbei im Spiel, namentlich der Umstand, dass das Individuum zwar einerseits innerhalb des gegebenen Kontextes (Spiel oder Gesellschaft) agiert, aber gleichzeitig von diesem beeinflusst wird; dass also der Kontext selbst ebenfalls mit Blick auf das Individuum agiert. Diese Struktur ist weder der Gesellschaft noch dem Spielen ausschließlich eigen, aber wie Tom Bissell argumentiert, wird sie in der Erfahrung des Computerspielens erheblich deutlicher spürbar als beispielsweise im Falle von Büchern, Filmen oder Fernsehserien: „Playing video games is not quite like this. The surrender is always partial. You get control and are controlled. Games are patently aware of you and have a physical dimension unlike any other form of entertainment.“ 29
Dadurch wäre erklärt, wieso sich das Medium des Computerspiel(en)s ganz außerordentlich dafür eignet, Langeweile im Allgemeinen und das spezifische Phänomen des UrgenTedium im Besonderen zu verhandeln – bzw., es überhaupt erst zu produzieren. Das UrgenTedium des Spielens der erwähnten Beispiele resultiert in einem spielenden Subjekt, das sich der Dynamiken seiner eigenen Subjektivierung nicht nur nicht entziehen kann, sondern schlechterdings gezwungen ist, seine eigene Subjektivierung interaktiv zu reflektieren. Es wird dafür, im Gegensatz zur Situation stiller Kontemplation der conditio humana, belohnt: Denn trotz der phänomenologischen Tiefe, ästhetischen Komplexität und einem deutlichen ethischen Entscheidungskontext handelt es sich bei den vorgestellten Beispielen immer noch um Spiele – und die Spielenden werden zu ihrer selbst bewussten spielenden Subjekten. In diesem Sinne:
Ecce lusor!
Feierabend
So stellt sich abschließend die Frage, wohin diese ludologischen und ästhetischen Überlegungen zum aktuellen Stand des Langweiligen in Computerspielen führen sollen. Sicherlich wird es notwendig sein, in Hinsicht auf Kategorisierung und Taxonomie weitere theoretische Arbeit zu leisten. Was unterscheidet beispielsweise konkret das Langweilige des UrgenTedium vom Langweiligen des spielerisch Repetitiven, des trial and error, des Parodistischen bzw. Selbstironischen, ja nicht zuletzt des schlicht qualitativ Minderwertigen bzw. Unpopulärem? Was, in Hinsicht auf das Untersuchungsmaterial, unterscheidet UrgenTedium vom ennui der Kunst des fin de siècle, vom grinding in RPGs oder dem trial-and-error in Jump’N’Run- oder Platformer-Spielen? Intensive Analysen einzelner Spiele, historischer Entwicklungen und ganzer Korpora von Computerspielen in Hinsicht auf den ästhetischen Kontext des Langweiligen können hier einen Überblick schaffen und fallen in den Aufgabenbereich der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen. Des Weiteren wäre es von großem Vorteil, wenn aus kulturwissenschaftlichen, epistemologischen und anthropologischen Perspektiven der Zusammenhang von Langeweile und Spiel im Allgemeinen weiter seziert würde, vor allem im zeitgenössischen Kontext einer globalen kapitalistischen Weltordnung. Hierbei wäre es insbesondere von Vorteil, wenn auch die Fanforschung, die im deutschsprachigen Diskurs noch ein Mauerblümchendasein fristet, als Partizipientin bemüht würde – nicht zuletzt deshalb, weil der Erfolg der von mir besprochenen Beispiele verstärkt durch Aktivitäten diverser online-Fandoms herbeigeführt wurde und insbesondere die Praktiken von Let’s Play und vidding untrennbar mit zeitgenössischer Spielästhetik verbunden sind. 30
Von ganz besonderer Dringlichkeit allerdings scheint mir die Untersuchung des Umstandes zu sein, dass das von mir als UrgenTedium bezeichnete Phänomen zu einem kulturhistorischen Zeitpunkt und in einer sozioökonomischen Situation aufscheint, die sich mit einer außerordentlich komplexen und herausfordernden globalen Informations- und Migrationsstruktur konfrontiert sehen. Internationalisierung, Globalisierung und weltweite Krisen in den Bereichen Wirtschaft, Diplomatie, Kriegsführung, Ökologie und Biopolitik stehen in Verbindung mit digitaler Vernetzung und digitaler Medialität einerseits und den letzten, müden Zügen des postmodernistischen Paradigmas andererseits. 31 Freilich geht die Komplexität dieser Zusammenhänge weit über den begrenzten Kontext des Computerspielens hinaus, ja über die Verantwortung jeder beliebigen einzelnen wissenschaftlichen Disziplin; mir erscheint es jedoch gleichzeitig ausgesprochen faszinierend, dass die postmoderne Erschöpfung in den Künsten – sowohl die inhärente Erschöpfung des Postmodernen als auch die Erschöpfung der Künste vom Postmodernen –, die sich so massiv insbesondere im Werk David Foster Wallaces manifestiert, 32 so kongruent mit dem sozialen und technischen Advent des Computerspielens zu koinzidieren scheint. Besonders Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften, aber zuvorderst theoretisch avancierte game studies haben die historische Gelegenheit, der Genese eines hochkomplexen diskursiven Zusammenhanges von nicht geringer globaler Relevanz beizuwohnen.
Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien:
Literatur
Abt, Clark C.: Serious Games. New York: Viking Press 1972.
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003.
Bissell, Tom: Extra Lives: Why Video Games Matter. New York: Pantheon 2010.
Crawford, Garry: Video Gamers. New York: Routledge 2011.
Heidegger, Martin: Was ist Metaphysik? Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2007.
Husserl, Edmund: Phantasie und Bildbewusstsein. Hamburg: Meiner 2006.
Independent Games Festival: Finalists & Winners 2013. 2013. <http://www.igf.com/2013finalistswinners.html> [25.03.2016].
Independent Games Festival: Finalists & Winners 2014. 2014. <http://www.igf.com/2014winners.html> [25.03.2016].
Lee, Dave: Papers, Please: The ‚boring‘ game that became a smash hit. In: BBC. 2014. <http://www.bbc.com/news/technology-26527109> [11.05.2016].
McGonigal, Jane: Reality is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World. London: Penguin 2012.
Reiss, Tom: Mehr Raum, mehr Freiheit? Überlegungen zum Ende der Postmoderne und dem (Neu-)Beginn des Phantastischen bei David Foster Wallace. In: Klenke, Pascal; Muth, Laura; Seibel, Klaudia; Simonis, Annette (Hg.): Writing Worlds. Welten- und Raummodelle der Fantastik. Heidelberg: Winter 2014, S. 153-162.
Reiss, Tom: Let’s Play! Tentative Überlegungen zur Ästhetik eines Online-Fanomens. In: Cuntz-Leng, Vera (Hg.): Creative Crowds. Perspektiven der Fanforschung im deutschsprachigen Raum. Darmstadt: Büchner 2014, S. 136-156.
Stobbe, Martin; Weigang, Tristan: Relativ ‚Indie‘. Skizzen zu einer Kultursoziologie des Computerspiels. In: Hennig, Martin; Krah, Hans (Hg.): Spielzeichen: Theorien, Analysen, Praktiken des zeitgenössischen Computerspiels. Boizenburg: Verlag Werner Hülsbusch 2016, S. 94-116.
Vermeulen, Timotheus; van den Akker, Robin: Notes on Metamodernism. In: Journal of Aesthetics & Culture. Vol. 2. (2010). <http://www.aestheticsandculture.net/index.php/jac/article/view/5677/6304> [11.05.2016].
Wallace, David Foster: The Pale King. New York: Little, Brown 2011.
Yin-Poole, Wesley: It took just two days for This War of Mine to make its money back. In: Eurogamer. 2014. <http://www.eurogamer.net/articles/2014-11-27-this-war-of-mine-made-its-money-back-in-just-two-days> [11.05.2016].
Computer- und Videospiele
11 bit studios: This War of Mine (Windows, iOS, Android, Xbox, PlayStation u.a.). 2014.
Hofmeier, Richard: Cart Life (Windows). 2011.
Quinn, Zoë: Depression Quest (Browser, Windows, Mac OS, Linux). 2013.
Pope, Lucas: Papers, Please (Windows, Mac OS, Linux, iOS, PlayStation Vita). 2013.
RuneStorm: Viscera Cleanup Detail (Windows). 2015.
