„Wo andere begrenzt sind, von Moral oder Gesetz…“ – Über das Potential von gewalthaltigen Games für die Schulung der Werturteilskompetenz im Ethikunterricht

21. Dezember 2015
Abstract: Im Beitrag soll es um die Frage gehen, inwiefern gerade gewalt­hal­tige Spiele als Medium für Ver­mittlung von Wert­urteils­kompetenz nützlich sein können, ausgehend von der Prämisse, dass die Schülerinnen und Schüler nicht als leere Wachs­tafeln solcherlei Medien rezipieren, sondern immer schon in bestimmte Wert­gefüge eingebunden sind und mit und durch diese/n, ihre rezipierten Medien bewerten.

Medienwirkung

„Wo andere begrenzt sind, von Moral oder Gesetz, bedenke, alles ist erlaubt“. Dieser aus Assassins Creed II 1 stammende Satz drückt wohl aus, was viele Gamer_Innen denken, wenn es um Computer- und Videospiele, kurz Games geht: man darf in ihnen alles machen, was man will und möglich ist, weil niemand dabei zu Schaden kommt – auch dann nicht, wenn man im Spiel andere Spielfiguren verletzt oder tötet. Dass sie Spiel und Realität aus­ein­an­der halten können, verteidigen sich viele gleich reflex­artig. Hier wird, was die Rezeption von Gewalt angeht, von einer „schwachen Medien­wirkung“ 2 oder zumindest von einer „selektiven Medien­wirkung“ 3 ausgegangen. Das be­deu­tet nicht, dass der virtuelle Raum ein moral- oder rechts­freier Raum wäre oder als solcher wahr­genommen würde. Ebenso wenig bedeutet es, dass Computer- und Video­spiele keine kognitiven oder emotionalen Aus­wir­kung­en auf Rezipient_Innen hätten.

Denn zum einen gilt eine Beleidigung, die man im Onlinemehrspielermodus tätigt, immer noch als Beleidigung. Man könnte sie zur Anzeige bringen und damit gibt es auch im virtuellen Raum rechtlich Bindendes. Zum anderen weist Miguel Sicart darauf hin, dass

„[p]layers are not passive subjects: players reflect on their actions and their presence in the game world. […] [P]layers are moral beings using their ethical thinking to make meaningful choices in the context of the game experience.“ 4

Das heißt, Spieler_Innen urteilen und handeln in mehr oder weniger großem Ausmaß gemäß ihres Wertgefüges – insofern das Game es zulässt und der Spielspaß nicht zu sehr darunter leidet. Jemanden nicht töten, sondern leben zu lassen, wie man es auch in der nichtvirtuellen Welt tun würde, ist eine Entscheidung, die in manchen Spielen sinnvoll ist. In Online-Ego-Shootern nimmt sie demjenigen, der ohne ‚Gewaltanwendung’ spielt, aber wohl eher den Spielspaß. Hier liegt der moralische Fokus auf anderen Tätigkeiten, wie etwa dem Cheaten und allgemein der Fairness.

Das digitale Spiel als Ort des Probehandelns 5 anzusehen, so wie es Spieler_ Innen tun können, bedeutet, dass Hand­lungen und Ver­hal­tens­weisen, die man in Computer- und Video­spielen tätigt, anders bewertet werden können als ihr nicht­virtuelles Pendant. Das kann auch bedeuten, dass Spieler_Innen Handlungen tätigen, die sie im nicht­virtuellen Bereich nicht tun würden, die sie aber für vereinbar mit dem Spiel, also etwa der Narration und ihrem daran angepassten Wert­gefüge, erachten, oder einfach als nicht schlecht und wert aus­probiert zu werden ansehen, da sie keinen Personen schaden.

Computer- und Videospiele haben auch einen Effekt auf ihre Rezipient_ Innen. Sie können (über längeren oder kürzeren Zeit­raum anhaltende) Wahr­nehmungs-, Denk- und Handlungs­schemata bei Rezipient_Innen aufbauen oder deren Auf­bau unterstützen. Es ist jedoch kein Auto­matismus vorhanden und nicht jeder Reiz führt bei jeder/m Rezipierenden zur glei­chen Reaktion, sondern es kommt auf die Rezipient_Innen, deren Vor­er­fahr­ungen, Präferenzen und weitere Faktoren an, wie die entsprechenden Medien­inhalte wirken.
Es gibt Personen, die von einem fast schon grundsätzlich schlechten Einfluss von Computer- und Videospielen auf ihre Nutzer_Innen ausgehen. Dies ist kein neues Phänomen. Auch sie sehen das Computer­spiel als Ort des Probe­handels an. Hier wird jedoch davon aus­ge­gangen, dass die Hand­lung­en, die im virtuellen Raum ausgeführt werden, eingeübt und in der realen Welt umgesetzt werden. Das Phänomen der „Medien­moralisierung“ 6, also der vermuteten schädlichen Wirkung bestimmter, meist neuer Medien oder Medien­produkte und deren Verbot oder zumindest Stigma­tisierung, ist spätestens seit Platons Schrift­kritik 7 belegt. Solche Positionen gehen meist von einer „starken Medien­wirkung“ aus. 8. Als berühmtes Beispiel kann hier der vermutete starke Nachahmungs­effekt von Goethes Die Leiden des jung­en Werthers dienen. 9 Seine Ent­sprechung findet diese Medien­mo­ra­li­sie­rung heute im Diskurs über Computer- und Videospiele.

So geht beispielsweise Manfred Spitzer 10 von einem schädlichen Einfluss von Games auf die Rezipienten aus. Grundlage seiner Thesen sind seine Inter­pre­ta­tionen von Erkenntnissen der Hirnforschung. Andere Autoren, wie etwa David Waddington 11, gehen davon aus, dass Games das Wertgefüge des Menschen negativ verändern können, indem sie die Rezipienten abstumpfen und ihre Unterscheidungsfähigkeit zwischen Spiel und Ernst verschwinden lassen.

