„Totaler Krieg“ im Mittelalter: Die Umsetzung hochmittel­alter­licher Kriegs­führung durch Narration & Simulation in den Strategie­spielen Medieval II und Crusader Kings II

30. Mai 2016
Abstract: Kann das Computerspiel Spielenden historische Prozesse und Fakten gerade durch seine simulativen Komponenten effektiver ver­mitteln als andere Medien? Der folgende Artikel möchte diese Frage auf die Repräsentation mittelalterlicher Kriegs­führung und ihre Beziehung zu historischen Vor­bildern anwenden. Er untersucht deshalb die Titel Medieval 2: Total War (2006)  und Crusader Kings 2 (2012) auf ihre spezifischen Inszenierungen hoch­mittelalterlicher Kriegs­führung – sowohl auf der Ebene der audio­visuellen Präsentation wie auch besonders auf der der Spiel­mechanik: Welches Bild mittel­alterlicher Kriegs­führung ‚erspielen‘ sich Rezipienten?

Zwei mittelalterliche Kriege

Zunächst ein Blick auf den typischen Kriegs­ablauf beider Titel: In beiden Fällen beginnt unser Krieg mit einer Kriegs­erklärung. In Medieval 2 ist diese Entscheidung schnell und unkompliziert zu treffen: Ein Klick auf die Einheiten oder Burgen neutraler Fraktionen genügt, um ein Auswahl­fenster zu öffnen, mit dem der Konflikt eröffnet wird. Nach der Bestätigung des Kriegs­zustandes marschieren die von der Spielerin (idealerweise in den Vorrunden an den Grenzen des Feindeslands platzierten) Truppen­verbände noch in derselben Runde los. Ihr Ziel sind die Armeen und Festungen des Feindes: Erstere werden in einer Echtzeit-Entscheidungs­schlacht ausge­schaltet, letztere im Verlauf von mehreren strategischen Runden belagert und erobert. Der Krieg wird so lange weiter­gehen, bis die benach­teiligte Seite ein er­niedrigendes Friedens­angebot annimmt oder ver­nichtet wird.

In Crusader Kings 2 gestaltet sich die Anbahnung eines Krieges ungleich komplizierter: Nach Jahren des spielinternen Intrigierens ist es den Diplomaten der Spieler-Fraktion gelungen, einen legitimen Anspruch auf eine angrenzende Provinz zu beweisen – bzw. zu fälschen.

Die Kriegserklärung: Ziele werden formuliert, ein Schreiben wird an den Gegner verschickt.

Die Kriegserklärung wird bestätigt und der Gegner informiert – aber dies ist nur der Anfang: Es gilt, die Haus­truppen der eigenen Dynastie aus ihren verteilten Besitzungen zu sammeln und mit den Abordnungen von Vasallen – Baronen, Grafen und, abhängig vom Rang, auch Herzögen und Bischöfen – sowie gleichgestellten Verbündeten zu vereinen. Dabei ist auf niemanden hundert­prozentig Verlass: manche Vasallen sind womöglich noch aufgrund vorheriger Meinungs­verschieden­heiten mit ihrem Lehnsherrn ver­stimmt und senden nur so wenige und schlechte Truppen wie möglich. Viele der ange­heirateten Verbündeten sagen ihre Teil­nahme ab oder schicken nur kleine Truppen­verbände, die aufgrund der zurück­gelegten Ent­fernung viel zu spät ein­treffen.

