Becoming Shogun is hard work - 'Shogun 2' und das japanische Mittelalter
Wir sind der stolze Clan der Shimazu. Unser Daimyo, Shimazu Takahisa, reitet an der Spitze einer Streitmacht aus Katana Samurai, Yari Ashigaru und fanatischer Sōhei durch die Täler der Provinz Hyuga. Ihr Ziel ist Bungo: Die Hauptstadt des Shoni Clans. Die Shoni sind schwach. Ihr Daimyo hat sich den neuen Lehren der westlichen Barbaren unterworfen und sich durch die Hinwendung zum "Christentum" diplomatisch isoliert. Die Amako und Sagara Clans – ebenfalls Unterstützer der traditionellen buddhistischen Lehre- wurden durch großzügige Bestechungsgelder still gehalten. Die mächtigen Mori, Besitzer der gesamten Südspitze Honshus haben sich im Ausgleich für unseren jüngsten Sohn, der die nächsten zwei Jahre als Geisel an ihrem Hof weilen wird, auf eine Allianz eingelassen.
Der Eroberung steht nichts mehr im Weg. Unsere Ninja haben den Weg ausgekundschaftet und die Zusammensetzung der feindlichen Armee ausgemacht. Alle feindlichen Agenten und Patrouillen in der Nähe wurden von unseren Metsuke unter Arrest gestellt oder bestochen. Der Sieg ist schnell und absolut. Die wenigen Ashigaru und Vasallen, die die Shoni noch für die Verteidigung ihrer Burg sammeln konnten, fallen wie Kirschblüten im Sturm. Bungo wird geplündert, der letzte Daimyo der Shoni verfasst ein Jisei, bevor er zur Rettung seiner Ehre Seppuku begeht.Der Feind ist besiegt, aber wichtige Fragen bleiben offen.
Bungo beherbergt immer noch einen Nanban-Handelshafen, in dem die bärtigen Händler aus der Ferne mit ihren fremdartigen Kleidern und Traditionen im Austausch für Silber und Gold seltene Handelsgüter aus aller Welt anbieten. Ihre Präsenz zu akzeptieren bedeutet aber nicht nur einen finanziellen Vorteil für die Shimazu. So fremdartig und widerwärtig die ungewaschenen Fremden auch sein mögen, sie gebieten über fantastische Waffen, deren Donner Pferde scheuen lässt und selbst den am schwersten gepanzerten Naginata Samurai fällen kann. Diese Macht kann uns gehören, aber nur um den Preis der Anwesenheit von "Jesuiten" in unseren Ländern, fremden Priestern, die die örtliche Bevölkerung zur Lehre des Christentums bekehren. Ist es das wert? Werden die Shimazu dem Weg und dem Schicksal der Shoni folgen? 1
Wenn die Hälfte der Wörter in dieser Beschreibung für den Leser auch gleich gut 'Bahnhof' bedeuten könnten, hat sie ihren Zweck erfüllt. So simuliert sie nämlich perfekt die grundsätzliche Verwirrung, die bei einem westlich geprägtem Spieler beim ersten Umgang mit Shogun 2: Total War entsteht.
Hilfe? Wie spielt man das?
Erklärungen zur Funktionsweise von Einheiten und Gebäuden, mit denen viele Spieler durch das Setting des Sengoku Jidai (der „Zeit der streitenden Reiche“) zum ersten Mal in ihrem Leben konfrontiert werden, liefert das Spiel auf verschiedene Weise: sowohl durch als Charakterportraits am Bildschirmrand auftauchende Ratgeber, wie auch durch ein gestuftes Tutorial. Besonders wichtig ist jedoch die durch Rechtsklicks aufrufbare Enzyklopädie, in der detailliert sowohl die Rolle des angeklickten Gegenstandes auf der Ebene der Spielemechanik 2, als auch seine Bedeutung im realen Geschichtsverlauf der Ära erklärt werden. Der Artikel zu Steuerreformen liefert so nicht nur eine Erklärung zur wechselnden Priorität materieller gegenüber finanziellen Abgaben im Verhältnis zwischen Feudalherr und Bauern, sondern merkt auch an, dass Takeda Shingen, Daimyo des Takeda Clans, als zweites Standbein seiner Reformen zwei massive Metallkessel mit sich führen ließ, in denen Feinde und gegen die neuen Regelungen verstoßende Untertanen bei lebendigem Leib gekocht wurden.