- Im Folgenden verwende ich den Begriff des ,Spielens‘, bzw. ,Spiels‘, ,Spielende‘ etc. aus rein pragmatischen Gründen synonym mit dem Begriff des ,Computerspielens‘ etc. [↩]
- Zu den sozioökonomischen und taxonomischen Problematiken des Indie Gaming vgl auch: Stobbe; Weigang: Relativ ‚Indie‘. 2016. [↩]
- Vgl. Lee: Papers, Please. 2014. <http://www.bbc.com/news/technology-26527109> [11.05.2016]. [↩]
- Yin-Poole: It took just two days for This War of Mine to make its money back. 2014. <http://www.eurogamer.net/articles/2014-11-27-this-war-of-mine-made-its-money-back-in-just-two-days> [11.05.2016]. [↩]
- Auf den ersten Blick mag es konterintuitiv erscheinen, dass hier insbesondere der Themenkomplex des Bürgerkrieges mit Langeweile in Verbindung gebracht wird. Es soll hier auch keinesfalls suggeriert werden, dass das Leben in Bürgerkriegsgebieten nicht mit kontinuierlicher Not, Angst und Gefahr verbunden sei – denn dies ist definitiv der Fall. Es gilt allerdings zu berücksichtigen, dass insbesondere die alltägliche Existenz in einer solchen Situation mehr noch als der Alltag in friedlichen Lebensumständen mit einer quälenden Langeweile verbunden ist, die in erster Linie aus Machtlosigkeit resultiert. Insbesondere in Bürgerkriegsgebieten, die kontinuierlichen flächendeckenden Bombardierungen u. dgl. zum Opfer fallen, bleibt der Zivilbevölkerung oft über lange Zeiträume hinweg keine Wahl, als in relativer Sicherheit (wie Bunkern und Kellern) zu verharren – ein Zustand, der sich jenseits anderer Gefahren verheerend auf die Psyche eines Menschen auswirken kann [↩]
- An dieser Stelle sei insbesondere als Spiel jüngeren Erscheinungsdatums Viscera Cleanup Detail genannt: In diesem Spiel gilt es, als Reinigungskraft eine Reihe von Raumstationen zu putzen, die zuvor zu Szenen brutaler (und vermutlich sehr dramatischer) Auseinandersetzungen zwischen Raumabenteuern und Aliens wurden. RuneStorm: Viscera Cleanup Detail. 2015. [↩]
- Ich bedanke mich ganz herzlich bei der Schriftstellerin und Wissenschaftlerin Alexis Brooks de Vita, die mir den Begriff ,UrgenTedium‘ zur Beschreibung des Phänomens vorgeschlagen und zur Verwendung überlassen hat. [↩]
- Vgl. Wallace: The Pale King. 2011. [↩]
- Heidegger: Was ist Metaphysik? (1929). 2007, S. 30f. [↩]
- Ebd., S. 32. [↩]
- Ebd., S. 33. [↩]
- Ebd. [↩]
- Ebd. [↩]
- Ebd., S. 34. [↩]
- Ebd., S. 35. [↩]
- Wallace: The Pale King. 2011, S. 85. [↩]
- Adorno: Ästhetische Theorie (1970). 2003, S. 279. [↩]
- Vgl. ebd., S. 449. [↩]
- Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein (1905). 2006, S. 94f. [↩]
- Ebd., S. 233f. [↩]
- Ebd., S. 238. [↩]
- Wallace: The Pale King. 2011, S. 310. [↩]
- Vgl. Abt: Serious Games (1970). 1972, S. 3. [↩]
- Vgl. ebd., S. 11. [↩]
- Ebd., S. 6. [↩]
- Ebd., S. 7. [↩]
- Crawford: Video Gamers. 2011, S. 95. [↩]
- McGonigal: Reality is Broken. 2012, S. 30. [↩]
- Bissell: Extra Lives. 2010, S. 39. [↩]
- Vgl. Reiss: Let’s Play! 2014. [↩]
- Vgl. Vermeulen; van den Akker: Notes on Metamodernism. 2010. <http://www.aestheticsandculture.net/index.php/jac/article/view/5677/6304> [11.05.2016]. [↩]
- Vgl. Reiss: Mehr Raum, mehr Freiheit? 2014. [↩]