Journey - Der Weg ist das Ziel

19. Dezember 2012

Es dürfte wohl kaum jemanden überraschen, dass die Campbellsche Helden­reise 1 für Journey besonders zentral ist. Die Handlung folgt einer Art Archeplot, der sich jedoch nur schwer mit der typischen Reise des Helden in Verbindung bringen lässt, da der Ausgangspunkt der Reise sich erst im Nach­hinein offenbart und sich somit zu Beginn keine Grenzüberschreitung nach Lotman 2 nachweisen lässt. Normalerweise beginnt die Heldenreise, indem der Held die Grenze des vertrauten semantischen Raumes seiner Heimat überschreitet, um sich in einem fremden, potentiell gefährlichen Raum einer nicht näher definierten Herausforderung zu stellen. 3 In Journey fehlt dieser Aufbruch aus der Heimat, stattdessen beginnt die Handlung bereits mit dem Weg. Somit empfiehlt es sich vielleicht, von einer Pilger- anstatt von einer Heldenreise zu sprechen (wobei das Modell auch für Journey eine gewisse Gültigkeit besitzt), und diese Reise führt durch die Wüste zu einem Berg, dessen Inszenierung keinen Zweifel daran auf­kommen lässt, dass es sich um einen heiligen Berg handelt.
Wer ist der Pilger? Eine zierliche Gestalt in einem roten Umhang. Sein Gesicht: Eine ovale Scheibe, schwarz wie Ebenholz, mit einem Paar weiß glühender Augen und einem waagrechten gelben Balken anstelle von Augenbrauen, der auch ein goldener Stirnreif sein könnte. Nase und Mund sind nicht vorhanden und lassen somit keine Deutung von Emotionen zu. Einige Rezensenten sehen in diesem Ensemble eine Maske – doch warum sollte ein Wesen mit den spitz zulaufenden Beinen einer Origamifigur, das allem Anschein nach völlig ohne Arme auskommt, kein solches Gesicht haben?

Abb. 1: Der Avatar / Pilger

Die Erscheinung des Pilgers ist ungewöhnlich, ungewöhnlicher allerdings ist, dass es sich bei dem Pilger um die Spielfigur handelt. Pilgerfahrten sind gerade im Fantasygenre durchaus verbreitet, doch zumeist sind es NPCs, die pilgern – etwa in The Elder Scrolls V - Skyrim zu dem (vom Spieler) wieder­hergestellten Güldengrünbaum vor dem Heiligtum der Kynareth in Weißlauf oder im Witcher zum im Sumpf gelegenen Schrein der Melitele. Der Avatar mag auf denselben Pfaden wandeln wie diese NPCs oder diese sogar be­glei­ten, doch im Gegensatz zu ihnen pilgert er nicht, sondern tut, was er immer tut: Er eignet sich Raum an, indem er ihn von feindlichen Elementen säubert. Erfordert die Handlung vom Avatar spirituelle Kompetenz, so gibt es ge­wöhn­lich einen „Crashkurs“.

Als Teil Eurer Einführung wird Meister Einarth Euch an seinem Verständnis von ROH teilhaben lassen. 4

So informiert das Oberhaupt der Graubärte, einem Orden von Einsiedler­mönchen, den Spieler im Zuge der Quest „Der Weg der Stimme“. Und schon beherrscht die Spielfigur den Drachenschrei ROH. Was die Mönche Jahr­zehnte der Übung und der Meditation gekostet hat, lernt der Avatar in einer halben Minute. Denn natürlich – er hat keine Zeit. Er muss schließlich die Welt retten.
Wenn es in Journey je eine Welt gab, die von einer zierlichen Gestalt in Rot gerettet hätte werden können, so ist sie schon längst untergegangen. Nur die gewaltigen Ruinen, die an indische oder islamisch geprägte Architektur erinnern, künden noch von einer hoch entwickelten Zivilisation. Insofern lastet auf den Schultern des Avatars keine große Verantwortung. Vorstellbar ist, dass er ein Nachkomme des Volkes der Ruinen ist, das nach einem schreck­lichen Verbrechen, das sich in den bildlich-erzählerischen Passagen nur andeutet, in die Wüste versprengt wurde, und der nun zurückgekehrt ist, um auf den Spuren seiner Ahnen die Reise zum heiligen Berg seines Volkes anzutreten.
Womit das Verhängnis begann, wird nicht völlig klar, beziehungsweise bleibt teilweise der Interpretation des Spielers überlassen. Auf den bewegten Wand­fresken, die in Journey konkrete Erzählung ersetzen, wird es sym­bolisiert durch das Zerreißen eines roten Bandes zwischen zwei weiß gekleideten Gestalten, die der Mentorfigur, welche uns die Szenen sehen lässt, aufs Haar gleichen und auch dem Avatar trotz seines roten Mantels stark ähneln.