Wartezeit: Die Truppen werden zusammengezogen

Wartezeit: Die Truppen werden zusammengezogen

Das Aufgebot aus den einzelnen Provinzen wird in wochen­langen Reisen (je nach Geschwindigkeit 30 Sekunden des Wartens auf Seite der Spielenden) zusammen­gesammelt, loyale und fähige Adlige werden als Führer der einzelnen Flügel ver­pflichtet und der Heer­haufen macht sich auf den Weg. Die Reise kann sich angesichts mittelalterlicher Infrastruktur und Logistik vor allem in schwierigem Terrain als kräfte­zehrende Heraus­forderung heraus­stellen 1 – ein Problem, das sich in Belagerungs­situationen noch intensiviert und selbst mächtige Heere innerhalb weniger Monate zu­sam­men­schrumpfen lässt. Trotz dieser Hindernisse und Risiken sind Be­la­ger­ungen der offenen Feld­schlacht vor­­zu­ziehen, denn jede halbwegs aus­ge­glich­ene Schlacht stellt für die involvierten Mitglieder der Führungs­schicht, darunter auch den jeweiligen Herrscher der Spieler­­dynastie, ein großes Risiko dar: denn es ist ebenso möglich, dass sich diese Einzel­­figuren durch Helden­taten im Schlachten­­getümmel hervortun, wie dass sie in Ge­fang­en­schaft geraten, im Kampf verwundet, verstümmelt oder getötet werden. Es gilt also für An­greifer, den Krieg mit so wenig Schlachten wie möglich zu beenden – oder für Ver­teidiger, ihn so zu verlängern, dass An­greifer durch finanzielle Probleme, Soldaten­mangel oder Protest der involvierten Vasallen zu einem Friedens­angebot im status quo ante bellum ge­zwungen werden.

Beide Spiele scheinen sich in ihrer Legitimierung zumindest zum Teil auf das durch Militär­historiker und Archäologen rekonstruierte Modell der feudalen Kriegs­führung zwischen 1300 und 1500 zu berufen, könnten dennoch im konkreten Ereignis­verlauf kaum unter­schiedlicher sein. Wie finden beide Spiele zu so unter­schiedlichen Aussagen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst mit dem medialen Vokabular des Computer­spiels auseinander­setzen – denn mit Marshal Mc Luhan: „The medium is the message“ 2

Simulatives Erleben

Die Computer­spiel­­forschung konnte ihr Untersuchungs­­objekt im Verlauf des letzten Jahr­zehnts als komplexes multimodales Konstrukt erklären, das un­ter­schied­lich­ste Zeichen­­systeme und Dar­stellungs­modi in sich vereinigt 3. Dazu gehören auf der einen Seite die Viel­zahl audio­­visueller Zeichen­­sys­te­me, die in anderen Medien meist einzeln aufzufinden sind – zum Beispiel Text, Stimme, Geräusche, Musik, statisches und bewegtes Bild. Sie machen in ihrer Ganzheit die narrativen Rezeptions­­angebote des Mediums aus.

Gleichzeitig besitzt das Computerspiel einen mathematisch-algorithmischen Kern, der ihm einen einzigartigen Zugriff auf simulative Ver­mitt­lungs­­zu­gänge eröffnet. Dazu Gonzalo Frasca, einer der frühesten Ver­treter lu­do­lo­gi­scher Perspektiven auf das Computer­spiel:

“to simulate is to model a (source) system through a different system which maintains to somebody some of the behaviors of the original system. The key term here is 'behavior'. Simulation does not simply retain the – generally audiovisual – characteristics of the object but it also includes a model of its behaviors. This model reacts to certain stimuli (input data, pushing buttons, joystick movements), according to a set of conditions.” 4

Ein Computerspiel modelliert also ein System und lädt Spieler dazu ein, innerhalb dieses Systems zu handeln: Ein­zugreifen, Variablen zu verändern, unter­schiedliche Ausgänge zu beobachten. Aber was wird jeweils simuliert und wie?
Zum Was: Das Ursprungssystem ist nicht notwendiger­weise ein faktuales System der Gegenwart, auch rekonstruierte Szenarien der Vergangenheit oder allotopische Fantasy­welten sind möglich, wichtig ist allein der ko­hä­ren­te System­­charakter. Zum Wie: Das sekundäre System der Simulation ist vor allem in einem Unter­haltungs­­medium wie dem Computer­­spiel nie voll­ständig. Es werden immer Aspekte des Ursprungs­­systems entfernt, ver­ein­facht oder unter­schiedlich hierarchisiert 5: Dies prägt die Er­fahrungen, die Spielende aus der Konfrontation mit einem solchen System mitnehmen – und folglich auch ihre Rück­schlüsse auf das Ursprungs­system, also in unserem Fall mittelalterliche Kriegs­führung. Gerade deshalb lohnt es sich, der simulativen Dar­stellung und Modellierung in beiden Spielen nach­zuspüren. Was geben beide Spiele als Ursprungs­system an, was setzen sie letztendlich auf welche Weise um? Welches Bild mittelalterlicher Kriegs­führung präsentieren sie Spielenden?

