Eine Rezension zu "One single life" (iOS)
Das iOS-Spiel "One single life" ist möglicherweise eine der interessantesten Computerspiel-Neuerscheinungen der letzten Jahre – obwohl oder gerade weil es gegen eine Konvention von Computerspielen verstößt: Denn man hat hier nicht die Möglichkeit, die Aufgabe so oft wiederholen zu können, bis sie geschafft ist.
Renn! Spring! Stirb! Aus!
"One single Life" ist ein Jump’n’Run-Game - eigentlich ein Run’n’Jump-Game. Die Hauptaufgabe des Spielers ist es, ein Krawatte tragendes Männlein – einen "Average Joe" – auf dem Dach eines Hochhauses Anlauf nehmen zu lassen (Bildschirm antippen für "Run!") und ihn dann im richtigen Moment abspringen zu lassen (Nochmals antippen für "’n’jump!"). Die Steuerung ist also extrem reduziert. Hat man alles richtig gemacht, dann landet Joe sicher auf dem Dach eines benachbarten Hochhauses. Damit ist die Aufgabe also irgendwo zwischen virtueller Mutprobe und Actionfilmsequenz angesiedelt. Anders als im auf den ersten Blick nicht unähnlichen Spiel "Canabalt" geht es aber nicht um die Distanz, die die Figur durch Laufen und Rennen schafft – es geht nur darum, es überhaupt zu schaffen. Ein Sprung über eine Häuserschlucht ist für die meisten Menschen eine Herausforderung, der sie sich aus Vernunftsgründen nachvollziehbarer Weise nicht stellen werden – außer für Stuntmen wäre es auch verrückt, denn wenn man zu langsam anlaufen oder im falschen Moment abspringen würde, wäre man in den meisten Fällen tot. Das andererseits macht natürlich gerade den besonderen Kick bei dieser Herausforderung aus. Und so haben sich die Macher von "One single Life" überlegt, wie sie diesen Risiko-Kick in ein Computerspiel überführen könnten. Herausgekommen ist ein Spiel, das in dieser Form vorher wohl noch nicht existiert hat: Wenn Joe abstürzt, dann ist das Spiel vorbei; ohne Speicherstand, ohne Möglichkeit zur Wiederholung. Das Spiel ist zu Ende, kein Spiel mehr – Aus! Insgesamt müsste man über zehn Häuserschluchten springen, um das Spiel zu schaffen. Es ist nicht ganz klar, ob die Sprünge dabei jedes Mal anspruchsvoller werden. Denn die Konzentration und die Reaktionsfähigkeit des Spielers lässt – durch die große Anspannung strapaziert – sehr rasch nach. Dass dem Spieler zudem vor jedem Sprung angezeigt wird, wie viele Prozent der Spieler bei diesem Versuch durchschnittlich sterben, das trägt nun auch nicht unmittelbar zum größeren Selbstvertrauen des Spielers bei.
Genauso wenig wie die Warnhinweise "Give up now!" und "Death is final. Sure you’re ready for this?"
Und auch die Möglichkeit, das Spielprinzip in einem Trainingsmodus zu üben, hilft nur bedingt weiter – denn entscheidend ist, dass man im Moment des 'echten' Sprungs nicht versagt. Stirbt die Spielfigur, nachdem sie mit gellendem Todesschrei abgestürzt und hart auf dem Boden aufgeschlagen ist, sieht man einen Grabstein von dem man in Level sieben beispielsweise erfährt, dass man immerhin den Rang "Worthy" erreicht hat. Es folgt eine Wiederauferstehung und im Himmel der Hochhausspringer kann man dann von Wolke zu Wolke springen, während die im Abspann üblichen Credits eingeblendet werden.
Wie wiederholen?
Dieses Spiel fasziniert. Aber warum? Üblicherweise kann man Spiele wiederholen – vielleicht nicht alle, aber doch die meisten. Wenn man beim Mensch-ärgere-dich-nicht, beim Fußball oder Pokern verliert, dann kann man das Spiel für gewöhnlich noch einmal spielen, außer die Kontexte des Spiels verunmöglichen das (bspw. wenn man um Geld pokert und alles verloren hat – dann kann man natürlich nicht mehr um Geld pokern. Pokern ohne Geld wäre aber jederzeit noch möglich). Bei Computerspielen ist die Möglichkeit des Wiederholens üblich – so üblich, dass man es getrost eine Konvention nennen darf. Man muss in Computerspielen immer etwas bewältigen oder (er)schaffen. Und wenn man das ‚Etwas‘ nicht bewältigt oder rechtzeitig (er)schafft und damit scheitert bzw. verliert, dann beginnt man den Level, das Match, die Quest eben vom letzten Speicherpunkt aus. Oder man beginnt notfalls das ganze Spiel von vorne. Aber grundsätzlich gilt: Computerspiele kann man wiederholt spielen. Alles andere wäre auch ärgerlich, denn Computerspiele kosten häufig nicht wenig Geld – und das wäre nun nicht gut vom Spieler angelegt, wenn man bereits nach dem ersten Tod durch einen Ork oder der ersten Niederlage im 'Player-versus-Player-Deathmatch' nicht mehr weiterspielen könnte, außer man würde sich das Spiel neu kaufen. Nun könnte man also vermuten, "One single life" sei gar kein Computerspiel, denn es macht ja ernst. Es ist aber ein Computerspiel – nur ein untypisches. Es kostet nichts und man kann es beliebig oft aus dem Apple "App Store" herunterladen und installieren. Das macht es zwar etwas mühsamer mit den Wiederholungsversuchen als bei anderen Spielen, aber auf Umwegen ist eine Wiederholung schon möglich. Die Wiederholungsmöglichkeit ist also nur auf eine andere Ebene verlegt worden, auf eine, die die Verkaufsplattform des Spiels in das Spiel einbindet. Dieser Ebenenwechsel ist von zentraler Bedeutung, denn der "App Store" wird dadurch kurzerhand zum Anfang des Spiels erklärt, von dem aus man es spielen kann. Wer an der Aufgabe scheitert, der kann sie neu beginnen, indem er das Spiel neu lädt – aber eben nicht nur vom eigenen Gerät nachlädt, sondern (neu) herunterlädt. Der Verkaufsort wird also zum Bestandteil des Spiels und die eigentlich getrennten Ebenen der Verkaufsumgebung und des Spiels selbst werden vermischt –man könnte nahezu von einer besonderen Form der Metalepse sprechen. Die wichtigere Frage ist nun aber, warum das so gemacht wurde?
