Heterotopie und Spiel – eine Annäherung

30. November 2013
Abstract: Wie können Johan Huizingas Verständnis von Spiel und Michel Foucaults Konzept der Heterotopie in Verbindung gebracht werden? Wie lässt sich eine mögliche Verbindung der beiden für die Computerspielforschung nutzbar machen?

Was haben Gärten, Friedhöfe, Bordelle und Videospiele gemeinsam? Was für den einen vielleicht wie der Anfang eines Witzes klingen könnte, kann für den anderen der Hinweis auf eine theoretische Herangehensweise an Computerspiele sein, die sich eines Konzepts des französischen Philosophen Michel Foucault bedient: der Heterotopie.

Michel Foucaults Konzept der Heterotopie stammt aus den 1960ern und wurde neben einem kurzen Abschnitt in Die Ordnung der Dinge nur noch in einem Radiobeitrag für France Culture am 7.12.1966 verfolgt. Dennoch wurde es immer wieder verwendet und auch immer wieder wurde angedacht, es auch für die Game Studies fruchtbar zu machen, wie zum Beispiel von Keith Challis 1 oder auf Gamereader.net 2. Doch möchte ich erst einmal grund­sätzlicher anfangen und wenigstens ausschnitthaft zeigen, dass der Begriff der Heterotopie mit Johan Huizingas Spielbegriff zusammenhängt, um mich anschließend der Frage nach der Übertragung auf Computerspiele zu nähern.
Nicht ohne Grund beginnt auch Foucaults Ausführung ebenso wie Huizingas mit dem Kind:

Unter all diesen verschiedenen Orten [einer Gesellschaft] gibt es nun solche, die vollkommen anders sind als die übrigen. Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen. Es sind gleichsam Gegenräume. Die Kinder kennen solche Gegenräume, solche lokalisierten Utopien, sehr genau. 3

Mag man erst einmal stutzen, was nach dieser Definition nun eine Hetero­topie sei, muss man sich den Begriff nur noch einmal herleiten: Andere Räume. Sie sind anders als der Rest, weil sie den Raum trans­for­mieren, sind somit eigentlich „mythische[n] und reale[n] Negationen des Raumes, in dem wir leben.“ 4 Schon hier finden wir eine erste Ähnlichkeit zu Huizinga, sagt dieser doch über den Raum des Spiels, als dessen Beispiele er auch „den Tempel, die Bühne, die Filmleinwand“ 5 nennt: „Sie sind zeit­weilige Welten innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich geschlossenen Handlung dienen.“ 6 Foucault führt wiederum ähnliche Orte an, 7 doch beginnt er zuerst mit weniger festen, noch nicht kon­ventio­na­lisierten, vielleicht sogar nicht konven­tiona­lisierbaren Orten:

Und das ist – am Donnerstagnachmittag – das Ehebett der Eltern. Auf diesem Bett entdeckt man das Meer, weil man zwi­schen den Decken schwimmen kann. Aber das Bett ist auch der Himmel, weil man auf den Federn springen kann. Es ist der Wald, weil man sich darin versteckt. Es ist die Nacht, weil man unter den Laken zum Geist wird. 8