Narrative Rezeptionsangebote: Wir sind Mittelalter

Das Hauptmenü von Medieval 2

Der Hauptmenü-Hintergrund von Medieval 2

Auf der Ebene der narrativen Rezeptionsangebote und besonders in der audio­visuellen Repräsentation finden wir in beiden Titeln Versuche, Spiel­en­den Anschluss an die unter­schiedlichsten Quell­­systeme mittel­­alter­licher Lebens­art zu bieten: Ob in den Aus­rüstungs­­gegen­ständen oder der Ge­wan­dung von Figuren, dem Design des User Inter­face, dem histo­ri­sierenden oder tatsächlich historisch gestalteten Sound­track oder dem grafischen Design der Welt­karte – in beiden Titeln ist der Einfluss wis­sen­schaft­lich gesicherter Daten­quellen ebenso greifbar wie der populär­medialer Film­­produktionen.

Die Weltkarte von CK2

Die Weltkarte von CK2 präsentiert sich im Stil historischer Pergamentkarten (vgl. Kartenrand)

Die Schlachtvorbereitung in Medieval 2.

Spätmittelalterliche Kavallerie. Die Schlachtvorbereitung in Medieval 2.

Auf der ludischen und simulativen Ebene der Weltregeln und Prozesse treten jedoch signifikante Unter­schiede zwischen beiden Titeln zutage. Dies soll nicht implizieren, dass ein Spiel sehr viel ‚realistischer‘ wäre als das andere: In der Tat kommt es in beiden Spielen zu starker Komplexitäts­reduktion, nur in unter­schiedlichen Bereichen.

Medieval 2: Schlachtengemälde im Lauf der Jahrhunderte

Medieval 2 bietet vor allem auf der taktischen Mikroebene der Schlachtkarte ein extrem detailliertes Simulationsniveau, dessen Wirkmächtigkeit bis in das individuelle Verhalten einzelner Infanteristen und Projektile reicht. Die Anlehnung an wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse der Militär­ge­schich­te ist hier stark ausgeprägt 6 : Die Echtzeitschlachten, in denen bis zu 10.000 Einzelfiguren teilnehmen, berücksichtigen nicht nur Wetter, Tageszeit, Geographie und Flora, sie inkorporieren auch komplexe mathematische Formeln, um die Eigenschaften dutzender unterschiedlicher, historisch beglaubigter Einheitentypen aus 450 Jahren europäischer Kriegsführung abzubilden: Von Genueser Armbrustschützen über Husaren, byzantinische Kataphractoi und Bombarden – jede Einheit besitzt einzig­artige Qualitäten, die sich als Übersetzung historischer Fakten präsentieren (Kreuzritter mit besonders guter Moral etc.) und ihr bestimmte Vor- und Nachteile im Kampfgetümmel verleihen. Der Lerneffekt derart inszenierter Spiel­erfah­run­gen beschränkt sich nicht nur auf dem Nachvollzug bestimmter historischer Fakten (zum Beispiel, warum Schweizer Pikeniere im Spätmittelalter bzw. der frühen Neuzeit so begehrte Söldner darstellten oder warum Bauern­heere kaum funktionieren konnten), sondern auch auf historische Prozesse als solche – allen voran die Entwicklung von Schießpulver­einheiten: Bombarden, Serpentinen oder Culverinen werden ab dem frühen 15. Jahrhundert schrittweise freigeschaltet und verändern nachhaltig das Schlachtgeschehen: Geschlossene Formationen werden durch das zunehmend zielsichere Geschützfeuer immer problematischer, vormals sichere Burgen wandeln sich von uneinnehmbaren Bollwerken zu attrak­tiven Zielscheiben – spätmittelalterliche Kriegsführung in ihren letzten Zügen.