Unendlich leben dank Aufmerksamkeit
Die Computerspielindustrie folgt ökonomischen Prinzipien. Man will Produkte verkaufen und man will mit dem Verkauf etwas verdienen. Das ist im noch vergleichsweise jungen Markt für Spiele auf der iOS-Plattform natürlich nicht anders. Auch auf dieser Plattform haben sich bereits erste Platzhirsche etabliert. Und sie haben auch gelernt, die Regeln ihres Verkaufsraums "App Store" für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Denn in den App-Store-Charts gibt es eine eigene Rubrik für Gratis-Apps. Und in dieser Rubrik kann man wohl am ehesten Aufmerksamkeit für das eigene Produkt, die eigene Firma, die eigenen Fähigkeiten als Spiele- oder App-Entwickler gewinnen. Viele Anbieter nutzen das aus, um potentiellen Käufern einer Spiele-App ein Spiel(prinzip) kostenlos vorzustellen – wer dann aber tiefer in das Spiel einsteigen will, der muss die Vollversion, die nächsten 50 Level oder die für einen sinnvollen Spielverlauf notwendigen Gegenstände als In-App-Purchase kaufen. Bei der inzwischen unüberschaubaren Vielzahl von Apps ist aber klar: man braucht zunächst und vor allem Aufmerksamkeit für das eigene Angebot. Und genau die ergattert sich der Hersteller freshTone Games mit "One single Life" auf intelligente Art und Weise. Das ungewöhnliche Spielprinzip erweckt Aufmerksamkeit und fordert die Beschäftigung mit dem Spiel (so hat es Stand 31.5.2011 bereits 1652 Bewertungen). Es erweckt Aufmerksamkeit, weil es eine Botschaft auf mehreren Ebenen ist: "Seht her," scheint es zu sagen, "meine Macher können ein simples aber hoch spannendes Spiel gestalten, das das ökonomische Prinzip des App Stores aufdeckt, und sie kennen die Tricks für ein erfolgreiches Bestehen im Kampf um die virtuelle Währung 'Aufmerksamkeit'". Aber es sagt sogar noch mehr: Indem es die Prinzipien des App-Store-Marketing und damit die Prinzipien seiner eigenen Vermarktung zum Bestandteil des Spiels macht, zeigt es sich nicht nur als weiterer Konkurrent im Wettlauf um wirtschaftlichen Erfolg – es kommentiert diesen Wettlauf zugleich. Fast möchte man sagen, es macht sich ein wenig darüber lustig. Jedes Mal, wenn Joe abstürzt und der Spieler das Spiel für einen weiteren Versuch neu herunterladen muss, weist es implizit darauf hin, dass es dieses Spiel überhaupt nur gibt, damit man abstürzt, damit man es neu lädt und damit man ihm Aufmerksamkeit spendet. Denn hätte man "One single Life" mit einem entsprechend hohen Einsatz für den Spieler versehen wollen, damit er wirklich nur einen Versuch hat, dann hätte man es – einer ökonomischen Logik folgend – sehr, sehr teuer machen müssen.
Fazit
Auch wenn man diesen Überlegungen nicht folgen mag oder wenn man einfach nur ein unterhaltsames Spiel sucht, das vor allem psychisch herausfordernd ist, und wenn man sich im Falle des Scheiterns nicht zu rasch von der besonderen Reload-Konzeption frustrieren lässt, dann ist "One single Life" ein großartiger Zeitvertreib. Und ein klügerer als ein wirklicher Sprung über eine Häuserschlucht ist es in jedem Fall.
Übrigens: Im Spiel ist ein Extraleben versteckt. Es müsste also eigentlich "One single Life and another single Life" heißen.
Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien
Computerspiele
FreshTone Games: One single life (iPhone, iPod touch, iPad). 2010.