Das Wort, das uns dazu einfällt, das Foucault nicht ausspricht, doch zwischen den Zeilen des Textes von selbst zu sprechen anfängt, ist das Wort „Spiel“. Denn was ist es anderes, was Foucault hier beschreibt, als das un­bän­dige Spiel der Kinder? Das Spielen erschafft also Heterotopien, die zumindest so lange existieren, wie das Spiel anhält. Der Zauberkreis des Spiels ist also eigentlich nur ein anderer Ausdruck für den Prozess der zeitweiligen Heterotopisierung, die das Spiel auslöst. Somit sind zwar Spiele keine Heterotopien, der Raum des Spielens aber schon. Interessanterweise scheinen aber Räume des Spielens – ich sage absichtlich nicht Spielräume, weil dies auch die Räume in einem Computerspiel bezeichnen könnte, deren Status mir aber im Moment noch unklar scheint – im Gegensatz zu anderen Heterotopien nicht ortsgebunden. Es mag favorisierte Orte des Spielens in einer Gesellschaft geben, wie das Spielzimmer, der Fußballplatz oder auch die Paintball-Anlage, doch sind dies eben nicht die aus­schließ­lichen Orte, an denen gespielt wird, wie ja bereits das Ehebett bei Foucault signalisiert. Es wäre sogar denkbar, hier die Unterscheidung von paidia und ludus auf die Art der Heterotopien anzuwenden, um zu unter­scheiden, ob Heterotopien beweglich oder auch noch keinen festen Ort in einer Kultur haben oder ob ihnen ihr Platz bereits zugewiesen wurde. Umso interes­san­ter sind aber dann diese nicht-festen Räume des Spielens, sind sie doch – noch mehr als andere Heterotopien – Umwertung und vor allem auch Umdeutung des eigentlich Vorhandenen, weil sie andere Orte besetzen:

 Hier stoßen wir zweifellos auf das eigentliche Wesen der Hetero­topien. Sie stellen alle anderen Räume in Frage, und zwar auf zweierlei Weise: entweder […] indem sie eine Illusion schaffen, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt, oder indem sie ganz real einen anderen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist. 9

Dieses Infragestellen überträgt sich aber natürlich auch auf die Heterotopien selbst, denn auch sie stehen so immer auf dem Spiel, da ihre eigene Um­wer­tung selbst jederzeit wieder umgewertet werden kann, wenn das Spiel beendet wird oder das Spielen von außen gestört wird. In Abwandlung eines Zitats von Wolfgang Iser: „Im Spiel steht immer alles auf der Kippe“ 10 könnte man vielleicht behaupten: Das Spiel steht immer auf der Kippe. Sein Status ist immer gefährdet, und damit ist das Spielen ein Spiel zweiter Ordnung, das zwischen Spiel und Nicht-Spiel. Ich denke, gleiches gilt auch für Heterotopien, auch wenn ihre Konventionalisierung ihren Status zu schützen versucht. Das Kino ist keine Heterotopie mehr, wenn der Film reißt oder die anderen Zuschauer sich nicht mehr an die Regeln halten. Der Friedhof ist kein Friedhof mehr, wenn ich dort laut feiere. Der große Vorteil gegenüber den unfesten Räumen des Spiels haben diese Räume aber darin, dass sie wieder in ihren Zustand des Heterotopie-Seins zurückfallen, wenn sich wieder alle an die Regeln halten. Das Spiel aber kann sich nicht darauf verlassen, dass es fortgesetzt wird oder dass es überhaupt fortsetzbar ist. Dafür hat es aber zumindest die Eigenschaften der Wiederholbarkeit. 11

Noch sind wir nicht einmal wirklich beim Computerspiel angelangt und doch hat sich vielleicht bereits jetzt gezeigt, dass ein Zusammendenken der beiden Begriffe Heterotopie und Spiel fruchtbar sein könnte, vor allem auch für das Computerspiel. Zwar scheint es mir so, dass sich der Hetero­topie­begriff nicht auf das Computerspiel selbst anwenden lässt – ist es ja auch fraglich, zu was der Raum im Computerspiel ein Gegenraum sein soll, ist er doch vielmehr die Simulation eines Raumes. Hier stoßen wir an den fraglichen Status virtueller Räume. Was man festhalten kann, ist, dass das Computerspiel eine sichtbare Repräsentation des sich in einer Hetero­topie Befindens darstellt. Wir sehen Bilder eines anderen Raumes auf dem Bildschirm und gängigen Ansichten über das Avatar-Spieler-Verhältnis 12 folgend befinden wir uns gleichzeitig vor und hinter dem Bildschirm.