Abb. 2: Das Zerreißen des roten Stoffes als Sinnbild für das Zerwürfnis

Vielleicht ging es in dem Streit um die begrenzte (?) Ressource des wundersamen Stoffes, der gleichzeitig ein Geschenk des Berges (bzw. der durch den Berg repräsentierten göttlichen Instanz) als auch die kulturelle Grundlage für die Blütezeit des Ruinenvolkes darstellt. Im Folgenden gewinnt man Eindrücke eines Krieges, Bruder gegen Bruder, doch keine echte Gewissheit.

Abb. 3: Darstellung des Krieges mit großen Maschinenwesen

Der Stoff, aus dem alles gemacht ist

Fest steht jedenfalls: Es gibt Monster entlang des Weges, die unverkennbar technischer Natur sind (die Kriegsmaschinen von den Fresken) und die es auf den einzigen Besitz des Pilgers abgesehen haben, an dem sein Herz hängt und den er vor dem Ende doch verlieren muss: seinen Schal, der aus eben jenem magischen Stoff ist, der auf den Abbildungen zerrissen wurde und der sich als buchstäblicher roter Faden durch das ganze Spiel zieht. 5 Bedeckt ist er mit an simple QR-Codes erinnernden Leuchtzeichen, die es dem Avatar ermöglichen, über kurze Strecken zu fliegen, jedoch im Flug ab­blät­tern und nur durch den Kontakt mit Wasser (in der Wüste selten) oder Ob­jek­ten aus demselben merkwürdig vitalen Material, aus dem die Kleidung des Avatars besteht, wiederhergestellt werden können.
Streng genommen gibt es in der Spielwelt kein Leben, denn alles Leben, dem man begegnet, besteht aus beschriebenem roten Stoff, der ein wenig nach tibetanischen Gebetsfahnen aussieht: Pflanzen, Tiere – vielleicht sogar der Avatar selbst; wenigstens aber seine Kleidung.

Das erste größere Stoff-Geschöpf, dem man begegnet – eine Art fliegender Teppich – muss erst einmal aus seinem vom Sand verschütteten Gefängnis befreit werden, dann jedoch umtanzt er den Pilger übermütig und fliegt voraus, um ihm den Weg durch die Dünen zu zeigen.

Glücksdrachen [...] sind Geschöpfe der Luft und der Wärme, Geschöpfe unbändiger Freude, und trotz ihrer gewaltigen Körpergröße so leicht wie eine Sommerwolke. Darum brauchen sie keine Flügel zum Fliegen. Sie schwimmen in den Lüften des Himmels wie Fische im Wasser. 6

Abb. 4: Drachen- oder walartiges Stoffwesen

Besser könnte man die Teppichwesen aus Journey kaum beschreiben. Sind es schließlich zehn oder mehr, so begreift man: Sie sind die Delfine dieser Welt. Fröhlich zirpend fliegen sie voraus, tauchen in den Sand ein und tragen den Pilger auch schon mal ein Stück, nur um dann wieder ihrer Wege zu ziehen.