horo- Authentizität in der Form bunter Stoffballons
Die Liebe zum Detail, die sich im Aufbau der Enzyklopädie beobachten lässt, setzt sich durch alle Spielelemente fort: im exquisiten Design der Karte, den auf Leinwand- und Lackmalerei der Epoche basierten Ladebildschirmen oder dem mit Originalinstrumenten eingespielten Soundtrack ebenso wie in den Animationen und Ausrüstungsgegenständen der Einheiten auf dem Schlachtfeld: Shogun 2 sieht es als seine Aufgabe, dem Spieler eine möglichst authentische Einführung in die Epoche des Sengoku Jidai zu geben.
Dass für dieses Mehr an Authentizität auch optisch weniger vorteilhafte Veränderungen vorgenommen werden, zeigt sich im Einsatz des sogenannten horo, eines auf einem Bambusrahmen basierten Schildes in Form einer Kugel aus Seidenstoff. Auch wenn dieser Gegenstand schon in zeitgenössischen Darstellungen auf dem Rücken von Samurai dargestellt wurde, wurde er von der Forschung lange als pur dekorativ und für das Schlachtfeld ungeeignet betrachtet. Dies wurde auch schnell von den Massenmedien übernommen. Weder jidaigeki (vergleichbar mit historischen Kostümfilmen) wie Akira Kurosawas Ran, noch das Vorgängerspiel Shogun:Total War aus dem Jahre 2000 versehen ihre (berittenen) Samurai mit horo. Dies hat viele Gründe. Nicht nur die allgemeine Schwierigkeit, den etablierten Wissenskanon der Massenmedien über eine Epoche zu verändern, sondern auch der Umstand dass berittene Krieger mit bunten Ballons auf dem Rücken für das ungeübte Auge sehr viel mehr Befremden als Furcht und Respekt auslösen.
Forschungserkenntnisse der letzten Jahre haben jedoch demonstriert, dass das horo einen überraschend guten Schutz gegen Pfeile bietet: der geschichtete Seidenstoff lenkt Pfeile ab oder lässt sie sich verheddern, bevor sie den Rücken des Trägers mit voller Kraft treffen können. Aufgrund dessen sahen sich die Entwickler von Creative Assembly also gezwungen, den 'Ballon' in ihre nach Authentizität strebende Darstellung von Japan zu integrieren – auch gegen den erbitterten Widerstand der Spieler. Allein auf twcenter.net, einer der großen Diskussions- und Moddingplattformen 3 zu den Spielen der Total War-Serie, finden sich 3580 Erwähnungen des Wortes horo, meistens neben Fragen verwirrter Spieler wie „What is the point of those balloon things on the back of cavlary?" [sic] (dutzende von Threads) und Forderungen nach dem Entfernen der optisch und atmosphärisch [!] störenden Ballons. Dies ist natürlich höchst ironisch: Was von den Entwicklern als weiterer Schritt in Richtung Authentizität gesehen wurde, führt bei den oft durch Samuraifilme, japanische Anime und Shogun 1 an die Epoche herangeführten Spielern zu einer irritierenden Störung in ihrem Verständnis der Samurai und der Bürgerkriegsära der Sengoku Jidai. So boten schon nach kurzer Zeit mehrere von Spielern programmierte Mods ein "balloon fix" an, das das horo vom Rücken der Kavallarie entfernt und die 'Welt' von Shogun 2 wieder in Ordnung bringt.
„Bauern auf die Königin!“ - Lernen aus dem Wissensinventar
Mit diesen Anstrengungen zum Bau einer authentischen und atmosphärischen Welt geht gleichzeitig ein spürbarer Unwille von Seiten der Entwickler einher, den Spieler ohne eine aktive Auseinandersetzung mit dem gelieferten Wissenskatalog spielen zu lassen.
