S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl

26. März 2012

Зона відчуження Чорнобильської АЕС

 

Im November 2001 veröffentlichte der ukrainische Entwickler GSC Gameworld erste Details zu einem neuen Projekt:S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl. Der ursprünglich Oblivion Lost genannte Titel begann seine Laufbahn als linear gestalteter Egoshooter, mutierte jedoch nach kurzer Zeit zu einem völlig anderen Konzept. Der Grund: Tschernobyl. Präziser gesagt: Die nach der Reaktorkatastrophe 1986 evakuierte und bis heute radioaktiv verseuchte Zone um das NPP Chernobyl im Norden der Ukraine – nur 100 km von Kiew und somit GSC Gameworlds Studio entfernt. Im 30km umfassenden Schutzkordon befanden sich Dutzende von Dörfern und Landwirtschaftsbetrieben, Fabriken und Prypiat, eine ursprünglich 50.000 Einwohner zählende Stadt mit Hospital, Schwimmbädern und einem kleinen Vergnügungspark inklusive Riesenrad. Das gesamte Gebiet wurde von den um Geheimnisbewahrung und Schadensbegrenzung bemühten Behörden in kürzester Zeit evakuiert und unter Quarantäne gestellt, die Reaktoren des Kernkraftwerkes mit einem Betonmantel versehen; die restlichen Gebäude wurden aufgegeben und dem Verfall überlassen.
In der „Zone“ erstarrte so die Zeit: Sie konservierte den Mikrokosmos der Sowjetunion in ihren letzten Jahren.

Splinters of [the ] Soviet Empire are plentiful in Ukraine – forgotten productions, catacombs, neglected military facilities and so on. Even our office is located at an ex-military factory with no more active production. When walking around such areas you can’t but think how the time froze at this place of man-made catastrophe. 1

Bei den sogenannten „Liquidatoren“, Feuerwehrmännern und Soldaten, die auf dem stark verstrahlten Dach des explodierten Reaktors Trümmer beseitigten und Feuer bekämpften, den Mitarbeitern des Kraftwerks, Anwohnern und sogar Tieren in der Umgebung auftretende Strahlungsschäden führten zu zahlreichen Krebsfällen, Mutationen, oder im Fälle einer besonders hohen Belastung in kürzester Zeit zum Tod.

Liquidatoren bei Arbeiten auf dem Dach des Reaktorgebäudes (Die Schlieren entstanden durch Strahlungseinwirkung auf den Film)

Viele der Erkrankten wussten aufgrund der Geheimhaltung zum Zeitpunkt ihrer Kontamination nicht einmal von einer eventuellen Gefahr. Unter dem Eindruck der Geheimniskrämerei der Behörden entstanden in der Bevölkerung so schnell Verschwörungstheorien zu den Gründen und Effekten der Tschernobylkatastrophe, die durch die Unbegehbarkeit der massiv verstrahlten Reaktoren weder be- noch widerlegt werden konnten.