In diesem Text soll – unter Annahme einer „selektiven Medienwirkung“ 12 – theoretisch gezeigt werden, wie gerade gewalthaltige Games für die Aus­bil­dung von Wert­ur­teils­kom­pe­tenz 13 nutzbar gemacht werden können. Im Text wird die These vertreten „dass Jugendliche nicht einfach Wert­vor­stel­lung­en aus medialen An­geboten übernehmen, sondern eigene, sozia­li­sa­to­risch vorgeprägte Wert­vor­stel­lungen an Medien­angebote, auch an prä­fe­rier­te Medien­angebote, anlegen […].“ 14 Ziel des Ethik­unterrichts muss es sein, diese von den Schüler_Innen mitgebrachten nor­ma­tiven Vor­stellungen methodisch zu unter­füttern, sodass Schüler_Innen das Dar­ge­stellte sys­te­ma­tisch und me­tho­disch geleitet ethisch reflektieren können. Kinder und Jugendliche sollen nicht lernen bestimmte mediale Angebote kategorisch abzulehnen, sondern sich kritisch mit ihnen und ihren Inhalten aus­ein­an­der­zu­setzen – seien es auch realistische Gewalt­darstellungen in Games. Damit schließen sich die Autoren der Forderung Marci-Boehnckes und Raths an, der ‚Gewalt‘ mehr Freiheit ein­zu­räumen – dies gilt vor allem für die Medien­rezeption. Denn, wie selbige zeigen konnten, sind ge­walt­haltige Medien – im Text wird es am Beispiel des Horror­films gezeigt – ein Mittel der Jugendlichen, um sich in der Adoleszenz etwa von Er­wachsenen abgrenzen zu können und werden weiter von ihnen für die An­schluss­kom­mu­ni­ka­tion untereinander genutzt. 15 Sie können also unter anderem der Identitäts­arbeit dienen. Wie diese Ergebnisse letztlich auf Computer­spiele des Horror­genres zutreffen, müssten weitere Unter­suchungen zeigen. Aufgrund der relativen Nähe des Mediums Film und Computerspiel, gehen wir zunächst davon aus, dass es möglich ist.

Vor allem, so die These des hier vorliegenden Textes, können sie aber dazu dienen, die Wert­ur­teils­kompetenz der Rezipient_Innen zu stärken – zu­min­dest, wenn sie in medien­pädagogischen, medien­erzieherischen oder me­di­en­ethisch­en Settings genutzt werden. Durch sie können so­ziali­sa­to­risch vor­geprägte Wert­haltungen bewusst gemacht und so methodisch und sys­te­ma­tisch re­flek­tiert werden. Außer­dem können sie benutzt werden, um gerade die Unter­schied­lichkeit zwischen virtueller und nicht­virtueller Realität auf­zu­zeigen.
Oftmals werden diese Möglichkeiten – aufgrund der Annahme einer starken Medien­wirkung – nicht wahr­ge­nommen und der Um­gang mit gewalt­haltigen Games bewahr­pädagogisch gestaltet. Diese bewahr­pädagogische Haltung kann durch die Art und Weise, wie über die Hand­lungen in Games ge­spro­chen wird, be­feuert werden; Scheinen doch Spieler_Innen  zu schlagen, zu rauben und zu töten, wenn sie spielen.

Um der bewahrpädagogischen Gleichsetzung von Handlungen in Games und Handlungen in der nichtvirtuellen Realität etwas entgegensetzen zu können, wird weiter unten im Text auf eine Idee des Philosophen Gilbert Ryle zurückgegriffen. Dieser behandelt im achten Kapitel seines Der Begriff des Geistes den Begriff der Vorstellung und kommt zu dem Schluss, dass das Sich-vorstellen in einem anderen Modus abläuft als etwas zu sehen. Auch wenn wir uns etwas bildlich vorstellen, so sehen wir es nicht, sondern ´sehen´ es. 16

Diese Unterscheidung von Sehen als Wahrnehmungsakt und ´Sehen´ als Vorstellungsakt soll auf Games angewandt werden, um zu zeigen, dass es einen Unterschied von töten und ´töten´ gibt. Ersteres ist der in der nicht­virtuellen Realität ausgeführte Akt, letzterer der, der im Game getätigt wird. Oftmals entstehen nämlich die Bauchschmerzen dann, wenn Kinder und Jugendliche, wie gesagt, davon reden, dass sie Gegner töten, wobei sie sie ja lediglich ´töten´ meinen. Dies – also die Gleichsetzung von virtueller und nichtvirtueller Gewalt – könnte der Grund sein, warum mediale Gewalt in der Regel bewahr­pädagogisch behandelt wird. Hier soll jedoch dafür plädiert werden, dass man die Wahr­nehmung genau dieses Unterschieds bei jungen Rezipienten zu schärfen hat – und dafür ist eine Beschäftigung mit ent­sprech­en­den In­halten und den Nutzungs­präferenzen der Rezipienten unerlässlich. Im vorliegenden Beitrag soll es also um die Frage gehen, in­wie­fern gerade gewalt­haltige Spiele als Medium für Vermittlung von Wert­ur­teils­kom­petenz nützlich sein können, aus­ge­hend von der Prämisse, dass die Schülerinnen und Schüler nicht als leere Wachstafeln solcherlei Medien rezipieren, sondern immer schon in bestimmte Wertgefüge eingebunden sind und mit und durch diese/n ihre rezipierten Medien bewerten. Es soll dargelegt werden, warum gerade in gewalthaltigen Games Potential zur Schulung der Werturteilskompetenz liegt. Außerdem soll gezeigt werden, warum gerade gewalthaltige Games für die Sicht­bar­mach­ung des Unter­schieds von virtueller und nicht­virtueller Realität genutzt werden können.

Ethik und Ethikunterricht

Um dies darzulegen, ist es zunächst notwendig abzuklären, was man ei­gent­lich unter Ethik bzw. dem Ethik­unterricht verstehen kann. Ethik ist als jene Wissenschaft zu verstehen, deren Unter­suchungs­gegen­stand die Moral ist, welche ein mehr oder weniger komplexes Netz­werk an Über­zeugungen und Gedanken­gängen hinsichtlich dessen, was richtig und falsch ist, dar­stellt. 17 Ethik als Wissen­schaft kann deskriptiv sein, indem sie vor­handene Wert- und Moral­vorstellungen aufzeigt, sie kann meta­theoretisch arbeiten, wenn sie sich etwa sprach­analytisch mit sich selbst beschäftigt, sie kann normativ sein, wenn sie sich mit der Frage aus­ein­ander­setzt, wie grund­sätzlich ge­han­delt werden sollte und dies zu begründen versucht, und sie ist an­ge­wandt, wenn sie bestimmte Praxis­felder analysiert und unter Ein­beziehung der Sach­gesetz­mäßigkeiten auf selbige bezogen wird 18. Dieser Umfang an Ebenen macht deutlich, dass sich die Ethik längst aus der reinen Moral­philosophie heraus- und zu einem Wissen­schafts­komplex weiter­ent­wickelt hat, der alle Lebens- und Handlungs­bereiche des Menschen berührt. Die medien­ethische Frage­stellung dieses Beitrags ist als Teil der an­ge­wand­ten Ethik zu verorten.