Aber eine Schlacht macht noch keinen Krieg. Die strategischen Rahmen­umstände, die eine einzelne Schlacht herbei­führen und Kampf­handlungen bis zu ihrem Ende hin auf jeder Ebene verketten, werden in Medieval 2 massiv abstrahiert:

In Medieval 2 existiert kein Feudalsystem. Städte und Burgen werden zentralisiert auf Staats­ebene beherrscht und verwaltet, die aus dem realen Mittelalter bekannte Teilung der Herrschaft in lose, zunächst stark auf Personenbindung basierende Gefolgschafts­verhältnisse fällt völlig weg. Die unbegrenzt im Feld stehenden Truppen, die praktisch als stehende Armee im Sinn der Moderne funktionieren, werden ebenso zentral in den anonyme Bürger und Adlige als relevante Fraktionen ausklammernden Städten und Festungen ausgehoben. 7

Diplomatie ist kaum existent – aber da es so gut wie keine sub-nationalen Entitäten gibt und sich die wenigen existierenden König­reiche eher wie einzelne Organismen verhalten, gibt es auch wenig Gründe für Ver­hand­lun­gen. Ähnlich wie in einer Petrischale gezüchtete Bakterien­kolonien besitzen auch die Königreiche von Medieval 2 einen tendenziell endlosen Drang zur Ausbreitung. Totaler Krieg ist die notwendige Konsequenz der Kollision zweier dieser Schwarm-Organismen – so zumindest das Spiel, denn die KI ist ebenso darauf programmiert, auch ihre treuesten Verbündeten nach einer gewissen Zeit anzugreifen, wie realistische Friedensangebote ab­zu­lehnen 8. Kriege beginnen in der Praxis von Medieval 2 ebenso schnell wie unberechenbar und werden, wenn nicht der Papst als übermächtiger Schiedsrichter eingreift, durch vernichtende Feldschlachten sowie Er­obe­run­gen so lange betrieben, bis der Unterlegene einen brutalen Frieden annimmt oder ausgelöscht wird – ein System, das eher an die Simulation des Kriegs zwischen außerirdischen Schwarminsekten als an mittelalterliche Kriegsführung erinnert.

Crusader Kings 2: Das Prinzip Dynastie

Das vom schwedischen Entwicklungsstudio Paradox Interactive entwickelte Crusader Kings 2 zeigt in seinen simulativen Aspekten ebenso signifikante Komplexitäts-Unterschiede – nur in umgekehrter Reihenfolge. Hier ist es die Mikroebene einzelner Schlachten, die auf das Extremste abstrahiert wird. Schlachten beginnen automatisch, wenn zwei durch einzelne Kämpfer-Figuren repräsentierte Armeen im selben Territorium stehen. Nun beginnt eine durch das Aufeinander-Einschlagen der beiden Kämpfer visualisierte Schlacht, auf die Spielende kaum aktiv Einfluss nehmen können.

Krieg im Excel-Look: Eine Schlacht in Crusader Kings 2

Krieg im Excel-Look: Eine Schlacht in Crusader Kings 2

Der Ausgang des in einer Tabellen-Liste detailliert herunter­gerechneten Geschehens ergibt sich aus der jeweiligen Anzahl und Zusammen­setzung der Truppen­teile, ihrer Versorgungs­lage, dem Wetter und der lokalen Geographie sowie der Führungs­stärke des jeweiligen Generals. Dieser in seiner Exaktheit frappierend an moderne militär­strategische Berechnungen von Verlust­raten erinnernde Algorithmus wird nur in geringem Maße durch Zufalls­ereignisse beeinflusst: Involvierte Adlige können zwar während eines Gefechts in Gefangen­schaft geraten, verwundet oder getötet werden, aber nur der Ausfall eines Generals kann den Schlacht­verlauf wirklich wenden. Die emotionalen Affekte, welche die stark interaktiven Schlachten von Medieval 2 prägen können, bleiben Crusader Kings 2 so größtenteils fremd.

Sie werden für die strategische Makro­ebene des Spiels reserviert, in welcher Spielende in der Rolle über die Jahr­zehnte und Jahr­­hunderte wechselnden Landes­fürsten zahl­reiche Aspekte mittel­alterlicher Herrschafts­­praxis ken­nen­­ler­nen. Hier existiert tatsächlich ein Feudal­­system: Die europäische Führungs­­schicht – vom Baron, Abt und Bürger­vorsteher und ihren Familien aufwärts hin zu Königen, Patriziern und Päpsten – wird in einem mehrere tausend Akteure um­fas­senden Ensemble simuliert. 9

Der im Lauf von Stunden bzw. Jahrhunderten erspielte Stammbaum einer Familie

Der im Lauf von Stunden bzw. Jahrhunderten erspielte Stammbaum einer Familie

Rechte und Pflichten: Ein Teil der Feudalbeziehungen des Heiligen Römischen Reiches in CK 2