Eine Zone des Schweigens

Die Geheimhaltung blieb natürlich nicht auf die örtliche Bevölkerung beschränkt: Informationen über die Katastrophe drangen nach einer Nachrichtensperre ebenfalls nur zögerlich und unter politischem Druck an die Öffentlichkeit in den restlichen Staaten des Ostblocks und dem Rest der Welt. Gleichzeitig existierte natürlich – unabhängig von der politischen Zugehörigkeit der betroffenen Länder – ein gewaltiges Bedürfnis nach Informationen zu Ursachen und Ausmaßen der Katastrophe: Denn auch wenn die ukrainische Regierung vor allem in den ersten Tagen die Verbreitung von Informationen verhindern konnte, gelang ihr dies eben tragischerweise nicht mit den radioaktiven Partikeln, die der Wind über Mauern, Zäune und Grenzen durch ganz Europa trug, und welche klar von westlichen Laboren und Messgeräten gemessen werden konnten.
Vor allem in den ersten Monaten nach der Katastrophe wurde Tschernobyl zum Dauerthema westlicher Medien und Politik. Besonders in Deutschland führte die Unsicherheit über den Strahlungsunfall zu hektischer Aktivität: Tägliche Strahlungsmessungen und die detaillierte Auseinandersetzung mit den Neuigkeiten aus Tschernobyl beherrschten die Medienlandschaft; politische Maßnahmen reichten von der Sperrung von Spielplätzen, über die Vernichtung möglicherweise verseuchter Milch- und Landwirtschaftsprodukte, bis zur Gründung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und dem Abbruch geplanter Atomkraftwerksprojekte.
Aber auch wenn „Tschernobyl“ selbst als abstraktes Symbol in unser kulturelles Gedächtnis integriert wurde, nahm die Beschäftigung mit dem konkreten Ort – dem NPP, der Stadt Prypiat, schließlich der gesamten Chornobyl's'ka zona – immer weiter ab, bis das Gebiet selbst sich in eine Zone des Schweigens verwandelte. Die Langzeitfolgen für die zahlreichen Bewohner der betroffenen Gebiete der Ukraine, Russlands und Weißrusslands, die evakuierten Bewohner der Zone und die bis aus Kasachstan herbeigeholten Liquidatoren, wurden neben anderen Ereignissen wie der langsamen Auflösung der Sowjetunion, der deutschen Wiedervereinigung oder dem Golfkrieg zur Nebensache. Sie wanderten allmählich in immer kleinere Artikeln in Nebenspalten ab und verschwanden schließlich bis auf bestimmte Jahrestage ganz aus den westlichen Medien.
Knapp 20 Jahre später erschien ein Videospiel, das dem Spieler die Erforschung der Zone erlaubt....in einer sehr eigenwilligen fiktionalisierten Form. Die reale Zone wird zur Basis für eine neue Welt: Die vergessene Sowjetvergangenheit wird in die Zukunft verwandelt, Gefahren werden aufs extremste überhöht; groteske Mutanten kämpfen mit halsabschneiderischen Banditen einen brutalen Kampf ums Überleben in den verstrahlten Ruinen Prypiats.
Es stellt sich schnell die Frage: Ist dies der angemessene Umgang mit der Tragik der Tschernobylkatastrophe? Kann ein Videospiel – vor allem aus dem verrufenen Genre der Egoshooter– einen bedeutsamen Beitrag zur Rezeption des Ereignisses für westliche Spieler leisten? Für die Untersuchung dieser Frage wird es notwendig werden, tiefere Einblicke in S.T.A.L.K.E.R. zu gewinnen. Wenn wir einen Blick auf Inspiration, Entwicklung, Geschichte und Spielmechanik des Spieles werfen, das Spiel gleichsam wie die in ihm präsentierte „Zone“ erforschen, stoßen wir vielleicht ebenfalls auf Artefakte … und Antworten.

Inspirationen

In dieser Form konnte S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl erst durch durch zwei Vorbilder entstehen, die beide auf ihre Weise außerhalb der Masse der sowjetischen Film- und Literaturproduktion der 1970er Jahre standen. Der Roman Picknick am Wegesrand (Arkadi und Boris Strugazki, 1972) und der Film Stalker (Andrej Tarkowski, 1979) beschreiben eine (nicht näher lokalisierte) „Zone“, in der nach unerklärlichen Vorfällen das Leben für Menschen unmöglich wird. Die Gesetze der Physik verlieren ihre Gültigkeit, Strahlung und unsichtbare Raumverschränkungen bedrohen das Leben von Eindringlingen ebenso sehr wie die staatlichen Sicherheitseinheiten. Diese halten die Zone unter strenger Bewachung, um die Suche nach mysteriösen, von den (außerirdischen) Verursachern der Katastrophe zurückgelassenen Artefakte zu vereiteln. Dennoch schleichen sich immer wieder Individuen in die Zone: 'Stalker' schmuggeln diese besonderen Gegenstände durch den Militärkordon und dienen als Führer für Pilger auf der Suche nach einem ganz besonderen Artefakt: einer Kugel, die im Zentrum der Zone liegen soll und die demjenigen, der sie erreichen kann, alle Wünsche erfüllt. Auf abstrakter Ebene bilden beide Vorlagen einen einfühlsamen, aber letztendlich pessimistischen Kommentar zur menschlichen Natur, die zwischen Gier, Aufopferung und einer letztendlich für die Spezies tödlichen Lernunfähigkeit angesichts der selbst begangenen Fehler aufgerieben wird. Beide ließen jedoch (angesichts der Zensur für sowjetische Schriftsteller) auch direkter gehaltene gesellschaftskritische Lesarten zu:

The zone of Roadside Picnic was seen by many as an allegory for the entire Soviet experiment: not simply in the literal sense of the poisoned landscapes created by the industrial excesses of the region, but the entire social order that was created by the Communist government. Polluted expanses, continually washed by acid rain, became shorthand for describing the bizarre political situation of a country in which Communism had failed, and yet robotically continued. 2

 

Die Zone in Tarkowskis Stalker schließt direkte Bedrohungen aus. Langsame und eindringliche Kameraeinstellungen zeigen die wenigen Figuren in surreal anmutenden Räumen, die Bedrohung für die Pilger kommt genauso stark aus den skelettierten Ruinen ihrer Umwelt wie aus ihrem eigenen Inneren.

 

Die Story des Spiels

S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl kombiniert diese Motive mit der realen Schutzzone und adaptiert sie für die Notwendigkeiten eines Videospieles – das primär durch Interaktion mit der Welt erzählt. So darf es nicht verwunderlich sein, wenn die nach innen gerichtete Selbstbetrachtung der literarischen und filmischen Vorbilder nach außen gerichtet wird. Die Gefahren der Zone werden sichtbar und konkret, die ausgestorbene Landschaft erhält eine neue, groteske Bevölkerung.
Tschernobyl wird im Jahr 2006, 20 Jahre nach dem ersten Vorfall zum zweiten Mal zum Schauplatz einer Katastrophe: Aus ungeklärten Gründen kommt es zu einer Explosion der noch unbeschädigten Reaktoren des NPP. 3 Die inzwischen teilweise wieder gesäuberte Zone wird radikal verändert: Die Gesetze der Physik verlieren ihre Gültigkeit, alles menschliche oder tierische Leben in der Umgebung getötet oder deformiert. Jahre später: Sogenannte Stalker (Scavenger, Trespasser, Adventurer, Loner, Killer, Explorer, Robber) durchstreifen trotz eines militärischen Kordons und tödlicher Gefahren in der Gestalt von Mutanten, Säuberungskommandos der Regierung, massiver Radioaktivität und mysteriöser Anomalien die Sperrzone auf der Suche nach Artefakten, für deren Besitz reiche Sammler und Wissenschaftler Vermögen bezahlen. Trotz vieler Verluste strömen immer neue Glücksritter, Söldner und Kriminelle in die Zone, alle in der Hoffnung,durch ihre Suche in den Ruinen reich zu werden. Manche munkeln von einem Objekt im Zentrum der Zone: einem Obelisken, der alle Wünsche erfüllt.
Der Spieler findet sich in der Haut eines namenlosen Stalkers, von anderen aufgrund eines Tattoos nur „Marked One“ genannt, der neben seiner Ausrüstung auch sein Gedächtnis verloren hat. In seinem PDA findet er nur einen Eintrag: „Finde und töte einen Stalker namens Strelok“. Die Suche nach Strelok (Russ. f. „Streuner“) führt ihn vom Rand der Zone über windige Ebenen, bis an den Rand mit Mutanten gefüllte Laboratorien und den Ruinen von Prypiat bis ins verstrahlte Herz des NPP Chernobyl, wo er die Hintergründe seiner Amnesie und der zweiten Explosion des Kraftwerks erfährt – beziehungsweise erfahren KANN.