Der Komplexität der wissenschaftlichen Leitdisziplin schließt sich das Schul­fach Ethik durch unter­schiedliche Aus­richtungen an. Ethik­unterricht kann die philosophischen Ursprünge bestimmter Gedankengänge be­leuch­ten, konkrete Ereignisse aus den Lebens­welten der Schülerinnen und Schüler auf­greifen und unter­stützend bei deren Reflexion und Bewertung ein­wirken, bestimmte moral­philosophische Konzepte beibringen und jener Unter­richts­ort in der Institution Schule sein, in dem die Fähigkeit zur Reflexion bestehender Normen und Werte so ausgebildet wird, dass die daraus fol­gen­de (Wert-)Urteils­kompetenz, die man auch als „moralisch-praktische[] Urteilskraft“ 19 bezeichnen kann, die eigene Lebens­praxis unterstützt. Ziel des Ethik­unter­richts ist also nicht nur die Vermittlung bestimmter Werte, denn diese bringen die Schülerinnen und Schüler zu Teilen schon mit, sondern die Fähigkeit, ihre Wert­haltungen und Präferenzen – ihre „[e]valuative[n] Ein­stellungen“ 20 – auf ihre Legi­timier­bar­keit, etwa durch Ver­all­ge­mei­ner­bar­keit und inter­subjektive Teil­barkeit, hin zu überprüfen und ihr Handeln gemäß ihrem moralisch-praktischen Urteil gestalten zu können. Der Vorrang der Werturteilskompetenz vor der Wertevermittlung wird auch dadurch be­grün­det, dass sie Orientierung  im  Werte­pluralismus erlaubt – und zwar eine Orientierung, die sich nicht auf einen festen, weniger flexiblen und wie auch immer gestalteten und begründeten Werte­kanon beruft, sondern offen bleibt für Wert­aus­hand­lungs­pro­zes­se, die sich gerade unter den Be­ding­ung­en der Globalisierung, des Web 2.0 und der damit ein­her­ge­hen­den „Pro­dutzung“ 21, also der Möglichkeit von Rezipient_Innen, die Rolle der Pro­du­zent_Innen einnehmen zu können, ergeben.

Die Werturteilskompetenz gibt jene intellektuelle Bewegungsfreiheit, die es dem Individuum erlaubt, sich zwischen Extremen wie Relativismus und Dog­ma­tismus zu bewegen und so erfolgreicher auf die moralischen An­for­der­ungen der Umwelt zu reagieren. So kann das eigene Ver­halten nicht nur am Anderen und an anderen, sondern an eigenen, begründeten und in­ter­subjektiv begründbaren Maß­stäben ausgerichtet werden. Der Erwerb von Wert­ur­teils­kompetenz heißt also nicht, dass Schülerinnen und Schüler Werte vermittelt bekommen und lernen, diese „Werte anzuwenden, son­dern begründete Werturteile abzugeben und daran […] [ihr] eigenes Handeln auszurichten.“ 22 Sie ist also eine Begründungskompetenz, die mit einer Handlungskomponente verbunden wird. Die Schülerinnen und Schüler sollen dabei lernen, dass sie ihr Handeln an verallgemeinerbaren Maximen orientieren sollten, weil diese fähig sind, ihren Geltungsanspruch auf Richtigkeit intersubjektiv einzulösen. Denn,

[d]ass man Entscheidungen und Einstellungen vor sich selbst und anderen begründen muss, dass Beziehungen auf wechselseitiger Anerkennung und Achtung beruhen, das kennen [Kinder und] Jugendliche. Das Wissen, das Schüler erwerben, wenn sie in Methoden, Begriffe und Modelle eingeführt werden, an denen sie sich orientieren können, wenn sie Beurteilungen, Haltungen und Einstellungen auf ihre Angemessenheit, auf ihre Berechtigung hin überprüfen wollen, ist philosophisches Wissen und im Speziellen ein Wissen aus dem Bereich der Praktischen Philosophie, ethisches (Fach-)Wissen. 23

Werturteilskompetenz als Ziel des Ethikunterrichts bedeutet, dass Schü­ler­innen und Schüler ein solches ethisches Fach­wissen erwerben und an­zu­wen­den lernen. Dadurch lernen sie auch ihre sozialisatorisch vor­ge­präg­ten Wert­haltungen, aber auch medial Dar­ge­stelltes sys­te­matisch zu reflektieren. Dazu gehört beispielsweise, dass sie formale Be­grün­dungs­modelle erlernen, diese reflektieren und kritisieren und, wenn sie nicht gänzlich verworfen werden, anwenden können, um ihre handlungs­leitenden Urteile zu prüfen. Die Perspektive der ein­zu­be­zieh­en­den Personen soll dabei stetig er­weitert werden, sodass letzten Endes die Per­spektive des „ge­ner­ali­sier­ten An­de­ren“ 24 mit in die Handlungs­orientierung einfließt.