Jede Figur besitzt bestimmte erworbene wie ererbte Charakter­eigenschaften, Fähig­keiten und Schwächen, die in ihrer Kombination zur Heraus­bildung einer simplen digitalen Persönlichkeit führen. Dies gilt ebenso für historisch verbürgte (und von den Entwicklern vorgestaltete) Personen wie die vom Spiel, angesichts des großen kontrafaktischen Potentials, generierte Figuren. Blicken wir als Beispiel auf Raynault von Châtillon:

Eine historische Illustration Raynaults bei der Folter des katholischen Patriarchs von Antiochien

Eine historische Illustration Raynaults bei der Folter des katholischen Patriarchs von Antiochien

Als eine der kontroversesten Figuren der Kreuzfahrer­königreiche herrschte der reale Raynault von Châtillon von 1153 bis 1160 über das Herzogtum Antiochien und von 1177 bis zu seiner Ent­hauptung durch Saladin im Jahr 1187 über Transjordanien. Er erlangte traurige Berühmtheit durch seine Gier, Selbstsucht und Grausamkeit, besonders jedoch durch die Torpedierung des Friedensabkommens zwischen dem Königreich Jerusalem und der Ayyu­bi­den-Dynastie unter Saladin. 10 Das Spiel stattet den digitalen Raynault mit einer Diplomatie-Fähigkeit von Null (der Durchschnitt ist Zehn) sowie vier der im Zeit­gewand als Tod­sünden präsentierten Charakter­mali aus: Neid, Lüsternheit, Jähzorn und Gier machen ihn zu einem unbeliebten Zeit­ge­nos­sen, der auch ohne weitere Vor­­pro­gram­mie­rung, prozedural seinen Cha­rak­ter­­eigen­schaften folgend, extrem prob­le­matische Ent­schei­dungen treffen wird.

Kein guter Nachbar: Raynault im Spiel

Spielende, die sich zum Beispiel dafür entscheiden, den König von Jerusalem zu spielen, werden Raynault im Zuge ihrer Herrschaft immer wieder als extrem unberechenbaren Vasallen kennen­lernen und sich früher oder später entweder sein gewaltsames Ende wünschen, oder es selbst durch Intrigen einleiten. Sollten sie inaktiv bleiben, könnte es sein, dass Raynault sich im Gegenzug darum bemühen wird, ihren Thron zu besteigen. Es könnte aber auch genauso nichts passieren, denn Crusader Kings 2 erzwingt keinen linearen Spielverlauf. Eine Schlacht von Hattin, wie sie in der Realität am 4.Juli 1187 stattfand, wird es in genau derselben Form dort wahrscheinlich nicht geben. Die Eigendynamik, die sich aus der Interaktion der Spiel­figur Raynault mit anderen Figuren in seinem Umfeld – seinem Herrn, seiner Familie und zahlreichen Unter­gebenen sowie anderen Adligen – ergibt, ist bei jeder der mehr als 1500 simulierten Vertreter des eurasischen Adels vorhanden: Alle haben Bedürfnisse und Leiden­schaften, planen Er­obe­run­gen, Vendettas und Liebes­abenteuer – und allen voran die Stärkung ihrer Dynastie.

Diese Verzahnung von persönlichen und dynastischen Interessen wirkt sich auch auf den Krieg aus. Kriegsziel ist nie die totale Aus­löschung eines Kon­tra­hen­ten im leidlich bekannten Paradigma des 20. Jahrhunderts, sondern immer die Realisierung eines einzelnen, konkreten, persönlich, dynastisch, und staats­rechtlich definierten Ziels: die Erzwingung einer Heirat, die Durch­setzung des Thron­anspruchs naher und entfernter Ver­wandter, der Erwerb einer einzelnen Burg oder die Be­sei­ti­gung eines häretischen Nach­barn. Daher sind die Kriege von CK 2 auch ebenso in ihrem räumlichen und zeitlichen Um­fang begrenzt – wenn nicht der über­raschende Tod eines Thron­anwärters, die Einigung auf einen neuen Monarchen oder de Ver­söhn­ung eines exkommunizierten Herrschers mit dem Papst sie nicht noch früher unterbricht.