„I want to be rich!“ *Splorch*

Es gibt nämlich neben zwei „wirklichen“ auch fünf „falsche“ Enden, die zum Tod des Protagonisten führen können. Sollte der Spieler im letzten Level ohne weiter nachzudenken zum vorgeblichen Ziel seiner Reise, dem „Wunscherfüller“, vordringen, übersieht er leicht ein versiegeltes Tor, hinter dem sich (nach dem Öffnen mit einem in Prypiat gefundenen Decoder) die eigentliche Erklärung für seine Identität verbirgt – und noch ein weiteres Level. Jedes der „falschen“ Enden wird durch die vom Spieler im Verlauf der Kampagne getroffenen Entscheidungen (Geldanhäufung, getötete menschliche Gegner, Verhalten gegenüber den verschiedenen Stalker-Fraktionen) beeinflusst und lässt den Protagonisten in der Endsequenz einen Wunsch aussprechen, der vom sprichwörtlichen Wunscherfüller in sein Negativ verzerrt wird.
http://www.youtube.com/watch?v=0YOeH1uW0KU&feature=player_embedded
Das verlinkte Ende wird beispielsweise ausgelöst, wenn der Spieler eine absurd große Menge an Geld angesammelt hat.
Das Spiel schließt also aus dem exzessiven (unter Rollenspielern als „Stiefelklau-Syndrom“ bekannten) Anhäufen von Gegenständen darauf, dass die hervorstechende Eigenschaft dieser Ausgabe des Gezeichneten eine Gier ist, die ihn alles andere, auch die Suche nach seiner Identität und dem Mysterium von Tschernobyl, vergessen lässt – und der er letztendlich zum Opfer fällt. Die anderen Enden lassen ihn erblinden („I want the zone to disappear!“), verwandeln ihn in eine Metallstatue („I want immortality!“) oder löschen ihn bzw. die Menschheit aus ( „Humanity is corrupt, mankind must be destroyed!“). In der Tat werden die meisten Spieler vermutlich zuerst eines der falschen Enden erhalten – wer den typischen Instinkten des Egoshooters („Töte alle Gegner!“) oder Rollenspieles [„Sammle und verkauf so viele Gegenstände wie möglich! Töte alle Gegner!“ (dieses Mal für Erfahrungspunkte/ Geld)] folgt, bekommt von Shadow of Chernobyl eine Bestätigung des Versagens ausgehändigt.
In dieser Kritik kommt es zu überraschenden Synergien mit den Motiven des Romans Picknick am Wegesrand und des Films Stalker: Menschen wie diese Ausgabe des Gezeichneten bringen durch ihre Entscheidungen nicht nur sich, sondern auch ihrer Umwelt den Untergang.

Ehrgeiz

We set our mark very high – the game ought to be the best in everything. We targeted creating the best engine, attaining realistic graphics, developing innovative concepts and delivering innovations to the genre. 4

Der in diesem Zitat ausgedrückte Perfektionismus erinnert nicht umsonst an Aussagen der Designer von 3D Realms, den Entwicklern des nach einer legendären Wartezeit von 13 Jahren erschienenem Duke Nukem Forever. S.T.A.L.K.E.R. war ein überaus ambitioniertes Projekt, das nichts weniger als eine Revolution bis dahin existierender Genrekonventionen im Bereich der Egoshooter anstrebte: Im Gegensatz zu den linearen und engen Levels der meisten bis dahin erschienenen FPS-Titel, die sich zudem stark auf gescriptete (also vom Spiel an bestimmten Punkten ausgelöste) Ereignisse zur Spannungssteigerung verließen, setzte S.T.A.L.K.E.R. auf die Kombination weitläufiger und frei begehbarer Level, eines dynamischen Zeitablaufes mit Tag- und Nachtwechsel und einer hochentwickelten K.I. Gemeinsam sollen all diese Elemente die Zone zu einer höchst immersiven, von fremdartigen Leben sprießenden Welt machen.