In vorherigen Total War-Spielen wurden Einheiten und Gebäuden noch in den wenigsten Fällen in der englischen Version mit ihren Namen in Originalsprachen (wo rekonstruierbar) bezeichnet. Abgesehen von prägnanten Einheiten, deren Namen zu einem gewissen Rahmen auch außerhalb der historischen Fachkreise bekannt wurden, wie beispielsweise deutsche Landsknechte und Mameluken (in Medieval 1 und 2), oder zur titelgebenden Seite zählen (wie die Comitatenses und Limitanei der spätrömischen Armee in Rome: Total War) blieben die Namen der Einheiten immer leicht verständliche Umschreibungen wie „Gallische Adlige Kavallarie“ oder „Syrische Stadtmiliz“. Sie ermöglichen eine leichte Kategorisierung der Einheiten in Wissenskategorien. Denn auch wenn ein Spieler nicht über die sozioökonomischen Details des osmanischen Rekrutierungssystemes informiert ist, kann er die Funktion – und damit die Schwächen und Stärken der syrischen Stadtmiliz aus bestehendem Wissen aus dem Bereich der Militärgeschichte oder Genrekonventionen („Stadtmilizen gibt es ja schon in Age of Empires 2, und da sind sie nicht so besonders gut“) ohne Probleme erraten. Auch wenn nicht jeder Spieler dieses Wissen mitbringt, kann man doch sagen, dass es die Bezeichnung der Einheiten auf jeden Fall nicht erschwert, sie effektiv zu nutzen.
Aber selbst die besonders bezeichneten Einheiten konnten durch den Spieler leicht in ihrer Funktion erkannt werden: Spätestens auf der Schlachtfeldkarte antworten die Einheiten - egal welcher Sprachzugehörigkeit - auf ein Anklicken auf Englisch (oder in der dt. Version natürlich Deutsch) mit ihrer Einheitenklassifikation („Speerträger hier“, „Booogenschützen!“).
Nanidesuka? Hermetik in der Sprache von Shogun 2
In Shogun 2 antworten die nur mit ihrem japanischen Namen genannten Einheiten in einem altertümlichen Japanisch. Wer das Tutorial übersprungen oder in der Flut neuer Namen einfach den Überblick verloren hat, kann sich auf dem Schlachtfeld nur mit der Darstellung der Einheiten und seinem Genrewissen behelfen.
Das Hoffen auf des Aufgehen des klassischen Stein-Schere-Papierprinzips von „Speere schlagen Pferde, Pferde schlagen Bogenschützen, Bogenschützen schlagen Speere, und alle schlagen Bauern“, wie es in den bisherigen Titeln der Serie gültig war, geht aber ebenfalls nicht wirklich auf: Es gibt keine schutzlose Bauerneinheit, die nur mit Mistgabeln und Stöcken bewaffnet auf ihr gewaltsames Ende wartet. Selbst die Grundeinheit (Yari Ashigaru, mit langen Speeren ausgerüstete Bürger/Bauernmilizen) kann durch ihre Speere einen frontalen Kavallarieangriff in einen tödlichen Fehler verwandeln. Samuraibogenschützen sind auch bei weitem nicht so schutzlos gegen Infanterieangriffe wie ihre westlichen Vettern, und die zu Anfangs genanten Sōhei, furchtlose Kriegermönche mit Naginata genannten Hellebarden und Kriegsschreien, bringen einen völlig neuen Baustein in das klassische Schema.
Die wirkliche Erklärung der besten Einsatzmöglichkeit der Kriegermönche, wie auch aller anderer exotisch klingender Einheiten, Gebäude und Forschungen bietet so wieder nur die Enzyklopädie. Nur sie lässt einen - neben einem Studium der Japanologie- im nötigen Maß die Dynamik des Bündnissystems, den Sinn von manchen Forschungszweigen („Jetzt habe ich Sumo-Ringen erforscht. Toll, und jetzt?“) und Einheiten erkennen: Nur wenn man weiß, dass Metsuke die Rolle von Polizisten / Geheimagenten und lokalen Magistraten übernehmen, kann man sie effektiv nutzen um die Bevölkerung zu kontrollieren und feindliche Agenten aufzuhalten; erst wenn man weiß, dass Sumoringen ein weiteres Machtwerkzeug im Kampf der unterschiedlichen Daimyo (mit eigenen gesponsorten Ringkämpfern) um Prestige am Hof war und die größten Ringkampftourniere in ihrer Atmosphäre ungefähr den olympischen Spielen im kalten Krieg entsprachen, kann man als Spieler erkennen, warum man als Kriegsfürst 8 Runden den richtigen Einsatz von dicken Männern erforschen muss.
