Empfindsamkeit im Zeitalter des Computerspiels?

31. Oktober 2012

Dear Esther als Weiterführung des Briefromans

Zwar spielt die Verwendung von Briefen als Informationsquelle in vielen Computerspielen eine wichtige Rolle, ist sie doch eine - wohl noch aus der Zeit der textbasierten Computerspiele stammende - Form der Informationsvermittlung, der sich wirklich eine große Zahl von Spielen bedienen (hier sei zum Beispiel Baldurs Gate oder Drakensang Am Fluss der Zeit genannt); doch besteht der Unterschied darin, dass sie in Dear Esther ein zentrales Handlungselement darstellen und nur durch sie erst die Erzählung des Spiels und damit auch der Erzähler überhaupt greifbar und manifest wird. Dass es sich bei den Textfragmenten um Briefe handelt, wird vor allem durch die Adressierung der Texte eindeutig, die eben mit den auch titelgebenden Worten „Dear Esther“ beginnen. 1
Doch ist Dear Esther beileibe nicht der erste Vertreter eines erzählenden Mediums, das sich der Vermittlung einer Geschichte in Briefen bedient. Einerseits gibt es hier natürlich die Gattung des Briefes beziehungsweise des Kunstbriefes, wie man ihn bereits seit der Antike zum Beispiel von Plinius dem Jüngerem kennt. Andererseits existiert aber auch der Briefroman, der sich des Briefes wiederum dadurch bedient, dass er durch Abfolge von Briefen eine Geschichte erzählen will, also die Kommunikation des Briefwechsels simuliert. Dabei unterscheidet man wiederum zwei Hauptformen: einen Briefwechsel, bei dem sowohl der Adressierte als auch der Schreiber zu Wort kommen, also Schreiben und Antwortschreiben vorhanden sind, und die wohl bekanntere Form, in der wir nur die Schreiben eines der beiden Beteiligten lesen können, womit diese Art der Erzählung auch in die Nähe der Tagebucherzählung rückt. Prominentester Vertreter dieser Form ist wohl Goethes Werther. Mit dieser Art der Erzählung geht auch eine stärkere Konzentration auf den Schreibenden einher, also eine Fixierung auf dessen Erlebnisse und Erfahrungen. Gerade Die Leiden des jungen Werther sind dabei sicherlich stilprägend, was vor allem auch die Emotionalität dieser Gattung betrifft, also die Darstellung und Formulierung des Innenlebens des Schreibers.
Dieser Art der Kommunikationssituation bedient sich auch Dear Esther. Wir haben nur die Schreiben an Esther, aber nicht ihre Antworten. Dies liegt wohl darin, dass, wie die Briefe erzählen, Esther bei einem Autounfall verunglückt ist, so zumindest lässt sich folgende Textstelle interpretieren:

 I had kidney stones, and you visited me in the hospital. After the operation, when I was still half submerged in anaesthetic, your outline and your speech both blurred. Now my stones have grown into an island and made their escape and you have been rendered opaque by the car of a drunk.2

Doch warum verwendet man das Medium des Briefs, wenn eine Antwort eigentlich von vornherein unmöglich ist? Es ist gerade eine Spezifik des Briefes, dass er eine Kommunikation über Entfernung ermöglicht und dabei vor allem auch „eine bestimmte Form von Schmerz vermeiden [kann]: den Trennungsschmerz.“ 3 Es scheint hier eine Distanz und ein damit einhergehende Schmerz überwunden werden zu können, der totaler nicht sein könnte: der zwischen Jenseits und Diesseits, aber auch der nicht minder dramatische zwischen Realität und Fiktion. Denn dass es sich bei der Insel, auf der das Spiel spielt, nicht um eine reale (nicht einmal "real" innerhalb der Fiktion) handelt, wird durch viele Elemente ersichtlich: Autowracks ohne Straßen, leuchtende, chemische Formeln an den Wänden, mannshohe Bibelzitate an den Klippen und vieles mehr. So scheint das Medium des Briefes den unentscheidbaren Raum, in dem sich der Erzähler bewegt, mit dem unbestimmten Raum, in dem sich die angesprochene Esther befindet, zu verbinden. Esther wird ja auch, wie gerade schon zitiert, als „rendered opaque“ beschrieben,4 also als dunkel, undurchsichtig, unverständlich, unklar gemacht.
Doch wie kann der Brief das leisten? Es ist die Illusion von Nähe, die Simulation der Unmittelbarkeit des Mündlichen, 5 die der Brief erzeugen kann oder soll und die in Fortsetzung der Briefroman wiederum simuliert. Eine geistige Nähe und Vertrautheit ohne die Notwendigkeit von „physischer Kontiguität“ soll der Schriftverkehr möglich machen:6