Auf Spielende kann dies frustrierend wirken, denn die meisten Kriege müssen lange vorbereitet werden, sei es durch das Anhäufen von Geld­reserven oder das Anwerben von Söldnern und die Zufrieden­stellung von Vasallen und Verbündeten zur Sicherung ihrer Loyalität. Angesichts dieser Arbeit, den involvierten Risiken und der zu Beginn angesprochenen Ge­fah­ren für Leib und Leben von Monarchen und Mit­­gliedern der Dynastie sind Kriege in Crusader Kings 2 (wie im realen Mittelalter 11 ) eines der ris­kan­ter­en Werk­zeuge im Handlungs­inventar eines Herrschers. Der beste Krieg bleibt dort der, der durch eine 30 Jahre zuvor arrangierte Heirat vermieden wurde.

Ein Fazit: Simulierte Weltbilder

Sowohl Medieval 2, als auch Crusader Kings 2 gelingt es, spezifische Aspekte mittelalterlicher Kriegs­führung auf innovative Weise für Spielende erfahrbar zu machen. Gleichzeitig nehmen beide Spielsysteme dabei auch massive Komplexitäts­reduktionen in anderen Bereichen in Kauf, die ihre Beziehung zum momentan erahnbaren Ausgangssystem des realen Mittelalters stark verzerren. Vor allem eine produktive Arbeit mit beiden Titeln im Bereich der Pädagogik setzt voraus, dass die medien­­ästhetisch geprägte Beziehung der Spiel­­simulation zu ihren ver­­schiedenen Quellen bzw. Quell­systemen be­rück­sich­tigt wird. Erst dann wird eine unbefriedigende, weil automatisch zu Ungunsten des Spiels ausgehende Abtastung nach historischer Authentizität zu einer spannenden Aus­ein­an­der­­­setzung mit digital ver­mittelten Welt­­bildern, ihrer ganz eigenen simulativen bzw. prozeduralen Rhetorik, und deren Botschaft. Mit anderen Worten: Sie helfen uns nur bedingt, das Mittelalter zu verstehen – aber sie helfen uns enorm, unsere Mittelalter­­bilder zu verstehen. Der Blick zurück in eine Ver­gangen­heit, die (von beiden Titeln) als blut­durchtränkte und von Intrigen durch­wucherte Epoche imaginiert wird, verklärt – wenn keine ex- oder implizite Auseinander­setzung mit dieser Differenz (vgl. das Motto der Fallout-Serie „War. War never changes“) stattfindet – tendenziell auch die Gegen­wart, die ihn produziert. Beide Spiele verzichten auf ebendiese Differenzierung und können das Mittelalter so in eine sicher abgetrennte Imaginations­zone verwandeln, in der Techniken militärischer, politischer und sozialer Macht jenseits ethischer Hindernisse frei von Spielenden praktiziert werden können. Das ‚dunkle Mittelalter‘ wird damit zum entlastenden ‚Magic Circle‘ der Gegenwart.

Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien

Spiele

Paradox Development Studio: Crusader Kings 2 (PC). Schweden: Paradox Interactive, 2012.
The Creative Assembly: Medieval 2: Total War (PC). Großbritannien: Sega, 2006.

Texte

Baldwin, Marshall W.: The Decline and Fall of Jerusalem, 1174–1189. In: Setton, Kenneth M.; Baldwin, Marshall W.: A History of the Crusades, Volume I: The First Hundred Years. Madison: The University of Wisconsin Press 1969, S. 590-621.
Bogost, Ian: The Rhetoric of Video Games. In: Salen, Katie (Hg.): The Ecology of Games: Connecting Youth, Games, and Learning. Cambridge, MA: The MIT Press 2008, S. 117–140.
Engelns, Markus: Spielen und Erzählen. Computerspiele und die Ebenen ihrer Realisierung. Heidelberg: Synchron 2014.
Frank, Thomas: Medieval II: Total War – Q&A mit Bob Smith von Creative Assembly. 20.03.2006. In: Sega-Portal < http://www.sega-portal.de/blog/3129/medieval-ii-total-war-qa-mit-bob-smith-von-creative-assembly/ > [27.05.2016]
Frasca, Gonzalo: Simulation versus Narrative: Introduction to Ludology. In: Mark J.P. Wolf, Bernard Perron (Hg): Video/Game/Theory. Routledge, 2003. < http://www.ludology.org/articles/VGT_final.pdf > [30.04.2016].
McLuhan, Marshal: The Medium is the Message. In Noah Wardrip-Fruin, Nick Montfort: The New Media Reader. Cambridge M.A., London: MIT Press 2003, S. 203-209.
Ohler, Norbert: Krieg und Frieden im Mittelalter. München: C.H. Beck 1997.
Ringer: Idiotic AI diplomacy. Auf: Gamefaqs.com <http://www.gamefaqs.com/boards/931592-medieval-ii-total-war/58433131> [01.05.2016].
Schwarzwald, Florian: Mord, Pest, und Verrat. Das Mittelalter in Computerspielen. In: Rohr, Christian (Hg): Alles heldenhaft, grausam und schmutzig? Mittelalterrezeption in der Populärkultur. Zürich, Berlin: LIT Verlag 2011, S. 251-263.
Zacny, Rob: How Crusader Kings 2 caught Paradox by surprise. In: PCGames-N. <http://www.pcgamesn.com/crusader-kings-ii/how-crusader-kings-2-caught-paradox-by-surprise> [01.05.2016].