Kurzgesagt: Die Sprache des Spieles ist sehr viel hermetischer (also abgeschlossener) als bei anderen Genregenossen. Die Bedeutung von Zeichen (hier im Sinne der Semiotik also Wörter, Bilder, Buttons,etc) wird oft nicht unmittelbar klar, vieles erscheint für den Uneingeweihten wie ein unverständlicher Code, den das Spiel nur in ganz wenigen Fällen (wie im Tutorial) explizit erklären will. (Germanisten erinnern sich hier an die hermetische Poesie von Celan oder Bachmann). Es gibt jedoch einen klar präsentierten Leseschlüssel: Die Enzyklopädie. Sie präsentiert in ihrem Katalog alles nötige Wissen zum erfolgreichen Erlernen der „Spielsprache“ von Shogun. Von Übersetzungen der Namen von Waffen- und Rüstungsteilen über geographische Daten, bis hin zur historischen Funktion von Einheiten.
Herausforderung - oder: „Warum hassen mich plötzlich alle?“
In einer gewissen Weise verlangt natürlich jedes neue Spiel vom Spieler, seine ihm eigene Mechanik und audiovisuelle Präsentation zu erlernen und immer weiter zu meistern, bis der Endboss idealerweise das Anwenden aller im Spielverlauf angehäufter Fähigkeiten (oder um in der Metapher der Erzähltheorie zu bleiben „Lesekompetenz“) erfordert. Diese immer weiter steigende Herausforderung (verbunden mit dem Phänomen des sog. Flow) ist nicht zuletzt einer der am stärksten motivierenden Aspekte des Spielens.
Dieselbe Lernerfahrung mit der Spielemechanik findet sich natürlich auch bei Shogun 2. Am besten wird es verkörpert durch das Event des Realm Divide. Dieses Ereignis wird durch die Größe des Spielerreiches ausgelöst, und bewirkt, dass alle übrig gebliebenen Fraktionen dem Spieler den Krieg erklären (oft auch Verbündete und Vasallen). Auch wenn man zu diesem Zeitpunkt über das größte Reich verfügen sollte, verlangen die plötzlich von allen Seiten anbrandenden Angriffe dem Spieler noch einmal alle taktischen und strategischen Fähigkeiten ab, bevor er schließlich als 征夷大将軍 (Seii Taishōgun in etwa „großer barbarenverteibender General“) den Rest Japans unterwirft.
Japanese Studies 101
Darüber hinaus existiert jedoch noch eine zweite Lernebene, die sonst nur sehr selten von „Mainstreamspielen“ aufgemacht wird. Die ständige Notwendigkeit, auf die detaillierte Enzyklopädie zurückzugreifen, ist eine bewusste Entscheidung der Entwickler. Hier wird viel stärker als bei den übrigen Titeln der Total War Reihe (und bei anderen Strategiespielen) das letztendliche Erlernen der auf allen Ebenen des Spieles angehäuften, eigentlich spielexternen Fakten über Religion, Kriegsführung, Politik und Gesellschaft einer realen Epoche zur Voraussetzung zum Erlernen der Spielmechanik und somit zum Gewinnen des Spieles. Um zu gewinnen, müssen wir Die Mechanik des Spieles verstehen. Um diese zu begreifen, müssen wir lernen, wie das mittelalterliche Japan funktionierte.
Kurzum: Das Gewinnen des Spieles (nach einer durchschnittlichen Kampagnenlänge von 10 Stunden, davon mindestens eine Stunde Enzyklopädielektüre beim ersten Versuch) dient gleichfalls wie ein Zertifikat, das ein Grundwissen über die Epoche des Sengoku Jidai beim Spieler bestätigt.
In dieser Hinsicht ist Shogun in seinem Lernauftrag sogar noch ambitionierter als die von mir schon einmal besprochenen Serious Games.
Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien
Spiele
Creative Assembly: Shogun 2. Total War (PC). Großbritannien: Sega 2011.