Ihrer medialen Form nach legt Schriftlichkeit die Körper darauf fest, absent zu sein. Sie aktiviert die Aufteilung des Menschen zwischen Geist und Körper, die in den Zeiten Platons gemeinsam mit der Durchsetzung des Alphabets entstand, indem sie den Körper aus dem Spiel nimmt und den Geist verkehren läßt.7

Nähe ohne Körper also. Ähnliches findet sich auch in Dear Esther, was darauf hindeuten könnte, dass der Bezug zum Brief eben nicht nur durch den Einsatz von Briefen selbst besteht, sondern auch in der (fehlenden) Verfasstheit des Protagonisten, man also eine Anknüpfung an die durch die Literalisation vorangetriebenen gesellschaftlichen Prozesse zu Zeiten der Empfindsamkeit feststellen könnte. Denn der Avatar ist nicht sichtbar, ist nicht existent und er kann auch nicht mit seiner Umwelt interagieren. Er kann sich bewegen und er kann wahrnehmen. Dazu kommt noch die körperlose Stimme des Brief-Erzählers. Also erhält das unkörperliche Medium des Briefes zusätzlich auch noch den zu ihm passenden körperlosen Protagonisten, der durch den Prozess des Spielens sich schlussendlich sogar ganz auflöst und verschwindet, nur noch einen Schatten zurücklässt, der über die Insel fliegt.
Doch damit fügt sich Dear Esther in bestimmte durch den florierenden Briefverkehr aufkommende Entwicklungen der Epoche der Empfindsamkeit ein, die nach Albrecht Koschorke auch klare Ziele hatte. Dieser sieht das Vorantreiben der Schriftlichkeit im 18. Jahrhundert nämlich wie folgt:

Sie [die Briefwechsel, Anmerkung des Verfassers] suchen nach Möglichkeiten der Wahrheitsfindung, die nicht von Körperzeichen gewährleistet wird, von Vertrauen, das außerhalb der Reichweite persönlicher Interaktionen besteht, die nicht auf sinnlichem Kontakt beruht.8

Etwas anderes tut auch Dear Esther nicht, es verhandelt genau dies, nur im Medium des Computerspiels. Es gibt keine Interaktionsmöglichkeit für den Spieler, es gibt keine Repräsentation von Körperlichkeit und auch das sinnlich Wahrnehmbare ist nicht vertrauensvoll real, sondern eher imaginativ.
Dabei wird sogar die eigentlich vorhandene Materialität des Briefs aufgelöst, indem nur eine körperlose Stimme diese vorliest. Im späteren Spielverlauf können wir die zu Papierschiffchen gefalteten Briefe allerdings noch sehen (vgl. Screenshot):

From here I can see my armada. I collected all the letters I’d ever meant to send to you, if I’d have ever made it to the mainland but had instead collected at the bottom of my rucksack, and I spread them out along the lost beach. Then I took each and every one and I folded them into boats. I folded you into the creases and then, as the sun was setting, I set the fleet to sail. Shattered into twenty-one pieces, I consigned you to the Atlantic, and I sat here until I’d watched all of you sink.9