Auf was sich also der Heterotopiebegriff sehr wohl übertragen lässt, ist das Spielen eines Computerspiels. Denn jedes Mal, wenn wir das Joypad in die Hand nehmen, ein Spiel starten, erschaffen wir uns eine zeitweilige Hetero­topie, egal, wo wir uns befinden, auch im öffentlichen Raum, dessen Status wir damit natürlich auch torpedieren. Weil wir etwas umformen, be­un­ruh­i­gen wir, wie es Foucault den Heterotopien zuschreibt. 13 So mag eine solche Perspektive vielleicht einen ganz neuen Blick auf das große Erstarken der Mobilegames erzeugen. Denn wie Foucault bemerkt, wenn er das Schiff zum Paradebeispiel einer Heterotopie erklärt: 14

Zivilisationen, die keine Schiffe besitzen, sind wie Kinder, deren Eltern kein Ehebett besitzen, auf dem sie spielen können. Dann versiegen die Träume. An die Stelle des Abenteuers tritt dort Bespitzelung und an die Stelle der glanzvollen Freibeuter die häßliche Polizei. 15

Verwendete Texte und Medien

Bilder

Kunzelman, Cameron: Oh no < http://heylookatmygames.com/ohno/> [11.07.2016].

Texte

Challis, Keith: Games as Heterotopias. In: Second Site. Landscape, Heritage and Visualisation. <http://secondsiteresearch.blogspot.de/2011/07/games-as-heterotopias.html> [11.07.2016].
Foucault, Michel: Die Heterotopien. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.
Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Übers. v. H. Nachod. Hamburg: Rowohlt 1994.
Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993.
JRGBruno: Tag "heterotopias". In: gamereader.net. <https://gamereader.net/tag/heterotopias/> [11.07.2016].
Neitzel, Britta: Point of View und Point of Action – eine Perspektive auf die Perspektive in Computerspielen. In: Klaus Bartels u. Jan Noel Thon (Hg.): Computer/Spiel/Räume. Materialien zur Einführung in die Computer Game Studies, Hamburger Hefte zur Medienkultur, Heft 5, 2007, S. 8 – 28.

  1. Vgl. http://secondsiteresearch.blogspot.de/2011/07/games-as-heterotopias.html []
  2. Vgl. http://gamereader.net/tag/heterotopias/ []
  3. Foucault: Die Heterotopien. 2005, S. 10. []
  4. Foucault, Michel: Die Heterotopien. 2005, S. 11. []
  5. Huizinga: Homo ludens. 1994, S. 18. []
  6. Huizinga: Homo ludens. 1994, S. 19. []
  7. Vgl. Foucault: Die Heterotopien. 2005, S. 14. []
  8. Foucault: Die Heterotopien. 2005, S. 10. []
  9. Foucault: Die Heterotopien. 2005, S. 19f. []
  10. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. 1993, S. 350. []
  11. Vgl. Huizinga: Homo ludens. 1994, S. 18. []
  12. Vgl. Neitzel: Point of View und Point of Action. 2007, S. 8 – 28. []
  13. Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge. 2006, S. 20. []
  14. Vgl. Foucault, Michel: Die Heterotopien. 2005, S. 21f. []
  15. Focault, Michel: Die Heterotopien. 2005, S. 22. []

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Unterhuber, Tobias: "Heterotopie und Spiel – eine Annäherung". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 30.11.2013, https://paidia.de/heterotopie-und-spiel-eine-annaherung/. [21.11.2024 - 11:02]

Autor*innen:

Tobias Unterhuber

Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft an der LMU München und der University of California, Berkeley. 2018 promovierte er bei Prof. Dr. Oliver Jahraus mit einer Arbeit zum Thema "Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht". Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Zu seinen Forschungsinteressen zählt neben Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie und Gender Studies auch die kulturwissenschaftliche Computerspielforschung.