Von diesen Wesen gibt es noch andere Arten. Die kleinsten erinnern an Schwarmfische – zu klein und zu zahlreich, um als Individuen wahr­ge­nom­men zu werden – die größten an Hammerhaie oder Blauwale, oder eben an Drachen: solche wie den Glücksdrachen Fuchur, aber auch an solche, die man an einer Leine in die Lüfte steigen lässt. Die ebenfalls drachenartigen Kriegsmaschinen der Ahnengeneration stellen offenbar eine Perversion dieser Wesen dar. Letzteren können selbst Eis und Schnee nichts anhaben, wohingegen die Stoffwesen, ganz wie Michael Ende über Glücksdrachen schreibt, Geschöpfe der Wärme sind. Der Kälte des heiligen Berges aus­ge­setzt, stürzen sie ab, und bewegen sich nicht mehr. Eine Warnung, die den Pilger jedoch nicht zur Umkehr bewegen kann, denn er hat eine Mission – so rätselhaft sie auch sein mag.
Am Ende der Erzählung vom Krieg unter den Ahnen sind viele, wenn nicht alle, gefallen. Der Sand deckt die Toten zu, nur ihre Grabsteine ragen noch aus der Wüste, und der Berg sendet eine kleine Gestalt im roten Mantel zur Erde herab – zweifellos der Avatar. Er wirkt kleiner als die weißen Gestalten, doch man würde aufgrund der herausgehobenen Bedeutung des roten Stoffes für die Mythologie von Journey wohl sagen, er sei der Auserwählte – gäbe es nicht auf den Wandbildern mehrere kleine rote Gestalten.

Du musst es nicht allein schaffen

Abb. 5: Zwei Spieleravatare bei gemeinsamer Meditation

Der Mehrspielermodus von Journey ist kein aufgesetztes Zusatzfeature, wie es zum Teil bei anderen Spielen der Fall ist. Er ist integraler Bestandteil des Spielprinzips. Zu jedem Zeitpunkt der Reise wird dem Spieler ohne explizite Ankündigung ein anonymer Mitspieler zugeteilt. Verliert er ihn aus den Augen, so wird ihm die Position seines Mitspielers zunächst noch durch einen hellen Schein am Bildschirmrand angezeigt, wird der Abstand jedoch zu groß, bekommt er einen neuen, ohne dass der Wechsel sofort offen­sicht­lich würde, denn es gibt keine Möglichkeit, verbal miteinander zu kom­muni­zieren.
Journey reduziert alle sonst üblichen Kommunikationsmöglichkeiten radikal auf einen beim entsprechenden Tastendruck ertönenden melodischen Klang, der in der Tonhöhe wechselt und in seiner Länge variierbar ist. Seine visuelle Entsprechung findet dieser Ton in einer sich plötzlich um den Avatar ausdehnenden weißen Kuppel, die mit Verklingen des Tons sofort wieder erlischt. Diese Kuppel ist mit einer leuchtenden Glyphe versehen, wie man sie überall im Spiel findet, und die als persönliche Signatur die einzelnen Wegbegleiter unterscheidbar macht. Bei den fliegenden Teppichen, die ansonsten auf genau dieselbe Weise mit den Spielern sowie untereinander kommunizieren, fehlt dieses individualisierende Merkmal, was vermutlich auf ihren Status als 'Tiere' oder auch als NPCs verweist.

Abb. 6: Visualisierte Kommunikation

Diese Ping-Funktion erlaubt es, die zum Fliegen nötigen Symbole auf der Schleppe des Mitspielers wiederherzustellen (was auch durch einfaches gegenseitiges Berühren möglich ist) und sich so gemeinsam mit nie ge­kann­ter Leichtigkeit durch die Lüfte zu bewegen, ist aber wohl primär als Kom­mu­nikationsmittel gedacht. Manche Spieler berichten, regelrechte Sprachen mit ihren Mitspielern entwickelt zu haben – z.B. 1 x Ping = Ja und 2 x Ping = Nein – doch auch der rein intuitive Umgang mit überschwänglichen Ping-Orgien angesichts einer neuen Entdeckung ist möglich.