Bilder

Bild cs-raynault-historisch: Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6f/ReynaldofChatillon%26PatriarchofAntioch.jpg Gemeinfreie Nutzung.
mtw-audiovisuell.gif: Hauptmenü Medieval: Total War 2, in gif- format transferiert mit www.makeagif.com
Andere Bilder: Eigene Screenshots

  1. Vgl. Ohler: Krieg und Frieden im Mittelalter. 1997, S. 49f.[]
  2. Vgl. McLuhan: The Medium is the Message. 2003, S. 203-209.[]
  3. Vgl. u.a. Engelns: Spielen und Erzählen. 2014[]
  4. Frasca: Simulation versus Narrative: Introduction to Ludology. 2003. < http://www.ludology.org/articles/VGT_final.pdf > [30.04.2016] S. 3.[]
  5. Ian Bogost hat für die spezifische Ausformung dieser Hierarchie bzw. ihrer Effekte den Begriff der ‚procedural rhetoric’ geprägt; vgl. Bogost: The Rhetoric of Video Games. 2008, S.125.[]
  6. Vgl. Frank: Medieval II: Total War – Q&A mit Bob Smith von Creative Assembly. 2006, o.S. < http://www.sega-portal.de/blog/3129/medieval-ii-total-war-qa-mit-bob-smith-von-creative-assembly/ > [27.05.2016][]
  7. Mehr zur Rolle der Stadt sowie dem Mittelalter­bild von MW 2; vgl. Schwarzwald: Mord, Pest, und Verrat. Das Mittelalter in Computerspielen. 2011, S. 259.[]
  8. Vgl. Ringer: Idiotic AI diplomacy. <http://www.gamefaqs.com/boards/931592-medieval-ii-total-war/58433131> [01.05.2016][]
  9. Vgl. Zacny: How Crusader Kings 2 caught Paradox by surprise. <http://www.pcgamesn.com/crusader-kings-ii/how-crusader-kings-2-caught-paradox-by-surprise> [01.05.2016][]
  10. Vgl. Baldwin: The Decline and Fall of Jerusalem, 1174–1189. 1969, S. 606.[]
  11. Vgl. Ohler: Krieg und Frieden im Mittelalter. 1997, S. 237, 241.[]

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Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Baumgartner, Robert: "„Totaler Krieg“ im Mittelalter: Die Umsetzung hochmittel­alter­licher Kriegs­führung durch Narration & Simulation in den Strategie­spielen Medieval II und Crusader Kings II". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 30.05.2016, https://paidia.de/totaler-krieg-im-mittelalter-die-umsetzung-hochmittelalterlicher-kriegsfuhrung-durch-narration-spielen-medieval-ii-und-crusader-king/. [28.03.2024 - 13:59]

Autor*innen:

Robert Baumgartner

Promotion zum Thema "Sinn(es)-Welten. Die Wirkungsästhetik von Computerspielwelten." (Veröffentlichung im Sommer 2021). Seine besonderen Forschungsinteressen umschließen Fantastik (in Theorie und Texten) und Computerspielforschung. Er ist Redakteur von Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung und Mitherausgeber des Sammelbandes I’ll remember this – Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. (Hülsbusch 2016).