Postapokalypse Now

Die Zone (Klick für Vergrößerung)

Das 30 Quadratkilometer großes Areal ist in verschiedene Einzellevel aufgeteilt (Cordon, Agroprom, Garbage, The Dark Valley, etc.), welche jeweils besondere topographische oder architektonische Eigenschaften haben. Besonders die später erreichten Levels, Prypiat und das NPP selbst, wurden von GSC peinlichst genau nach hochauflösenden Photographien nachgestaltet.
Statt den Spieler wie eine Ratte in einer Versuchsanordnung durch eine Reihe enger Plastikröhren mit an strategischen Stellen platzierten Bedrohungen und Belohnungen zu schicken, entlässt S.T.A.L.K.E.R. ihn nach einem kurzen Tutorial in die offene Welt der Zone, wo er frei und ungebunden umherziehen kann. Als Erklärung für Levelgrenzen und Kontrollinstanz zum Betreten neuer Gebiete dienen Radioaktivität und Anomalien, die den Protagonisten ohne die richtige Schutzausrüstung innerhalb kurzer Zeit schwächen oder töten können. Das Erwerben und Modifizieren von Ausrüstung wird so von einer pur mechanischen Min/Maxing- (das Maximum an Vorteilen bei einem Minimum an Nachteilen) Entscheidung zu einem notwendigen Element, um in der Story des Spieles fortzufahren.

In der Wirklichkeit

In S.T.A.L.K.E.R.

 

Dennoch gibt es in S.T.A.L.K.E.R. auch lineare Bereiche. Verlassene Untergrundlaboratorien und verstrahlte Tunnels werden zum klaustrophobischen Konfrontationsort mit lichtscheuen Mutanten und poltergeistartigen Anomalien, die – selbst unsichtbar – den Gezeichneten mit im Level umherstehenden Kisten und Fässern bewerfen können. Ohne ersichtlichen Grund in der Dunkelheit von umherschwebenden Gegenständen verletzt zu werden, während irgendetwas von draußen die stählernen Sicherheitstore des Raumes fast aus ihren Angeln schlägt, wird nur wenige Spieler kalt gelassen haben. Dass besonders in diesen Abschnitten Medipacks und Munition zur Mangelware werden, ist sicherlich kein Zufall: Der eng kontrollierte (oft gescriptete) Raum im Untergrund wird gleichfalls zum Laboratorium für den Horror, der Spieler zur gefangenen Ratte.

Alife – Die Zone lebt!

Hund beißt Mann?...Mannhund beißt...???

Angesichts dieser Klaustrophobie einflößenden Konfrontation mit dem Unbekannten wird eine Rückkehr an die Oberfläche zur Erleichterung. Denn so gefährlich das Leben an der Oberfläche auch sein mag – den Bewohnern der Wälder und Ruinen lässt sich zumindest gemäß der Devise „If it bleeds, we can kill it!“ mit den zur Hand gegeben Mitteln der Garaus machen. Vorsicht ist jedoch trotzdem geboten: Die potentiellen Ziele sind zahlreich, bewaffnet und gefährlich, überraschend intelligent und so gut wie nie allein unterwegs. Beschwerden frustrierter Spieler über die unberechenbaren und tödlichen Begegnungen mit der örtlichen Bevölkerung sollten sich jedoch nicht an das Tourismusamt von Prypiat richten, die dafür verantwortliche (und nicht über den Rechtsweg zu erreichende) Instanz nennt sich Alife.
Die sogenannte ALife Engine ist dafür ausgelegt, das Leben von bis zu 1000 NPCs in der Zone zu simulieren. Computergesteuerte Stalker durchwandern allein oder in Gruppen die Gegend, durchsuchen Ruinen nach Artefakten und suchen sich ein Nachtlager – auch gerne in einer der festen Basen, wo man sie in der Nacht beim Trinken oder Gitarrespielen am Lagerfeuer beobachten kann. Mutierte Tiere (beispielsweise Hunderudel) streifen durch die Level, jagen „Flesh“ genannte Mutanten, deren deformierte Körper nur noch entfernt mit ihrer Herkunft aus Zuchtschweinen in Verbindung gebracht werden können, oder ruhen im hohen Gras. Dasselbe gilt für Banditen und gefährliche Mutanten wie die teilweise unsichtbaren und besonders des Nachts zur Jagd aus ihren Verstecken kommenden Bloodsuckers – hünenhafte Bestien, die einen unvorbereiteten Stalker ohne Probleme töten können. Da all diese Entitäten sich gleichzeitig in der Zone bewegen, kommt es ständig zu Konfrontationen und Kämpfen, in die der Spieler involviert werden kann.