Die Mitspieler sind ebenso Pilger wie der Avatar und optisch nicht von ihm zu unterscheiden – es sei denn, man trifft einen Mitspieler, dessen Mantel bereits über und über mit goldgelben Verzierungen bedeckt ist oder gar einen in der weißen Robe der Ahnen, wie man sie aus den Zwischen­se­quen­zen und Wandfresken kennt. Die Verzierungen kommen mit dem mehr­ma­li­gen Durchspielen von Journey; der weiße Mantel ist der Lohn dafür, alle schal- und damit flugzeitverlängernden Glyphen auf dem Weg gefunden zu haben. Eine solche Begegnung ist natürlich ein besonderer Glücksfall, da die erfahrenen Spieler meist gerne bereit sind, ihr Wissen über die Spielwelt mit dem Neuling zu teilen. Ironischerweise wohl nicht zuletzt, weil das Spiel prosoziales Verhalten mit diversen Achievements belohnt.
Im Rahmen der Spielwirklichkeit gilt: Der Pilger im weißen Mantel ist einer, der durch seine vielen Wiedergeburten zu Weisheit gelangt ist. Die Realität mag dabei völlig anders aussehen. Der Mitspieler mag eine Person sein, mit der der Spieler sich sonst unter keinen Umständen abgeben würde. Doch da Journey seinen Spielern keine Möglichkeit gibt, verbal miteinander zu kom­mu­ni­zieren, gibt es nichts, was den Eindruck von Würde und Weisheit trüben könnte, den die äußere Erscheinung des Avatars vermittelt.
Verpflichtet ist man nicht, zusammen zu reisen, doch je weiter man kommt, desto mehr lässt das Spiel einen den Wert eines Gefährten erkennen. Es ist gut, nicht allein zu sein, wenn man in den unterirdischen Ruinen von stei­nernen Ungeheuern gejagt wird, und erst recht wenn man mit dem Auf­stieg beginnt und die Kälte einem die Glyphen von der Schleppe schält. Plötzlich verliert man auch ohne zu fliegen an Energie und eine graue Eisschicht beginnt langsam den Mantel hochzukriechen.

Abb. 7: Ununterscheidbarkeit zweier Spieleravatare im Schnee

An den Schweifen der abgestürzten Teppiche kann man sich zwar noch gelegentlich ein wenig aufwärmen und schafft es vielleicht sogar ein paar Meter zu fliegen, ehe der Frost wieder die Oberhand gewinnt, doch län­ger­fris­tig gesehen hilft nur ein Gefährte. Dicht aneinander gedrängt, kämpft man sich dann gemeinsam den Berg hinauf, bis schließlich schneidende Böen die Schals zerfetzen und die Wanderer - un­un­ter­scheidbar geworden - Seite an Seite in den Schnee sinken. Ob dies das Ende ist? Ja – und der Anfang.

Gnade

Grau ist dein schöner Mantel geworden [...], grau dein Haar und deine Haut wie Stein. Aber alles soll nun wieder werden wie früher und noch schöner. Du wirst sehen. 7

Abb. 8: Müheloser Flug zum Gipfel

So spricht die Kindliche Kaiserin zu ihrem Helden - und so ist es auch in Journey. Von den Ahnen auferweckt und mit der längsten Schleppe aller Zeiten ausgestattet, bricht der Avatar durch die Wolken. Oberhalb der Wolken taucht die Sonne alles in strahlendes Licht. Offenbar ist es nicht einmal mehr kalt, denn überall sieht man fliegende Geschöpfe aus rotem Stoff. Das letzte Stück des Weges spielt sich fast von selbst, denn der Pilger wird von allen Seiten gehoben und geschoben. Die musikalische Unter­malung ist euphorisch und ungeheuer präsent. Die Flugzeit des Schals scheint nahezu unerschöpflich. In einem Strom von Stoffwesen mit­schwim­mend wird der Avatar zum Gipfel getragen.

Manche Dinge kann man nicht aus eigener Kraft schaffen: Sie werden einem nur als Gnade zuteil, scheint die Botschaft zu lauten. Und so erreicht der Avatar schließlich doch noch das Tor zwischen den beiden Bergspitzen, löst sich auf im Licht und fährt als Sternschnuppe herab auf die Erde, um wieder dort zu landen, wo seine Reise begonnen hat.
Der an dieser Stelle eventuell entstehende Interpretationsaufwand wird dem Spieler freundlicherweise durch das Achievement „Wiedergeburt“ ab­ge­nom­men. Vielleicht ist das eine wenig plump, doch Journey bietet so viel Potential zum Nachdenken, das während des Spielprozesses unmöglich ausgeschöpft werden kann, dass es den Entwicklern möglicherweise ein Anliegen war, zumindest diesen einen Punkt unmissverständlich klar zu machen.

