Entscheidungszwang und Probehandeln: Beobachtungen zur gegenwärtigen Entwicklung im Computerrollenspiel

15. Oktober 2011

Gerade im Rollenspielsektor lässt sich momentan eine ge­mein­same Entwicklung be­obachten, die sich sowohl in Titeln der bekannten Firma BioWare als auch in den Pro­duk­ten kleinerer Firmen wie CDProjekt (The Witcher 1 und 2) als neues Paradigma offen­bart: Zur grundlegenden Ver­anlagung von Spielen als Plattform für Probehandeln, also dem Einüben und Ausprobieren von Handlungen und dem Abschätzen der Konsequenzen, kurz gesagt für Gedankenexperimente, stößt das Element des Entschei­dungs­zwangs hinzu und verändert damit die Spiel­situation grund­legend. Nicht wie früher bleibt der Spieler auf der Position des Richters zurück, der aufgrund von persönlicher Einstellung und Gesinnung und vorliegenden In­for­mationen, überlegte Entscheidungen fällen kann, sondern der Spieler wird zum vollkommen involvierten Entscheidungsträger, der sich eben nicht auf ein „später“ flüchten, der sich keine Zeit zum Nachdenken nehmen und sich nicht auf eine neutrale Position zurückziehen kann. Besonders The Witcher 2 - Assasins of Kings kombiniert den Entscheidungszwang an ei­ni­gen Stellen des Spiels auch noch mit einem Zeitdruck, indem dem Spie­ler nur fünf Sekunden zur Verfügung gestellt werden, zwischen zwei Spiel­welt verändernden Optionen zu wählen. Der Spieler muss sich ent­schei­den, hier und jetzt, und er muss mit den Kon­sequenzen zurechtkommen. Das Spiel wird also zur Entscheidungssimulation, in der man aufgrund von un­ge­nü­gen­den Daten und unabschätzbaren Folgen, dennoch vor die Wahl gestellt wird und anschließend mit den Folgen seiner Handlungen und Taten zu­recht­kommen muss.

Gerade am Beispiel Dragon Age 2 lässt sich dies gut zeigen. Der Spieler steu­ert den Protagonisten Hawke, einen Helden wider Willen, auf seinem zehn Jahre langen Weg, der ihn schlussendlich zum Champion der Stadt Kirk­wall macht. Sein Weg ist dabei gespickt mit brenzligen Situationen und Kon­flik­ten, die gerahmt werden von schnellen Actionsequenzen, die trotz ihres häufigen Vorkommens wohl eher zu Zwischensequenzen geworden sind, die die Handlung des Spiels unterbrechen. Somit scheint sich hier, wie in Mass Effect 2, das Verhältnis von Handlung und Spielen umgedreht und so steht nun das Lösen oder besser das Umgehen mit Auseinandersetzungen im Vordergrund des Handelns.

Dies verändert auch die Spielsituation drastisch: Der Spieler steht deutlich unter Druck, er muss reagieren, er muss Position beziehen. Er muss sich also, Jean-Paul Sartre folgend, klar und deutlich entscheiden zu handeln und zu sein. Er ist also dem Spielerlebnis existentiell ausgesetzt, auch wenn die Situation rein virtuell bleibt. Die Existenz des virtuellen Selbst, also der Teil der spielenden Person, der in der Rolle des Spielers als oder wie jemand an­deres handelt, ist bedroht und so fühlt auch die spielende Person in ihrer realen Instanz diese Bedrohung. In allerletzter Konsequenz könnte dieser Übersprung als Einbruch des Fiktiven ins Reale  beschrieben werden. Auch der Film oder die Literatur kann ähnliche Wirkungen auf uns haben, doch durch das Vorhandensein einer Instanz des Spielers im Raum des Mediums als handelnde Figur sind wir dem Erlebnis ausgeliefert. Wir können zwar den Computer ausschalten und nicht weiterspielen, aber wenn wir spielen, kön­nen wir uns nicht auf die Beobachterposition zurückziehen und wir kön­nen nicht behaupten: das hat nichts mit uns zu tun. Dies gilt aber eben all­gemein für das Medium des Spiels, es kann immersiv wirken, aber eben nicht nur auf einer spiel­mechanischen Ebene, sondern gerade auch auf einer narrativen. So lässt sich diese Entwicklung wohl als ein voran­schrei­ten­des Ausreizen der spezifischen Medialität des Computer­spiels begreifen.

Eine weitere Spezifik des Computerspiel wird durch diese Entwicklung eben­so angetrieben: die Möglichkeit des kontra­faktischen Erzählens. Der Spie­ler wird also eine Geschichte zum Spielen gegeben, die nur so von Si­tua­tio­nen strotzt, die den Spieler grübelnd zurücklassen mit einem „Was wäre wenn“-Gefühl. So scheint der Spieler stark dazu bewegt, das Spiel mehrmals zu spielen, um die verschiedenen Geschichtsverläufe zu erleben, was im Fall von Dragon Age 2 zusätzlich noch durch das Achievement-System verstärkt wird. Dem Spieler wird also wirklich der Raum für die Umsetzung eines Gedanken­experiments zur Verfügung gestellt. Er hat die Mö­glichkeit, die ihm die Realität nicht bieten kann: Zu sehen, was wäre wenn. Hiermit bedient sich das Computerspiel einer grundlegenden Mög­lich­keit von Fiktion, doch bietet es durch seine Wiederspielbarkeit und der Möglichkeit in eben einem zweiten Spielverlauf Probleme anders zu lösen, Möglichkeiten, die der Film oder das Buch nicht hat. Wenn man ein Buch das zweite Mal liest, wird die Erzählung immer noch genauso verlaufen wie beim ersten Mal. Beim Computerspiel aber und gerade bei der neueren Ge­ne­ra­tion der Rollen­spiele habe ich die Möglichkeit die Erzählung anders en­den zu lassen als beim ersten Mal. das Computerspiel gesteht uns so also eine Mündigkeit zu, die uns Literatur und Film nicht gewähren können.

Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien

Spiele

BioWare: Dragon Age: Origins. Electronic Arts 2009.
BioWare: Dragon Age 2. Electronic Arts 2011.
BioWare: Mass Effect 2. Electronic Arts 2010.
CD Projekt RED: The Witcher. Atari SA 2007.
CD Projekt RED: The Witcher 2 - Assassins of Kings. CD Projekt 2011.

Artikelbild

Offizieller Screenshot aus BioWare: Dragon Age 2. Electronic Arts 2011.

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Unterhuber, Tobias: "Entscheidungszwang und Probehandeln: Beobachtungen zur gegenwärtigen Entwicklung im Computerrollenspiel". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 15.10.2011, https://paidia.de/entscheidungszwang-und-probehandeln/. [03.12.2024 - 17:32]

Autor*innen:

Tobias Unterhuber

Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft an der LMU München und der University of California, Berkeley. 2018 promovierte er bei Prof. Dr. Oliver Jahraus mit einer Arbeit zum Thema "Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht". Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Zu seinen Forschungsinteressen zählt neben Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie und Gender Studies auch die kulturwissenschaftliche Computerspielforschung.