Der Unterschied von Sehen und ´Sehen´

Der Philosoph Ryle führt für seine Unterscheidung von Sehen als Wahr­neh­mungs­akt und ´Sehen´ als Vorstellungsakt als anschauliches Beispiel ein kleines Mädchens an, welches sich vorstellt, dass ihre Puppe anfängt zu lächeln. Die Verzerrung der Züge der Puppe, die das Mädchen sich vorstellt, sei dabei – so Ryle – kein beobachtbares physikalisches Phänomen, sondern nur ein Phänomen der Imagination, die in jenem Moment dem Mädchen vorstellig werde. 25

Dieser Gedankengang führt unterschiedliche Konsequenzen nach sich. Zum einen folgt daraus, dass unsere Vorstellungen auf der wahrgenommen Realität aufbauen. Sie repräsentieren sie mental, sind aber nicht mit ihr identisch. Die Imagination ist die verzerrte Form der Manifestation, das heißt die Vorstellung ist eine Transformation der wahrgenommenen Welt. Diese Erkenntnis führt zu einer Distanzierung zwischen Innen- und Außenwelt und zur Korrektur der Annahme, innere Bilder würden äußeren ent­sprech­en. In der Akzeptanz der eigenen Vor­stellung als Kon­struk­tions­pro­zess liegt auch die Akzeptanz dies beim Gegenüber anzunehmen. Das Interesse am fremden Konstruktionsprozess, an der Kommunikation des eigenen sowie am Abgleich derselben, wird somit erhöht. Eine andere Konsequenz besteht darin, diesen Transformations- bzw. Konstruktionsprozess als eine in­di­vi­du­elle Leistung zu begreifen, die auf individuellen Möglichkeiten und Vor­er­fahr­ungen basieren. Nimmt man diesen Gedanken ernst, bedeutet es eine Schwelle zwischen Innen- und Außenwelt, eine Schwelle zwischen Medium und Medienvorstellung, bzw. Medienwirkung zu akzeptieren.

Zum anderen ergeben sich Konsequenzen hinsichtlich der weit verbreiteten Annahme, in digitalen Spielen würde ‚getötet’ werden, was von den Spieler_ Innen als solches auch automatisch empfunden werden würde. Auch wenn das Phänomen der Involvierung beschrieben wurde 26, so kann doch hier von zwei verschiedenen kognitiven Prozessen gesprochen werden, die als solches auch unterschieden werden müssen. So wie die Vorstellung des Rezipierten nicht mit dem visuellen Eindruck gleich­zu­setzen ist, so ist die graphische Gewaltdarstellung grundsätzlich weder kausal an bestimmte gewalthaltige, gewaltbejahende oder gewaltfördernde Vorstellungen ge­bun­den, noch wird sie zwangsläufig als reale Gewalt wahrgenommen.

Die Prämisse, dass zwischen sensitiv wahr­ge­nommener Gewalt bzw. Gefahr und vorgestellter Gefahr unter­schieden wird, macht sich die Psycho­therapie zunutze. In der orthodoxen und kognitiven Verhaltens­therapie werden Angst­er­kran­kungen u.a. damit behandelt, dass die Patient_Innen in die Lage versetzt werden, sich sukzessive angst­machenden Vor­stellungen an­zu­näh­ern und sich ggf. auch wieder aus der Vor­stellung zu lösen. 27 Nun könnte man als Argument für eine starke indirekte Medien­wirkung und im Sinne der Bewahr­pädagogik anführen, dass der Sinn dieser Therapie mit Ima­gi­na­tions­ansatz darauf abzielt, in den ent­sprechenden Situationen ein Ver­halten zu generieren, dass zuvor In-Sensu, also in und durch die Vor­stellung eingeübt wurde. So würden aus digitalen Spielen mit Ge­walt­dar­stel­lung­en Lern­simulationen für tat­sächliche Gewalt im Alltag werden.

Diese Ar­gu­men­ta­tion vergisst jedoch die inter­subjektive Natur solcher the­ra­peu­tischer Pro­zesse, sprich – diese therapeutischen Ima­ginations­prozesse werden von ausgebildeten und professionellen Psycho­therapeuten begleitet. Grund­sätz­lich verhält es sich im Unterricht so, dass Schul­stoff nicht einfach den Schüler_Innen vorgesetzt wird und diese damit alleine gelassen werden; Schul­stoff wird über die Lehrer_Innen dargeboten und mit den Schüler_ Innen zusammen reflektiert. Im besonderen Maße gilt dies auch für den Ethik­unterricht.
Für Gewalt­dar­stellungen im Ethik­unterricht bedeutet dies grund­sätzlich, dass die Unter­scheidung zwischen Gewalt, Gewalt­darstellung und Gewalt­vor­stellung zum Thema gemacht werden kann, da die Lehrer_Innen über das fach­wissenschaft­liche, päda­go­gische und psycho­logische Wissen verfügen und die Optionalität von Gewalt ebenfalls zum Thema gemacht werden kann, was an späterer Stelle in diesem Beitrag erörtert werden soll.

Abstumpfung durch Gewaltdarstellung in Games(?)

David Waddington versucht in seinem Text Locating the wrongness in ultra-violent video games herauszufinden, warum Games mit realistischer und zum Teil drastischer Gewalt­dar­stellung – trotz des Einräumens, dass „there is no proven causal connection between video-game violence and real violence“ 28 – in die Nähe des moralisch Schlechten oder zu­min­dest Be­denk­li­chen gerückt werden können. Auf Baudrillard zurück­greifend spricht er davon, dass die realistische Simulation von Gewalt und gewalt­tätigen Hand­lungen dazu führt, dass reale Gewalt­taten an Wert ver­lie­ren, dass also die Vor­stellung, dass sie falsch sind, verschwinden oder zumindest ge­ring­er werden könnte. 29 Sie könnten als normal und darauf auf­bauend als gang­bare Handlungs­option wahrgenommen werden. Die Idee der moralischen Falschheit bestimmter Hand­lungen, so Waddington, ver­schwindet, wenn man zu oft der nah an die Wirk­lich­keit he­ran­kom­men­den Si­mu­la­tion moralisch falscher Hand­lungen ausgesetzt ist oder diese sogar durch die eigenen Ein­ga­ben hervorbringt. 30

Essentially, I am arguing that wrongness can be devalued in the same way that money can. If a large supply of counterfeit money, which could not be distinguished from real money, were to enter the money supply, money would become less valuable. Likewise, if simulated acts were possible that look wrong, seem wrong, and thus cannot easily be distinguished from real wrong acts, wrongness becomes less useful as a moral value. In other words, it becomes devalued. 31