Die Wirkung von Atmosphären

Abb. 9: Sturz in die Dunkelheit

Journey lebt von Gefühlen oder wenn man so will: von Atmosphären. Keines der Elemente der Spielwelt (Wüste, Ruinen, heiliger Berg, etc.) ist unbelastet, sondern im Gegenteil extrem mit Bedeutung aufgeladen, die sich aus dem kulturellen Wissen des Spielenden speist – was nicht bedeuten soll, dass diese Objekte nicht trotzdem rätselhaft blieben, doch macht gerade das wohl ihren besonderen Reiz aus. Ihre Bedeutung ist nicht konkret, sondern eher assoziativ (und funktioniert deswegen ebenso für westliche wie für asiatische Spieler), deswegen halte ich es für besser, mit Gernot Böhme von atmosphärischen Elementen zu sprechen.
Typisch für das Atmosphärische nach Böhme ist beispielsweise der Wind, welcher die Begrenztheit der Spielwelt verschleiert, indem er den Avatar bei dem Versuch, die Grenze zu überschreiten, wieder zurücktreibt: ein soge­nann­tes „Halbding“, das zwar etwas tun kann (zurücktreiben), das aber dennoch keine eigene Materialität bzw. Substanz besitzt 8. Inszeniert werden diese Elemente gekonnt, indem die Schönheit der Spielwelt, die nicht allein eine Schönheit der Grafik, sondern vor allem des Designs ist, durch geschickte Kamera­führung in Szene gesetzt wird, sodass teilweise der Eindruck einer Filmsequenz entsteht, obwohl der Spieler nach wie vor mit der Steuerung betraut ist.

Die Gesamtatmosphäre der Spielwelt wird, wie bereits erwähnt, gegen Ende hin zunehmend bedrängend. Der Spieler kann sich dem verschließen, nicht jedoch ohne dadurch das Spielerlebnis zu zerstören, denn

das Spezifikum einer solchen Wahrnehmungsweise besteht ja gerade darin, sich sehr wohl zu ‚realen’ Reaktionen, wie Sympathie, Trauer oder Angst hinreißen zu lassen, obwohl der ‚fiktionale’ Charakter der betreffenden Information durchschaut wird“ 9

Zu diesen „‚realen’ Reaktionen“ 10 gehört auch die emotionale Bindung an den Mitspieler, die das Spiel durch seine atmo­sphärische Lenkung evoziert.  Die Überwindung der bedrückenden Atmosphäre besteht darin, den in at­mo­sphä­ri­scher Wahrnehmung immer enthaltenen subjektiven Anteil mit mensch­licher Wärme zu erfüllen, die im Spiel als Licht­metapher realisiert wird.
Besonders auffällig ist, wie Journey dabei das Moment der Berührung stark macht. Berührung ist der Schlüssel zur gegen­seitigen Hilfe­leistung. Diese Berührung ist aber wohlgemerkt keine reale, sondern eine virtuelle, was diese Tatsache doppelt paradox macht. Zum einen dienen nor­ma­ler­weise die Hände als Kristallisations­punkt von Berührung. Pro­mi­nen­testes Bei­spiel ist dafür vielleicht Michelangelo Buonarrotis Dar­stellung der Be­geg­nung zwischen Gott und Adam in der Sixtinischen Kapelle, in der beide die Hand ausstrecken, ohne dass es tatsächlich zu einer Be­rührung kommt. Dem Journey-Avatar aber fehlen die Hände. Und auch dem Spieler fehlen die 'Hände': Die Mög­lichkeit nämlich, seinen Mit­spieler tatsächlich zu berühren, denn es ist eine rein virtuelle Begegnung. Man kann sich seinen Mit­spieler nicht aussuchen, daher gibt es keine Mög­lichkeit, Journey mit einem konkret anwesenden Mitspieler zu erleben.
Diese Paradoxie wiederholt sich im Motiv der Kom­mu­ni­kation: Kom­mu­nika­tion ist das zweite zentrale Thema von Journey, obwohl oder gerade weil sie auf ein absolutes Minimum reduziert ist. Verbale Kom­mu­ni­kation ist vom Spiel aus­ge­schlossen. Dadurch treten die Spielenden, deren gewohnte Kom­mu­ni­ka­tionsform Sprache ist, in den Hinter­grund, und die Be­geg­nung zwi­schen den Ava­taren wird betont. Die Fiktionalität des Spieles präsentiert sich so bruchlos wie es einem Online­spiel nur möglich ist.
Journey thematisiert somit seine zentralen Anliegen durch deren Ab­we­sen­heit. Was bleibt, ist ein berührendes Plädoyer für prosoziales Verhalten und eine mythische Reise.