Jede Situation kann zum Feuergefecht eskalieren

Eine typische Situation wäre folgende: Eine Gruppe patrouillierender Stalker der „Duty“-Fraktion stößt nach einem Kampf gegen eine Militäreinheit auf ihrem Rückweg zur Basis auf ein Team der „Freedom“-Fraktion. 5Ein Feuergefecht beginnt, dessen Lärm nicht nur den Spieler, sondern auch ein Rudel in der Nähe schlafender (natürlich blinder, mutierter) Hunde anzieht. Greift der Spieler ein und feuert auf die Angehörigen einer Fraktion, werden ihn die Überlebenden der anderen Seite höher schätzen und vielleicht sogar ihre Beute teilen. Sollte der Spieler sich jedoch nicht beeilen um einer Seite beizustehen, erwartet ihn ein Feld voller Leichen, denen (falls eine Gruppe Stalker gewinnt) die wenigen Überlebenden Waffen und Munition abnehmen. Sollten die Hunde auch über diese hergefallen sein, genügen hoffentlich einige Warnschüsse, um die verwundeten Tiere zum kurzfristigen Rückzug zu bewegen und sich selbst die Munition und Strahlenmedizin der gefallenen Stalker anzueignen.

Aus den Taschen der Toten leben – Inventar Management in der Postapokalypse

The S.T.A.L.K.E.R. Experience (TM)

Ein solch räuberisches Verhalten ist auch notwendig, denn die Zone ist ein tödliches Gebiet, das nur durch die strenge Überwachung der eigenen Vorräte (und das Beherrschen der Schnellspeicherfunktion) erfolgreich durchquert werden kann. An Allem herrscht Mangel: Munition, Strahlenmedikamente, Medipacks und Blutungen stoppende Verbände werden besonders auf den höheren Schwierigkeitsgraden schnell knapp, die meist schon älteren Waffen aus den Sowjetarsenalen (von Pistolen bis zur RPG-7 Panzerabwehrwaffe) verweigern manchmal schon nach kurzer Zeit den Dienst und müssen gegen minderwertige, bei Gegnern gefundene Ersatzwaffen ersetzt werden.
Die Leichen von (menschlichen) Gegnern werden angesichts dieser (wieder sehr sowjetischen) Mangelwirtschaft zu dringend benötigten Munitionspacks. Deshalb sollten diese Gegner auch so schnell wie möglich ausgeschaltet werden, bevor sie die wertvolle Munition im Kopf des Gezeichneten versenken können. Mutanten und Tiere sind auf dieser rein mechanischen Ebene unwillkommene Gegner, denn anders als in vielen Rollenspielen (besonders der Hack & Slay-Untergruppe, siehe Diablo II) lassen diese meist keine nützlichen Gegenstände fallen – jeder auf sie verwendete Schuss muss gut überlegt sein.
Das Plündern von Leichen wird also in einem gewissen Ausmaß zur Notwendigkeit für das eigene Überleben, der Spieler wird in der gnadenlosen Umwelt der Zone zu einem Geier unter vielen.