Es lässt sich nicht leugnen, dass es zu Gewöhnungen und Habitualisierungen kommen kann und man beispielsweise – nach wiederholter Rezeption – weniger geschockt von bestimmten Inhalten ist oder sich auch bestimmte Verhaltens­dispositionen ausbilden können 32. Dennoch – und darauf ver­weist Waddington wohl eher un­ab­sicht­lich – ist es kein Automatismus, dass es zu einer Gleich­stellung von virtueller und nicht­virtueller Realität und zu einer Senkung der Hemm­schwelle in der nicht­virtuellen Realität kommt, wenn man realistische Gewalt­dar­stellungen rezipiert. Denn auch wenn er für Spieler_Innen befürchtet, dass sich nicht­virtuelle und virtuelle Realität zum Nach­teil der ersteren vermischen und Spieler_Innen verstärkt bereit sein könnten, gewalt­tätige Hand­lungen in der nicht­virtuellen Welt aus­zu­führen, beschreibt er sein Spiel­erlebnis von Manhunt, das er für seinen Artikel gespielt hat, so:

When I played Manhunt in the course of my research for this essay, I realized, intellectually, that I was in a simulation, but the simulation felt uncomfortably real to me while I was playing it. Of course, I also realized that my virtual acts were not the same as real transgressions, but the acts certainly felt transgressive to me while I was committing them. 33

Er beschreibt, dass genau das Gegenteil dessen, was er befürchtet – die Entwertung realer Gewalt durch das Ausgesetzt-sein drastischer virtueller Gewalt – eintritt. Denn statt die nicht­virtuelle Gewalt weniger drastisch zu sehen, wird ihm gerade die Unter­schied­lichkeit virtueller und nicht­virtueller Gewalt deutlich. Statt die Hemmschwelle für Gewalt­akte in der nicht­vir­tu­el­len Realität zu senken, schärft die explizite Gewalt­dar­stellung seinen Sinn für den Unter­schied, der zwischen ihnen herrscht. Das Un­wohl­sein, das er beim Tätigen der virtuellen Hand­lungen fühlt, kombiniert mit dem gleich­zeitigen Nicht­abbrechen der selbigen, ist ein Hinweis darauf, dass er gerade diesen Unter­schied fest­stellt. Statt zu einer Abwertung der mo­ra­li­schen Schlech­tig­keit der nicht­virtuellen Handlung kommt es zunächst einmal zu einer ver­stärkten Wahr­nehmung der Unter­schied­lichkeit von Hand­lungen in der virtuellen und nicht­virtuellen Realität.
Das soll natürlich nicht heißen, dass Kinder und Jugendliche nun gänzlich ohne Begleitung Gewaltdarstellung in den Medien ausgesetzt sein sollen. Denn Wirkungen auf die Rezipient_Innen bleiben nicht aus. Es sollte le­dig­lich darauf hin­gewiesen werden, dass die Dar­stellung von Gewalt in Medien nicht zwangsweise zu einer Entwertung von Gewalt und zu einer Senkung der Hemmschwelle führt, sondern Darstellungen inszenierter Gewalt – gerade drastische – dazu dienen können, den Unterschied zwischen vir­tu­el­ler und nicht­virtueller Gewalt zu schärfen.
Sinnvoll ist deshalb nicht ein kategorisches Verbot der Rezeption oder eine „Medienmoralisierung“ 34 – denn unter den Bedingungen des Internets und damit der hohen Zugänglichkeit und geringen Kontrollierbarkeit vieler un­ge­eig­ne­ter oder gefährdender Medieninhalte ist dies faktisch nur schwer mög­lich bzw. nicht effektiv. Vielmehr sollte die An­schluss­kommunikation mit Kindern und Jugendlichen gesucht und das Rezipierte und die Wir­kung­en dessen auf die Rezipient_Innen thematisieren werden. So soll versucht werden der befürchteten Grenz­verwischung entgegen zu wirken. „Der ,stille Dauernutzer’ kann gefährdet sein - weniger der kommunikative Ge­le­gen­heits­re­zi­pient.“ 35 Wichtig ist jedoch, dass diese Thematisierung statt­findet. Die Unter­schiedlichkeit der Welten, der gerecht­fertigte unter­schied­liche Umgang mit Reizen aus diesen und die daran anschließenden un­ter­schied­lichen Be­wer­tungs­maß­stäbe müssen herausgearbeitet oder zumindest bewusst gemacht werden. Jürgen Fritz spricht von verschiedenen Welten.

Neben der realen Welt („Realität“) existieren für Menschen die Traumwelt, die mentale Welt, die Spielwelt, die mediale Welt und schließlich die virtuelle Welt. Diese verschiedenen Welten bezeichnen „Orte“, in denen spezifische Umgehensweisen mit den Reizeindrücken stattfinden. Die Welten sind Ergebnis sozialer Vereinbarungen, wie im menschlichen Gehirn die Reizeindrücke zuzuordnen sind: Was zur jeweiligen Welt gehört, wie es zu verstehen ist, woran man erkennt, dass man sich in der Welt aufhält und dass man sie wieder verlässt 36.

Games, die gewalthaltig sind und damit zunächst abschreckend auf manche Rezipient_Innen wirken, können also genutzt werden, um genau diese Un­ter­schei­dung zu thematisieren. Doch auch wenn die Rezipient_Innen die virtuelle Gewalt anziehend finden, können sie genutzt werden. Denn wäh­rend es bei den einen Anstoß erregt und man genau diese Reaktion nutzen kann, um die Ver­schie­den­heit heraus­arbeiten zu können, kann man die Faszination dafür und die oft damit ein­her­gehende Apologie des Nur-ein-Spiel-seins ebenfalls dafür nutzen. Zum Genuss wird die virtuelle Gewalt dadurch, dass sie eben virtuell ist. So kann auch eine positive Ein­stel­lung gegenüber virtueller Gewalt genutzt werden, um den Unter­schied heraus­zu­arbeiten. Games könnten als Ort des Probe­handelns 37  pädagogisch erkannt und genutzt werden und gerade anstößige Inhalte oder die Mög­lich­keiten des Zeigens von Ver­haltens­weisen, die in der nicht­virtuellen Realität moralisch falsch wären, könnten genutzt werden, um die Unter­schied­lich­keit der nicht­virtuellen und virtuellen Welt und darauf aufbauend auch die Unter­schiede in der moralischen Be­wer­tung­en derselben deutlich zu machen.