Hierbei wird die häufig gemachte Übertragung und das dadurch ausgelöste Ineinanderfallen von Brief und Briefpartner soweit geführt, dass an den Briefen die letzten Reste der Materialität des Adressaten hängen, diese aber dem Meer übergeben werden, also genauso wie der Protagonist dem Verschwinden überantwortet werden.
Aus dieser Perspektive erscheint allerdings auch die Form dieses Spiels vollkommen anders. Es negiert eben nicht das Potential oder die Möglichkeit von Computerspielen, es zeigt vielmehr welche Art der Herausforderung für den Spieler ein Computerspiel bereitstellt, es ist eine Ähnliche wie sie auch Koschorke für das Lesen beschreibt:

Mit der kollektiven Evasion der Gebundenheit an den Körper werden andererseits neue Terrains der Erfahrung geschaffen. Es ist in der Aufklärungszeit ein Gemeinplatz, daß die durch Bücher erwerbbare Bildung bei den Lesern eine gesteigerte Sensibilität, und daß heißt Vergeistigung, mit sich bringt.10

Macht nicht Dear Esther dasselbe, indem es eben keine Erfahrung und Herausforderung auf der Bedienebene bietet, sondern welche auf der geistigen, sich also vielleicht sogar explizit gegen Trends der Gleichung „Körper = Controller“ wendet? Denn es ist nicht die Schwierigkeit, den Avatar über die Insel zu steuern, sondern es ist vielmehr die Aufgabe des Spielers, die ihm präsentierten Textfragmente zu hören und zusammenzufügen, sie also zu interpretieren. Verstehen, wenn man so will, oder vielleicht besser die Konstruktion von Sinn und Sinnzusammenhang ist die Hauptaufgabe des Spielers in Dear Esther.11
Vielleicht ist somit Dear Esther eben nicht als Nicht-Spiel zu werten, sondern vielmehr als eine Weiterentwicklung, die aufzeigt, was dieses Medium auch und mehr kann. Wenn dies der Fall ist, dann mag diese Entwicklungsrichtung des Computerspiels ebenso wie die Literalisation in der Epoche der Empfindsamkeit mit den Worten Norbert Elias als „ein sicheres Zeichen für einen Zivilisationsschub“ gedeutet werden.12

  1. Zwar stammen die Zitate hier natürlich direkt aus dem Spiel, doch soll hier als Verweis die Sammlung aller möglicher Textfragmente im Dear Esther-Wiki als referenz verwendet werden. Vgl. http://dearesther.wikia.com/wiki/Dear_Esther_Script[]
  2. http://dearesther.wikia.com/wiki/Dear_Esther_Script[]
  3. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. Zweite Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag 2003. S. 191.[]
  4. http://dearesther.wikia.com/wiki/Dear_Esther_Script[]
  5. Vgl. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. S. 190 - 192.[]
  6. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. S. 191.[]
  7. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. S. 191.[]
  8. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. S. 196.[]
  9. http://dearesther.wikia.com/wiki/Dear_Esther_Script[]
  10. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. S. 199.[]
  11. So stellt es Andreas Schöffmann in seiner unveröffentlichten Magisterarbeit über Repräsentationsformen und Herausforderungsstrukturen in Computerspielen auf S. 67 dar.[]
  12. Elias, Norbert: Prozeß der Zivilisation. II. Bern/München: Francke 1969. S. 376.[]

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Unterhuber, Tobias: "Empfindsamkeit im Zeitalter des Computerspiels?". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 31.10.2012, https://paidia.de/empfindsamkeit-im-zeitalter-des-computerspiels/. [13.12.2024 - 02:40]

Autor*innen:

Tobias Unterhuber

Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft an der LMU München und der University of California, Berkeley. 2018 promovierte er bei Prof. Dr. Oliver Jahraus mit einer Arbeit zum Thema "Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht". Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Zu seinen Forschungsinteressen zählt neben Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie und Gender Studies auch die kulturwissenschaftliche Computerspielforschung.