Die Umverteilung der Produktionsgüter, Version 2.0

Natürlich ist man nicht nur auf die Leichen der Gegner angewiesen: Es gibt einige wenige, in der Zone verteilte Händler, die hinter schweren Stahltüren ein großes Sortiment an Tötungswerkzeugen und Wodka feilbieten. Sie sind die Hauptanlaufstelle für erbeutete Wertgegenstände und verkaufen dringend benötigte Vorräte und Upgrades, sind aber weit von den gefährlicheren und gewinnversprechenden Gebieten der Zone entfernt. Und auch wenn der Handel mit freundlichen Stalkern, das Plündern von Leichen und immer wieder aufzustöbernde Geheimverstecke die Vorräte des Gezeichneten wieder auffüllen, bleibt es doch immer eine der Hauptherausforderungen des Spieles, mit dem Mangel zurechtzukommen – auch in umgekehrter Hinsicht: Selbst die größte geplünderte Menge an Ausrüstung und Munition kann durch das begrenzte Inventar nur ansatzweise geplündert werden. Will man sich nicht komplett überladen, um im Schneckentempo zur Zielscheibe für Banditen und Mutanten zu werden, gilt es sorgfältig zwischen den verschiedensten Gegenständen auszuwählen: Habe ich für diese Waffe auch später genug Munition? Wird man mir dieses Artefakt abkaufen? Wie viel Wodka ist zu viel Wodka (Vorsicht, Fangfrage!)? Der Rest muss zurückgelassen werden... es sei denn, man gehört zu den Spielern, die die nächste Viertelstunde (unter intensiver Nutzung der Schnellspeicherfunktion) damit verbringen, vollgepackt von der Fundstelle zum Händler und wieder zurückschleichen, um auch den letzten Laib Schwarzbrot in Rubel zu verwandeln; dieser Art von Spielstil trägt Shadow of Chernobyl jedoch wie vorher besprochen durch das „I want to be rich!“ Ende Rechnung.

And GSC saw everything that they had made, and, behold, it was very buggy

Nach geschlagenen sieben Jahren erschien S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl schließlich auf dem PC. Die Reaktion der Kritik war größtenteils positiv. Auch wenn das Spiel (besonders zu Beginn) von Bugs geplagt wurde, seine Story relativ inkohärent erzählte und bei weitem nicht alle revolutionären Neuerungen liefern konnte, die von GSC Gameworld im Lauf der 7-jährigen Entwicklung versprochen worden waren, überzeugte S.T.A.L.K.E.R die Rezensenten durch die Erschaffung einer atmenden und lebenden grotesken Welt, in der übernatürliche Schönheit und alptraumhafter Horror sich im Kopf des Spielers vermischen.

 

Das Erbe der Zone

Glücklicherweise wurde S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl zu einem kommerziellen Erfolg und spielte die hohen Entwicklungskosten, die den Entwickler GSC Gameworld fast ruiniert hätten, wieder ein. Angespornt durch das große Interesse westlicher Spieler an diesem neuen Schauplatz und den eigenen Ehrgeiz, ihre Vision der Zone vollkommen zu verwirklichen, setzten die Spielentwickler von GSC ihre Arbeit an der S.T.A.L.K.E.R.-Reihe fort. Auf Shadow of Chernobyl folgten Clear Sky (2008) und Call of Prypiat (2009), ein weiteres Spiel (S.T.A.L.K.E.R.II) war bis zu GSCs Auflösung im Dezember 2011 geplant.
Doch S.T.A.L.K.E.R. bleibt auch unabhängig von den Entwicklern im kulturellen Gedächtnis: Obwohl GSC nicht mehr als Entwickler existiert, sind die Online-Foren zu den Titeln der Reihe nach wie vor stark besucht; S.T.A.L.K.E.R.-Merchandise und in der Zone angesiedelte Romane verkaufen sich prächtig. Eine große Gemeinschaft von Fans erstellt und aktualisiert ständig neue Mods (also Erweiterungen, welche das Spiel graphisch und mechanisch verbessern), von denen manche wie Oblivion Lostschon fast eben solange entwickelt werden und auch eine dementsprechende Größe entwickelt haben wie die Hauptspiele selbst. Alle Aspekte der Spiele werden verändert oder aktualisiert: Von neuen verbesserten Regenanimationen und Landschaftstexturen, über Waffen und aus der Verkaufsversion des Spiels gestrichene Areale bis hin zu extra neu eingespielten Gitarrenliedern, denen Stalker (ob NPC oder Spieler) am Lagerfeuer lauschen können.