Gewalt als Werteevokator

Daneben kann die Kon­fron­ta­tion mit Gewalt­dar­stellungen in Medien bzw. digitalen Spielen auch anderweitig genutzt werden. Die Kon­fron­tation be­rührt nicht nur das Thema Gewalt als solches und bietet es als all­gemeines Thema an, sondern fordert auch die sozialisierten Gedanken und Werte dazu heraus. Gewalt­dar­stellungen in digitalen Spielen können somit als Wer­te­evo­ka­to­ren zum Thema Gewalt gesehen werden, was die in­di­vi­duellen Ein­stel­lungen der Schüler_Innen im Unter­richt sichtbar werden lässt, mit denen an­schließ­end gearbeitet werden kann, gleich ob den Wert­ein­stel­lungen teilweise, ganz, oder gar nicht zugestimmt werden kann. Diese evo­zier­ten Wert­vor­stel­lungen, aber auch das medial Dar­ge­stel­lte, können dann reflektiert werden – dadurch können Schülerinnen und Schüler dazu bewegt werden, ihre durch Sozialisation oder eigene Über­legung er­wor­ben­en Wert­hal­tung­en zu begründen – und zwar systematisch und methodisch geleitet. Dies entspricht der geforderten Fähigkeit, begründete Wert­urteile abgeben zu können.

Die Gewaltdarstellungen sind immer narrativ eingebettet und damit Kon­se­quenz einer bestimmten – gewalt­evozierenden – Hand­lung, sei es von Haupt- oder Neben­charakteren. Diese Hand­lungen können rein narrativ sein und die Geschichte des Spiels weiterführen und beispielweise in Sequenzen auftauchen, auf welche die Spieler_Innen keinen Einfluss haben. Die gewalt­haltigen Hand­lungen können auch Teil der Spiel­mechanik sein und die Funk­tion eines Problem­löse­mittels haben. Abhängig von der Struktur des Spiels, kann Gewalt dabei unter­schiedliche Grade der Härte aufweisen, oder nur eine Form der Lösungs­möglichkeit neben anderen sein. In den letzten 15 Jahren sind vermehrt digitale Spiele erschienen, die den Spieler_Innen verschiedene Optionen anbieten, mit einer Problem­situation fertig zu werden. So kann man im Spiel Deus Ex 38 als Agent einer Re­gier­ungs­orga­ni­sation nicht nur unter­schied­liche Gewalt­grade anwenden – man kann Gegner wahl­weise betäuben oder letal aus­schalten, was Einfluss darauf hat, wie Neben­spiel­charaktere auf den Haupt­charakter reagieren – sondern kann auch durch das Ver­wenden anderer Fähig­keiten den meisten Kon­fron­ta­ti­on­en aus dem Weg gehen. Neben diesen options­lastigen digitalen Spielen mit Gewalt­darstellungen, gibt es auch Spiele ohne weitere Optionen, wobei nur der Gebrauch von letaler Gewalt, sowohl durch Narration als auch durch Spiel­mechanik, vorgegeben ist.
Die optionale Eindimensionalität dieser Spiele lässt diese jedoch nicht als pädagogische Möglichkeit verschwinden – das Gegenteil ist der Fall. Eindimensionale Spiele dieser Art erinnern daran, dass vieles wie ein Nagel aussieht, wenn man sich nur im Besitz eines Hammers wähnt und keinerlei andere Werkzeuge zur Verfügung hat. In Anlehnung an diese Metapher und unter Verweis auf die Möglichkeiten anderer digitaler Spiele, kann gerade diese Eindimensionalität zum Thema gemacht werden, sofern man sie mit der Fragestellung versieht, welche anderen Handlungsoptionen dem Spiel bzw. dem Spielerlebnis, sowohl was Narration als auch Spielmechanik angeht, nach Einschätzung der Schüler_Innen (aus ethischer Sicht) gut getan hätten. Die Schüler_Innen nehmen hierbei durch Moderation des Lehrers die Rolle von Expert_Innen und Spieledesigner_Innen ein, was den Bezug zur Lebenswelt durch eigene Spielerfahrungen schafft. Ausgehend von diesem Strukturmoment der Differenzierung und De- und Rekonstruktion lassen sich didaktische Brücken zu Situationen des Alltags und der Politik schlagen, wobei gefragt werden kann, welche strukturellen und rechtlichen Bedingungen verändert werden können, um die Handlungsoptionen über das Mittel der Gewalt hinaus zu erweitern. Differenzierung meint die Unterscheidung zwischen virtueller und realer Gewalt, während De- und Rekonstruktionsprozesse dann geschehen, wenn Spiele exemplarisch auf Multioptionalität kritisch untersucht und ggf. theoretisch auf diese erweitert werden.