Liste der verwendeten Texte und Medien

Spiele

Bethesda Game Studios: The Elder Scrolls 5. Skyrim. USA: Bethesda Softworks 2011.
CD Projekt RED: The Witcher. Polen: CD Projekt, Atari 2007.
Thatgamecompany: Journey (PS3). USA: Sony Computer Entertainment 2012.

Texte

Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesung über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Wilhelm Fink Verlag 2001.
Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch 1999.
Ende, Michael: Die unendliche Geschichte. Stuttgart: Thienemann Verlag 1979.
Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte. München: Wilhelm Fink Verlag 1993.
Zumbansen, Lars: Dynamische Erlebniswelten. Ästhetische Orientierung in phantastischen Bildschirmspielen. München: Kopaed Verlag 2008.

  1. Vgl. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. 1999.[]
  2. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 1993.[]
  3. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 1993, S. 377ff.[]
  4. Bethesda Game Studios: The Elder Scrolls 5. Skyrim. 2011.[]
  5. An dieser Stelle ein paar erläuternde Worte zu der Schwierigkeit, über ein Spiel zu sprechen, das selbst keine Sprache verwendet: Beileibe nicht alle in Journey auftretenden Dinge sind selbsterklärend oder vertraut, sodass man ihnen sofort die richtige Bezeichnung zuordnen könnte. Der Schal, bzw. die Schleppe des Avatars, wie er an anderer Stelle im Text genannt wird, ist tatsächlich weniger ein Schal oder eine Schleppe, als vielmehr ein breiter Stoffstreifen, der buchstäblich aus der Kapuze des Avatars herauswächst. Ein ähnliches Problem besteht bei den 'Ahnen', von denen noch die Rede sein wird, denn es ist unklar, ob es sich bei den weißen Erscheinungen tatsächlich um die Ahnen des Avatars handelt. Dennoch scheint die Vermutung naheliegend. Um diese Dinge überhaupt verhandelbar zu machen, wurden sie für diesen Artikel benannt, es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Benennung allein schon einen Akt der Interpretation darstellt und wie beschrieben in manchen Fällen defizitär bleiben muss.[]
  6. Ende: Die unendliche Geschichte. 1979, S. 68f.[]
  7. Ende: Die Unendliche Geschichte. 1979, S. 165.[]
  8. Vgl. Böhme: Aisthesis. 2001, S. 46.[]
  9. Zumbansen: Dynamische Erlebniswelten. 2008, S. 74.[]
  10. ebda.[]

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Ascher, Franziska: "Journey - Der Weg ist das Ziel". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 19.12.2012, https://paidia.de/journey-ps3/. [13.12.2024 - 03:31]

Autor*innen:

Franziska Ascher

Dr. Franziska Ascher ist Akademische Rätin für Ältere Deutsche Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal und Mitherausgeberin von PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. Von 2008 – 2014 studierte sie Sprache und Literatur des Mittelalters, Neuere Deutsche Literatur sowie Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte 2020 in der Germanistischen Mediävistik bei Prof. Dr. Michael Waltenberger zum Thema „Erzählen im Imperativ – Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen“. Von 2021 – 2024 hatte sie einen Post-Doc-Stelle an der Universität Innsbruck inne, wo sie die Forschungsgruppe „Game Studies“ mitbegründete und -leitete. Dissertation: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5811-8/erzaehlen-im-imperativ/?c=310000018&number=978-3-8394-5811-2