"Wohin rollst du, Äpfelchen?" (Klick für Gitarrensongs aus dem Spiel)

“I said come in, don't stand there.”

Doch der Sog der Zone bleibt nicht nur auf die digitale Welt beschränkt: Russische und ukrainische LARP-Gruppen (LARP = Life-Action-Role-Playing) haben das S.T.A.L.K.E.R-Universum für sich entdeckt. Mit Gasmasken, Strahlenschutzanzügen und (hoffentlich nicht tödlichen) Waffen ausgerüstet, verwandeln sie die verlassenen Industrieruinen und Sowjetartefakte ihrer Heimat in einen Spielplatz.

Ausruhen bei der Entdeckung der Zone

 

Ein mit Photoshop bearbeitetes Bild der LARPer: Realität und Imagination verlaufen

Oblivion Lost?

Damit schließt sich der Kreis: Die Zone aus S.T.A.L.K.E.R – selbst ein Produkt teilweise vergessener bzw. verdrängter realer Ereignisse – wird zu einer neuen semantischen Schablone, die es besonders einer jungen, selbst nicht mit dem Reaktorunfall in Berührung gekommenen Generation ermöglicht, Tschernobyl und die Zone für sich selbst begreifbar zu machen. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass dabei die Gefahr besteht, dass das Simulacrum (also das medial vermittelte Scheinbild) der „Zone“ wiederum die komplizierten, oft unklaren und unschönen Details der realen Geschichte überlagert. Bei aller Fiktionalisierung wird der eigentliche Kern der Zone von S.T.A.L.K.E.R jedoch nicht angetastet: Sie wird nie zu einer, aus anderen Egoshootern bekannten Arena, die auf ihre Eroberung bzw. Säuberung wartet und mit der besten Waffe problemlos dominiert werden kann. Stattdessen birgt die Zone hinter ihrer wilden Schönheit Schrecken und Grauen, ständige Unsicherheit, Gewalt und Mangel. Dabei wird das Erforschen der „Zone“ durch die Spielemechanik und Erzählung – ähnlich wie in den Vorbildern – auch zu einem Erforschen des Inneren: Die Erkenntnis der Ursachen der (fiktionalen) Katastrophe ist ebenso wie das erfolgreiches Erinnern der Vergangenheit (der Hauptfigur) nur dann möglich, wenn Protagonist wie Spieler die Erkundung der Zone zu ihrer Hauptaufgabe machen und auch im Überlebenskampf nicht in Automatismen verfallen.

  1. Anton Bolshakov, im Interview mit Rock, Paper, Shotgun. http://www.rockpapershotgun.com/2007/12/10/stalker-interview/[]
  2. Jim Rossignol: GHOSTS OF THE FUTURE: BORROWING ARCHITECTURE FROM THE ZONE OF ALIENATION, auf BLDGBLOG: http://bldgblog.blogspot.com/2010/05/ghosts-of-future-borrowing-architecture.html[]
  3.  Nucler Power Plant[]
  4.  http://www.rockpapershotgun.com/2007/12/10/stalker-interview/[]
  5. „Duty“ sieht die Zone als Gefahr für die Menschheit und tut ihr möglichstes, um die Verbreitung von Artefakten zu unterbinden, „Freedom“ strebt eine Öffnung der Quarantäne zur Außenwelt an, um das Leben aller Menschen mit den Erkenntnissen der Erforschung der Zone zu verbessern.[]

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Baumgartner, Robert: "S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 26.03.2012, https://paidia.de/retro-review-s-t-a-l-k-e-r-shadow-of-chernobyl/. [21.11.2024 - 11:20]

Autor*innen:

Robert Baumgartner

Promotion zum Thema "Sinn(es)-Welten. Die Wirkungsästhetik von Computerspielwelten." (Veröffentlichung im Sommer 2021). Seine besonderen Forschungsinteressen umschließen Fantastik (in Theorie und Texten) und Computerspielforschung. Er ist Redakteur von Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung und Mitherausgeber des Sammelbandes I’ll remember this – Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. (Hülsbusch 2016).