Die Möglichkeit, die notwendige Differenzierung wie auch die ent­sprech­en­den De- und Re­kon­struk­tions­pro­zesse zu leisten, ist Teil und Aufgabe aktueller Ethik­didak­tiken, wie z.B. der Ansatz der kompetenz­orientierten Ethik­didaktik nach Anita Rösch. Das oberste Ziel der kompetenz­orientierten Ethik­didaktik nach Rösch ist die Handlungs- bzw. Orientierungs­kompetenz im Alltag. Diese Kompetenz beruht auf der Kompetenz sich mitzuteilen und mit anderen zu interagieren. Die Inter­aktion bedarf der Möglichkeit zur Argumentation und dem ethischen Urteils­vermögen. Die Argumentation selber ist abhängig von der Analyse­fähigkeit und diese beruht auf einer geschulten Wahrnehmungs­kompetenz. Der kompetenz­orientierte Schwer­punkt nach Rösch ist hinsichtlich des Beitrags­themas im Kompetenz­bereich „Argumentieren und Urteilen“ anzusiedeln. 39 Hierbei wirkt das Thema als Evokator und Medium für sozialisierte Moral­vorstellungen und moral­philosophische Inhalte, die durch die Lehrer_Innen präsentiert werden. Didaktisch nimmt der genannte Kompetenz­schwerpunkt eine Gelenk­stelle zwischen Analyse­kompetenz und Darstellungs­kompetenz ein, was bedeutet, dass Reflexions­kompetenz propädeutisch eingeführt werden und vom Bestehen der letzteren ausgegangen werden muss. Außerdem könnten sich methodische Unterrichts­formen anschließen, in denen der Schwer­punkt auf der visuellen Präsentation des zuvor behandelten liegt, sprich – man könnte die Differenzierung zwischen virtueller und realer Gewalt und die optionale Über­arbeitung bestehender Spiele visuell darstellen, wie z.B. durch Poster, die das Gelernte grafisch darstellen. Auch wenn die ethische Urteils­kompetenz als Teil des Kompetenz­bereichs „Argumentieren und Urteilen“ nur indirekt an der Handlungs­kompetenz beteiligt ist, muss sie doch als notwendige Bedingung des erfolgreichen späteren Handelns im Alltag wahrgenommen werden.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass gerade digitale Spiele mit dras­ti­schen Gewalt­darstellungen im Ethik­unterricht genutzt werden können, um die Differenzierung zwischen virtueller und realer Gewalt­rezeption zu för­dern. Darüber hinaus lassen sich Wert­präferenzen evozieren und durch die pro­fes­sio­nelle Begleitung der Lehrer_Innen entsprechend bearbeiten. Dazu kommt in diesem Rahmen auch die Mög­lichkeit, Gewalt als Phänomen eines multi­optionalen Lebens zu begreifen und Multi­optionalität durch dif­fe­ren­zier­te Betrachtungs­weise da herstellen zu wollen, wo sie unmittelbar noch nicht gegeben ist. Dies bedeutet, dass digitale Spiele als lebensnahes Phä­no­men der Schüler_Innen zu betrachten sind, die durch die pro­fes­sio­nelle Bearbeitung der Lehrer_Innen zum Transfer in andere Lebens­bereiche anregen. So können gewalt­tätige Konflikte als Situationen gesehen werden, die nicht zwangsläufig durch das Mittel der Gewalt gelöst werden müssen, wenn andere Optionen aktiv wahr­genommen und aufgesucht werden. Durch erfolgreichen Transfer kommt politischen Konflikten im Umkehr­schluss eine größere Ernst­haftigkeit zu, da die Frage der friedlichen Einigung auch als Ausschluss der Option der Gewalt gesehen werden kann, die drohend im Raum steht. Gewalt­losigkeit wird somit nicht zu einem Automatismus, sondern zu einer präferierten Option, die aktiv gewählt werden muss.

Die Frage, ob drastische Gewalt­dar­stellungen in digitalen Spielen ihren Platz im Ethik­unterricht haben können, wird von den Verfassern dieses Beitrags bejaht. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass dies explizit der pro­fes­sio­nellen Begleitung durch die Lehrer_Innen bedarf, was auch als Forderung zu verstehen ist, den digitalen Spielen als Lebens­welt­phänomen insbesondere von Kinder und Jugendlichen eine verstärkte Auf­merk­samkeit im Lehramts­studium zukommen zu lassen. Um das Transfer­potential der Multi­optio­na­li­tät zu erhöhen, wäre zu der Thematik der Gewalt auch fächer­über­greifender Unterricht sehr empfehlens­wert. Trotz des auf­ge­zeigten Potentials gewalt­darstellender digitaler Spiele ist aus rechtlichen Gründen seitens der Lehrer_Innen darauf zu achten, dass die gezeigten Spiele den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Jedoch dürfen die entwicklungs­psychologischen Gründe auch nicht außen vor gelassen werden. Alters­beschränkungen haben ihre Berechtigung und auf sie ist bei der Auswahl der Medien­inhalte für den Unterricht ebenfalls zu achten. Aus didaktischen Gründen wäre eine Liberalisierung der entsprechenden aktuellen Gesetzes­lage zumindest für die Schule jedoch sehr hilfreich, zumindest dann, wenn man mit Gewalt­darstellungen arbeiten möchte, die die Schülerinnen und Schüler rezipieren, die aber aus rechtlichen Gründen nicht benutzt werden können.

Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien

Spiele

Ubisoft Montreal: Assassins Creed 2 (PC). Montreal: Ubisoft 2009.
IonStorm Austin: Deus Ex (PC). Austin: Eidos Interactive / Square Enix 2000.

Texte

Beil, Benjamin: Game Studies. Eine Einführung. Münster: Lit Verlag. 2013.
Brosius, Hans-Bernd: Medienwirkung. In: Bentele, Günter / Brosius, Hans-Bernd /Jarren, Otfried (Hg.): Öffentliche Kommunikation: Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft (Studienbücher zur Kommunikations- und Medienwissenschaft). Wiesbaden: Springer VS. 2003, S. 128–133.
Bruns, Axel: Vom Prosumenten zum Produtzer. In: Blättel-Mink, Birgit / Hellmann, Kai-Uwe (Hg.): Prosumer Revisited: Zur Aktualität einer Debatte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2009, S. 191– 205. http://snurb.info/files/Vom%20Prosumenten%20zum%20Produtzer%20%28final%29.pdf [01.10.2015]
Davidson, Donald: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. Frankfurt: Suhrkamp Verlag. 2013
Edelmann, Walter / Wittmann, Simone: Lernpsychologie. Mit Online-Materialien. 7., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz Verlag. 2012.
Fritz, Jürgen: Wie Computerspieler ins Spiel kommen. Theorien und Modelle zur Nutzung und Wirkung virtueller Spielwelten. Berlin: Vistas Verlag. 2011.
Jörissen, Benjamin: George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Perspektive des Sozialbehaviourismus. In: Benjamin Jörissen / Jörg Zirfas (Hg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2011, S. 87-108.
Kerlen, Dietrich. Jugend und Medien in Deutschland. Eine kulturhistorische Studie, Hg. von Matthias Rath und Gudrun Marci-Boehncke. Weinheim: Beltz. 2005
Marci-Boehncke, Gudrun / Rath, Matthias: Der Gewalt ihre Freiheit. Der Horror-Film als jugendliches Wertekonstrukt. Zugänglich unter medienimpulse-online. Ausgabe 2/2010. http://medienimpulse.erz.univie.ac.at/articles/view/215 [02.10.2015]
Pfeiffer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. 2009.
Platon: Phaidros. In: Platon: Werke in acht Bänden – Band 5 - Griech. /Dt. Die deutsche Übersetzung gemäß der Schleiermacher‘schen, teilweise der Hieronymus-Müller‘schen und teilweise Neuübersetzung. Griechischer Text aus der Sammlung Budé (Les Belles Lettres, Paris). 6. Auflage. Herausgeber: Gunther Eigler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2011.
Rath, Matthias: „Werte-volle“ Medien? Medienpädagogik zwischen Wertevermittlung und Werturteilskompetenz. In: merz wissenschaft 59,3. 2015, S. 10-18.
Rösch, Anita: Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht: Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER. Münster: Lit-Verlag. 2011.
Ryle, Gilbert: Der Begriff des Geistes. Übersetzer: Kurt Baier. Stuttgart: Reclam. 1986.
Sicart, Miguel: The Ethics of Computer Games. Massachusetts Institute of Technology University Press Group. 2009.
Spitzer, Manfred: Vorsicht Bildschirm!: Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. 2006.
Thyen, Anke: „Ethik“ – ein Schul- und Studienfach zwischen Anspruch und Aufgaben. In: Karl­Heinz Fingerhut/Hartmut Melenk/Matthias Rath/Gerd Schweizer (Hg.): Perspektiven der Lehrerbildung – das Modell Baden-­Württemberg. 40 Jahre Pädagogische Hochschulen. Freiburg im Breisgau: Fillibach. 2002, S.179‐189.
Thyen, Anke. Ethikunterricht. In: WiReLex – Wissenschaftlich-Religionspädagogisches Lexikon im Internet. Hg. von Mirjam Zimmermann/Heike Lindner. 2015 Online: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100092/ [18.08.2015].
Trepte, Sabine / Reinecke, Leonard: Medienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. 2013.
Unterhuber, Tobias: Entscheidungszwang und Probehandeln. Beobachtungen zur gegenwärtigen Entwicklung im Computerrollenspiel. In: Paidia – Zeitschrift für Computerspielforschung. 2011 https://www.paidia.de/?p=238 [03.10.2015]
Waddington, David I.: Locating the wrongness in ultra-violent video games. In: M.J. van den Hoven (Hg.): Ethics and Information Technology 9. 2007, S. 121–128.

Bilder

CC BY-NC 2.0 Generic, PlayStation Europe (First Look: Assassin's Creed III - Sneak Attack Contextual Cover), https://www.flickr.com/photos/playstationblogeurope/7163284611/in/photostream/ [18.12.2015].

  1. Ubisoft: Assassins Creed II. 2009. []
  2. Brosius: Medienwirkung. 2003, S. 132. []
  3. ebd., 133. []
  4. Sicart: The Ethics of Computer Games. 2009, S. 225. []
  5. Vgl. Unterhuber: Entscheidungszwang und Probehandeln. 2011. []
  6. Kerlen: Jugend und Medien in Deutschland.  2005, S. 43. []
  7. Vgl. Platon: Phaidros. 2011. []
  8. Brosius: Medienwirkung. 2003, S. 131. []
  9. Vgl. ebd. []
  10. Spitzer: Vorsicht Bildschirm!. 2006. []
  11. Waddington: Locating the wrongness in ultra-violent video games. 2007. []
  12. Brosius: Medienwirkung. 2003, S. 133. []
  13. Vgl. Rösch 2011 Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht, 249. []
  14. Marci-Boehncke/Rath: Der Gewalt ihre Freiheit. 2010, S. 6. []
  15. Vgl. ebd., S. 6. []
  16. Vgl. Ryle: Der Begriff des Geistens (1949). 1986, S. 336f.. []
  17. Vgl. Pfeiffer: Didaktik des Ethikunterrichts. 2009, S. 32. []
  18. Vgl. ebd., S. 36. []
  19. Thyen: Ethikunterricht. 2015, <https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100092/> [18.08.2015] []
  20. Davidson: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. 2013, S. 214 []
  21. Vgl. Bruns: Vom Prosumenten zum Produtzer. 2009, S. 5. http://snurb.info/files/Vom%20Prosumenten%20zum%20Produtzer%20%28final%29.pdf  [01.10.2015] []
  22. Rath: „Werte-volle“ Medien?. 2015, S. 17. []
  23. Thyen: „Ethik“ – ein Schul- und Studienfach zwischen Anspruch und Aufgaben. 2002, S. 184. []
  24. Jörissen: George Herbert Mead. 2010, S. 101. []
  25. Vgl. Ryle: Der Begriff des Geistens (1949). 1986, S. 338 []
  26. Vgl. Beil: Game Studies. 2013, S. 22f.. []
  27. Vgl. Edelmann/Wittmann: Lernpsychologie. 2012, S. 60. []
  28. Waddington: Locating the wrongness in ultra-violent video games. 2007, S. 121. []
  29. Vgl. ebd., S. 125f.. []
  30. Vgl. ebd., S. 127 []
  31. ebd. []
  32. Vgl. Trepte/Reinecke: Medienpsychologie. 2013, S. 140 – 151 []
  33. ebd. []
  34. Kerlen: Jugend und Medien in Deutschland.  2005, S. 43. []
  35. Marci-Boehncke/Rath: Der Gewalt ihre Freiheit. 2010, S. 6. []
  36. Fritz: Wie Computerspieler ins Spiel kommen. 2011, S. 89. []
  37. Vgl. Unterhuber: Entscheidungszwang und Probehandeln. 2011. []
  38. Ion Storm Austin: Deus Ex. 2000 []
  39. Vgl Rösch: Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. 2011, S. 151ff.. []

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Müller, FabianMaisenhölder, Patrick: "„Wo andere begrenzt sind, von Moral oder Gesetz…“ – Über das Potential von gewalthaltigen Games für die Schulung der Werturteilskompetenz im Ethikunterricht". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 21.12.2015, https://paidia.de/wo-andere-begrenzt-sind-von-moral-oder-gesetz-uber-das-potential-von-gewalthaltigen-games-fur-die-schulung-der-werturteilskompetenz-im-ethikunterricht/. [21.11.2024 - 09:07]

Autor*innen:

Fabian Müller

Patrick Maisenhölder

Patrick Maisenhölder, Studierender im Fach Ethik für das Lehramt an Realschulen und Mitarbeiter der Forschungsgruppe Medienethik an der PH Ludwigsburg. Arbeitsschwerpunkt: Ethische Reflexion auf Games.